Die weiße Schlange

Die weiße Schlange ist ein Märchen (ATU 673). Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm an Stelle 17 (KHM 17).

Inhalt

Ein König, der für seine Weisheit bekannt ist und dem nichts entgeht, hat die geheimnisvolle Angewohnheit, nach jedem Mittagsmahl noch von einer unter einem Deckel verborgenen Speise zu essen. Den Deckel hebt er erst, wenn niemand zusieht. Ein neugieriger Diener schaut einmal nach und findet darunter eine zubereitete weiße Schlange. Als er davon isst, kann er die Sprache der Tiere verstehen. Als der König ihn beschuldigt, den Ring der Königin gestohlen zu haben, kann er seine Unschuld beweisen, indem er eine Ente schlachten lässt, die zuvor erzählt hatte, dass sie den Ring verschluckt hat. Der König bietet ihm als Entschuldigung einen besseren Posten an. Der Diener lässt sich stattdessen ein Pferd geben und reitet in die Welt hinaus. Unterwegs begegnet er drei Fischen, die er aus dem Schilf rettet, einem Ameisenkönig, dessen Ameisenvolk er schont, indem er einen Umweg reitet, um nicht die Ameisenstraße kreuzen zu müssen, und schließlich drei jungen, noch flugunfähigen hungrigen Raben, die von ihren Rabeneltern verstoßen wurden, und für die er sein Pferd schlachtet. Er kommt zu einem Schloss, dessen schöne Königstochter dem versprochen ist, der eine Aufgabe löst. Wenn es ihm aber misslingt, dann muss er sterben. Er meldet sich als Freier, und der König trägt ihm auf, einen Ring aus dem Meer zu holen. Die drei Fische kommen und bringen ihn für ihn an Land. Die Königstochter will aber keinen Diener heiraten und stellt ihm noch die Aufgabe, drei Säcke Hirse aus dem Gras zu sammeln. Nachdem die Ameisen auch diese Aufgabe für ihn gelöst haben, stellt sie ihm noch die Aufgabe, ihr einen Apfel vom Baum des Lebens zu bringen. Er wandert los, aber die drei Raben holen für ihn den Apfel. Als die Prinzessin davon isst, ändern sich ihre Gefühle und sie heiraten.

Herkunft, Ursprünge und Verbreitung

Grimms Anmerkung notiert Aus dem Hanauischen (von Familie von Haxthausen). Sie vergleichen bzgl. der hilfreichen Tiere KHM 62 Die Bienenkönigin (siehe auch KHM 33, 57, 60, 126, 169, 191) und bzgl. der Wirkung der weißen Schlange die Sage Seeburger See (Grimms Deutsche Sagen Nr. 131) sowie das Vogelherz in KHM 122 Der Krautesel. Sie nennen noch Soldat Lorenz aus Pröhles Kindermärchen Nr. 7; eine schottische Sage bei Grant Stewart; Das Zauberpferd bei Straparola 3,2. In einer Handschrift von Ludwig Aurbacher in Grimms Nachlass verwirkt ein Ehepaar sein Glück, indem sie neugierig unter des Königs verdeckte Schüssel schauen (später in Aurbachers Volksbüchlein, München 1827, I, Nr. 60, S. 101–104).[1]

Das dem Märchen zugrundeliegende Aarne-Thompson-Motiv ATU 673 ("Die weiße Schlange")[2] ist Teil einer Motivgruppe, in denen der Protagonist die Sprache der Tiere mit Hilfe einer Schlange erlernt -- in diesem Fall dadurch, dass er das Fleisch einer weißen Schlange isst.[3] Dieses Motiv ist in Europa gut belegt, häufig in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Schottland, Irland, Skandinavien, dem Baltikum sowie vereinzelt außerhalb von Europa.[4] Eine östliche Fassung ist beispielsweise für Kasachstan belegt, hier allerdings essen die Protagonisten wie in KHM 122 (Der Krautesel) das Herz eines Vogels, nicht einer Schlange.[5] In anderen östlichen Fassungen wird die Schlange nicht getötet, sondern gewährt dem Helden das Wissen um die Sprache der Tiere aus Dankbarkeit für ihre Errettung oder Verschonung (so z. B. aserbaidschanisch[6]). Dies entspricht auch der bereits antiken Melampussage (Apollodor, 1.9).[7] In der Erzählung von Bhima und Vasuki bietet das indische Mahabharata eine Fassung, die einen Kampf mit Schlangen und deren freiwillige Hilfe (nicht aufgrund von Dankbarkeit, sondern aufgrund von Verwandtschaft) nebeneinander präsentiert, die übernatürliche Gabe an den Helden ist dabei aber nicht Wissen, sondern Kraft.[8]

Eine frühe literarische Fassung aus Europa bietet die isländische Völsungensaga (spätes 13. Jh.), nach der Sigurd den Drachen (Wurm) Fafnir erschlägt, von seinem Herz kostet und so die Sprache der Vögel erlernt.[9] Ähnlich beschreibt Saxo Grammaticus (Gesta Danorum, V.2.6-V.2.8, 12. Jh.) wie Ericus "der Beredte" seine Weisheit dadurch erlangte, dass er den Brei aß, den seine Stiefmutter Kraka für seinen Halbbruder Rollerus bereitet und mit dem Speichel einer schwarzen Schlange angereichert hatte.[10][11] Verwandte Erzählungen finden sich auch in der Geburtslegende des walisischen Barden Taliesin (Hanes Taliesin, 16. Jh.), sowie in der irischen Macgnímartha Finn (12. Jh.), nach der der junge Fionn mac Cumhaill für seinen Lehrmeister Finegas den "Lachs des Wissens" (eó fis) zubereiten soll, von diesem aber kostet und so das geheime Wissen erwirbt, das Finegas für sich alleine erwerben wollte.[12] In diesen keltischen Fassungen ist die Schlange allerdings durch einen Lachs bzw. einen (Kräutersud aus einem) Kessel ersetzt, eventuell aufgrund des Fehlens von Schlangen in der Fauna Irlands.

Interpretation

Diese Geschichte enthält sehr viele Elemente, die auch in anderen Märchen vorkommen: Ein unschuldig Bezichtigter, der aber glücklich seine Unschuld beweisen kann (Die sechs Schwäne), Kenntnis der Sprache der Tiere (Die drei Sprachen) oder Tiere, die ihm aus Dankbarkeit zu Diensten stehen (Die zwei Brüder), und schließlich die Aufgaben, vor die er gestellt wird, um die schöne Königstochter zu bekommen (Die sechs Diener).

Interessant ist die Bedeutung, die der Schlange hier zukommt. Sie bewirkt Weisheit und die Fähigkeit, andere Wesen zu durchschauen (Ferenand getrü und Ferenand ungetrü). Vielleicht hat der König ja geahnt, dass der Diener etwas Verbotenes getan hat, vielleicht ist er aber auch besonders misstrauisch. In vielen anderen Märchen sind Schlangen oder Menschen, die mit ihnen verglichen werden, besonders hinterlistig (Der König vom goldenen Berg). Typisch ist zudem auch, dass der Mensch sich die erleuchtende Gabe verbotenerweise aneignet, wie die Frucht vom Baum der Erkenntnis (Genesis). Ein ähnliches Motiv wie im Märchen findet man im Übrigen aber auch in einer Flensburger Sage, wo das Fangen der blauen Schlangen sogar zur Unsterblichkeit oder zu Reichtum führt.

Der Anthroposoph Rudolf Meyer vergleicht die Schlange mit der autochthonen Rückenmuskulatur des Menschen und sieht eine Verbindung zu intuitiven, animalischen Fähigkeiten. Sie stehen nur wenigen zur Verfügung (Haube über dem Teller) und stellen besondere Anforderungen an das Mitgefühl mit leidenden Wesen, die der Diener in dem Märchen beweist (deshalb eine weiße Schlange).

Verfilmung

  • Die weiße Schlange, Deutschland/Österreich, Märchenfilm der ZDF-Reihe Märchenperlen. Die Erstausstrahlung erfolgte am 19. Dezember 2015 bei ZDFneo. Diese Fassung verwendet recht frei die Motive des Märchens.[13]

Literatur

  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. S. 129–133. Düsseldorf und Zürich, 19. Auflage 1999. (Artemis & Winkler Verlag; Patmos Verlag; ISBN 3-538-06943-3)
  • Grimm, Brüder. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. S. 39, 449. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1994. (Reclam-Verlag; ISBN 3-15-003193-1)

Weblinks

Wikisource: Die weiße Schlange – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Rölleke, Heinz (Hg.): Märchen aus dem Nachlass der Brüder Grimm. 5. verbesserte und ergänzte Auflage. Trier 2001. S. 54–55, 109–110. (WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier; ISBN 3-88476-471-3)
  2. Thompson, Stith. The Folktale. University of California Press. 1977. p. 181. ISBN 0-520-03537-2
  3. Frazer, James G. "The Language of Animals". In: Archaeological Review. Vol. I. No. 3. May, 1888. D. Nutt. 1888. pp. 166 and 175-177.
  4. Kurt Ranke: Enzyklopädie des Märchens: Suchen-Verführung. Walter de Gruyter, 2010, ISBN 978-3-11-023767-2, S. 647 (google.de).
  5. Kasachische Volksmärchen. Schönbrunn-Verlag, 1986, ISBN 978-3-85364-168-2, S. 170–172 (google.de [abgerufen am 6. Juli 2020]).
  6. H. Achmed Schmiede (Übersetzer): Die versteinerte Stadt. Aserbaidshanische Märchen. Volk und Welt, S. 53-66, abgerufen am 6. Juli 2020.
  7. Apollodorus, Library, book 1, chapter 9. Abgerufen am 6. Juli 2020.
  8. Mahabharata - Buch 1 - Kapitel 128 - Die Kindheit der Prinzen. Abgerufen am 6. Juli 2020.
  9. August Raszmann: Bd. Die Sage von den Wölsungen und Niflungen in der Edda und Wölsungasaga. C. Rümpler, 1863 (google.de).
  10. Saxo (Grammaticus): Gesta Danorum. Clarendon Press, 2015, ISBN 978-0-19-820523-4 (englisch, google.de).
  11. Erläuterungen zu den ersten neun Büchern der Dänischen Geschichte des Saxo Grammaticus Teil I Bücher I-V – Wikisource. In: de.m.wikisource.org. Abgerufen am 6. Juli 2020.
  12. Joseph Falaky Nagy: Conversing with Angels and Ancients. Cornell University Press, 1997, ISBN 978-1-5017-2905-8, doi:10.7591/9781501729058.
  13. ZDF Presseportal: "Die weiße Schlange" mit Tim Oliver Schultz / ZDFneo und ZDF zeigen Erstverfilmung des Grimm'schen Märchens , abgerufen am 20. Dezember 2015