Die Vereindeutigung der Welt

Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt ist ein kulturkritischer Essay des deutschen Arabisten und Islamwissenschaftlers Thomas Bauer. Er erschien 2018 in der Reihe Was bedeutet das alles? der Reclam Universal-Bibliothek.[1] Thema des Buches ist der Rückgang von Mehrdeutigkeit und Ambiguitätstoleranz.

Inhalt

Im Gegensatz zur verbreiteten Annahme von einer Pluralisierung der Lebewesen, Möglichkeiten und Möglichkeitsräume postuliert Bauer die Verringerungen von Vielfalt und Möglichkeiten.[2] Die Zahl der Tier- und Pflanzenarten habe sich in den letzten Jahrzehnten deutlich reduziert, ähnliches sei bei den Sprachen zu beobachten: ein Drittel der Sprachen sei inzwischen vom Verschwinden bedroht. Historisch seien Widersprüchlichkeit, Widerspenstigkeit, Uneindeutigkeit in unterschiedlicher Intensität toleriert worden, dagegen habe sich gegenwärtig in der modernen Wissenschaft und auch in den Religionen der Wahrheitsanspruch durchgesetzt.

Beispielhaft stellt Bauer solche Veränderungen am Katholizismus dar. Erst durch das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870 sei Eindeutigkeit und Rigorosität durchgesetzt worden. Auch im Islam habe es bis in das 20. Jahrhundert hinein viel Ambiguität und Ambiguitätstoleranz gegeben. Inzwischen werde dagegen selbst einer Grundüberzeugung des Islam, dass Menschen „Gottes Wort“ unterschiedlich interpretieren könnten, von einigen Religionsführern rigoros widersprochen. In den christlichen Religionen wie auch im Islam wachse ein Fundamentalismus, der vorgebe, über die Wahrheit zu verfügen.

Auch in Musik und Kunst zeige sich die Suche nach Eindeutigkeit, obwohl dies traditionell die Bereiche seien, um ambigue Räume zu öffnen. Den entsprechenden Kapitalabschnitt überschreibt Bauer mit „Kunst und Musik auf der Suche nach Bedeutungslosigkeit“.[3] Schließlich beschäftigt sich Bauer mit „Vereinheitlichung durch Kästchenbildung“.[4] So ergebe sich im Sexuellen durch die klare Benennung „sexueller Orientierungen“ eine Begrenzung der Möglichkeiten der konkreten Menschen. Dadurch würden sich in Gesellschaften, in denen es zwar gleichgeschlechtlichen Sex und homoerotische Umgangsweisen gebe, aber keine fest gefasste Homosexualität, gesellschaftliche Entwicklungen ausgelöst, die neben Homosexualität auch Homophobie erzeugten. Bauer urteilt: „Der Versuch, Eindeutigkeit in einer uneindeutigen Welt wenigstens dadurch herzustellen, dass man die Vielfalt in der Welt möglichst präzise in Kästchen einsortiert, innerhalb derer größtmögliche Eindeutigkeit herrscht, ist eher dazu geeignet, Vielfalt zu verdrängen als sie zu fördern.“[5]

Schließlich kritisiert Bauer das Verlangen nach möglichst starker Authentizität von Politikern. Die müsse notwendigerweise vor der Aushandlung von Kompromissen zurückstehen. Jede Demokratie sei auf ein relativ hohes Maß von Ambiguitätstoleranz angewiesen. Politische Entscheidungen seien nicht „alternativlos“.[6]

Rezeption

2018 wurde Bauer für das Buch mit dem Tractatus-Preis für philosophische Essayistik des Philosophicum Lech ausgezeichnet.[7] 2019 erschien eine Übersetzung ins Schwedische[8], 2020 eine ins Neugriechische[9]. 2018 stand das Buch auf der Sachbuch-Bestenliste.

Ausgaben

  • Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, Dietzingen 2018, ISBN 978-3-15-011200-7.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, Dietzingen 2018, ISBN 978-3-15-011200-7.
  2. Die inhaltliche Darstellung folgt, wenn nicht anders belegt: Heinz-Jürgen Voß, Rezension zu: Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Philipp Reclam jun. Verlag GmbH (Stuttgart) 2018. ISBN 978-3-15-019492-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, 12. Juni 2018, abgerufen am 21. Mai 2021.
  3. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, Dietzingen 2018, ISBN 978-3-15-011200-7, S. 50.
  4. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, Dietzingen 2018, ISBN 978-3-15-011200-7, S. 71.
  5. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, Dietzingen 2018, ISBN 978-3-15-011200-7, S. 81.
  6. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, Dietzingen 2018, ISBN 978-3-15-011200-7, S. 84.
  7. Philosophicum Lech: Essaypreis tractatus, Preisträger 2018, Thomas Bauer
  8. Thomas Bauer: Förlusten av mångfald - när världen görs enfaldig. Übersetzt von Ylva Herholz, Dualis, Ludvika 2019, ISBN 978-91-87852-63-3.
  9. Thomas Bauer: O monosēmantos kosmos. Gia tēn apōleia tēs polysēmias kai tēs poikilias. Übersetzt von Katerina Tzinaba, Antipodes, Athen 2020, ISBN 978-618-5267-38-4.