Die Schlafende

Illustration durch Hugh Noel. Herausgegeben 1900.[1]
Gesprochene Version

Die Schlafende (Originaltitel: The Sleeper) ist eine Ballade von Edgar Allan Poe. Eine frühe Fassung wurde 1831 unter dem Titel Irene veröffentlicht. Eine Überarbeitung erschien am 3. Mai 1845 im Broadway Journal,[2] auf die sich auch der Artikel bezieht. Es ist ein Liebesgedicht an eine verstorbene Frau und wurde wahrscheinlich durch das Gedicht Cristabel (1797–1800) von Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) inspiriert.[3] Poe selbst betrachtete es bis zu seinem Tod als eines seiner besten Werke.

Form und Inhalt

Das Gedicht besteht aus 4 Strophen à 17, 19, 8 und 16 (in Summa 60) Zeilen. Seine Form ist einerseits sehr klar und konsistent in Sachen Reim und Metrik, andererseits vage, bewegt und schwer fassbar in Sachen Atmosphäre und Perspektive.

In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich eine Szenerie auf einem einsamen Berg um die Mitternachtsstunde. Der Dunst, eine Lilie, ein See und eine Ruine werden personifiziert als schlafend oder sich sehr bedacht bewegend beschrieben. Zwischen aller schlafender Schönheit ruht Irene.

In der zweiten Strophe wird die Dame vom lyrischen Ich zweimal gefragt, ob sie die Umgebung nicht auch befremdlich fände. Nach der ersten Befragung werden personifizierte, vor einem Fluch fliehende Lüfte und sich bewegende Schatten beschrieben. Nach der zweiten Befragung führt das lyrische Ich einen Monolog, in dem es sein Befremden über die Erscheinung der Dame in dieser Umgebung ausdrückt. Am Ende befremdet ihn am meisten die Stille und das Ausbleiben einer Antwort auf seine Fragen. Diesen Monolog kann man als Wendepunkt der Ballade betrachten.

In der dritten Strophe zieht sich das lyrische Ich wieder in die Ich-Perspektive zurück. Es stellt fest, dass die Dame schläft und hofft, ihr Schlaf möge möglichst fest und behütet sein. Im Gegensatz zu den anderen Strophen hat sie als Einzige eine symmetrische Anlage, denselben aber ebenso diametral gegenüber steht die einzige metrische Alteration in der ganzen Ballade (3:39). Zum Einen ist sich das lyrische Ich im Klaren über den Tod der Geliebten, zum Anderen völlig ungewiss über die Angemessenheit seiner Hoffnungen bezüglich ihres Befindens.

Die vierte Strophe bricht mit der Atmosphäre. Das lyrische Ich erkennt erneut den Tod der Geliebten an, wünscht aber nun, die Würmer mögen über sie kriechen. Anstelle des Himmels sicheren Schloss (3:39) soll ihr nun eine möglichst tiefe Gruft zum Grabmal gereichen, gegen deren Pforte sie in ihrer Kindheit einen nutzlosen Stein geworfen haben möge. Sie möge nie mehr ein Echo von sich geben. Es sei ganz schauerlich, sich vorzustellen, dass es die Toten waren, die in der Gruft anstelle des Steines raunten.

Analytische Anmerkungen

Perspektive und Haltung

Die Ballade erzählt das Geschehen und die Eindrücke durchgehend aus der Ich-Perspektive. Die Erzählhaltung ist dagegen äußerst schwer greifbar und unterliegt ständigem Wandel durch die gesamte Ballade. Während das lyrische Ich anfangs die Atmosphäre und den Tod seiner Geliebten romantisiert, und Vergleiche mit einem Zustand der Ruhe und des Schlafes anstellt, stellt sich doch schon bald eine ablehnende Haltung des Befremdens, der Stille und der Angst gegenüber der Situation ein: Was als ein Mitternachtsspaziergang begann, zeigt nun eine tiefe, verdrängte psychische Krise des lyrischen Ichs auf. Durch direkte Rede an sich selbst versucht es, diese und seinen Verstand zu kontrollieren. Am Ende steht das verzweifelte Flehen an entsprechende Instanzen und die überwältigende Furcht davor, dass die Liebste keine Ruhe gefunden haben könnte, und vor den Implikationen für das eigene Nachleben, die er direkt an den Leser richtet.

Reim und Metrik

Reim und Metrik der Ballade sind sehr schlicht und klar gehalten. Das Schema ist mit dem ersten Reimpaar quasi für das ganze Werk vorgegeben. Es wird nur an einzelnen Stellen gebrochen und im Anschluss immer wieder aufgenommen. Die starre Ausgestaltung der beiden Parameter steht ganz im Gegensatz zu den emotionalen und atmosphärischen Bewegungen innerhalb des Stücks, was einen Effekt der Verfremdung konstituiert.

Reim

Die gesamte Ballade besteht aus überwiegend männlichen reinen Paarreimen, vereinzelt finden sich scheinbar zufällig Haufenreime aus 3 Versen. Die erste Strophe birgt einen Augenreim (1:17). Die dritte Strophe hat im Gegensatz zu den Anderen als Einzige eine Symmetrische Reimstruktur. (aaa bb ccc) Neben vokalen Reimen arbeitet das Gedicht auch sehr verstärkt mit Alliterationen.

Metrik

Die gesamte Ballade besteht aus jambischen Tetrametern mit nur einem Bruch bei 3:39 (katalektisch-pentametrischer Trochäus).

Text

Edgar Allan Poe-Poem-The Sleeper-Noel ArM.jpg

ZeileTextFüßeVersmaßReimFigurÜbersetzung
1:1At midnight, in the month of June,4JAStabreim (S)Um die Mitternachtsstunde einer Juninacht
1:2I stand beneath the mystic moon.4JASStehe ich unter dem mystischen Mond.
1:3An opiate vapor, dewy, dim,4JBSEin betörender Rauch, taufeucht und vage,
1:4Exhales from out her golden rim,4JBentsteigt ihrem goldenen Kranz.
1:5And, softly dripping, drop by drop,4JCSTröpfelt sachte Tropfen für Tropfen,
1:6Upon the quiet mountain top,4JCAuf den stillen Berggipfel
1:7Steals drowsily and musically4JDUnd stiehlt sich schläfrig und mit Musik
1:8Into the universal valley.4JDHinein in das ewige Tal.
1:9The rosemary nods upon the grave;4JEDie Rosmarinknospen auf dem Grab,
1:10The lily lolls upon the wave;4JESDie Lilie lümmelt sich auf der Welle;
1:11Wrapping the fog about its breast,4JFBettet sich mit Nebel um ihre Brust,
1:12The ruin molders into rest;4JFDie Ruine vergeht in die Ruhe;
1:13Looking like Lethe, see! the lake4JGSSchaut aus, wie Lethe und Sieh! Der See,
1:14A conscious slumber seems to take,4JGSScheint ein bewusstes Nickerchen zu halten.
1:15And would not, for the world, awake.4JGSWürde um der Welten Preis nicht erwachen.
1:16All Beauty sleeps! – and lo! where lies4JHSAlle Schönheit ruht und Sieh! Wo liegt
(Her Casement opened to the skies –)[4]4JHIhre Höhle zum Himmel hin offen –
1:17Irene, with her Destinies!4J(H)auch Irene mit ihrem Schicksal
.
2:18O, lady bright! can it be right –4JABinnenreim, ApostropheOh, Lady strahlende, kann es wahr sein –
2:19This window open to the night?4JADass dies Fenster zur Nacht hin offen steht?
2:20The wanton airs, from the tree-top,4JBSDie kühnen Lüfte dringen von den Baumkronen
2:21Laughingly through the lattice drop –4JBKichernd durch die Gitter.
2:22The bodiless airs, a wizard rout,4JCAnapherDie körperlosen Lüfte, die vor einem Zauberer fliehen,
2:23Flit through thy chamber in and out,4JCHuschen durch deine Kammer herein und raus.
2:24And wave the curtain canopy4JDSUnd wehen durch den Vorhang; das Himmelszelt
2:25So fitfully – so fearfully –4JDSSo unbeständig – so voll Angst –
2:26Above the closed and fringed lid4JEÜber den geschlossenen und eingesäumten Deckel,
2:27'Neath which thy slumb'ring soul lies hid,4JESWo deine Seele schlummernd drunter versteckt liegt
2:28That, o'er the floor and down the wall,4JFWo über den Boden und die Wand herab
2:29Like ghosts the shadows rise and fall!4JFDie Geister wie Schatten sich erheben und fallen.
2:30Oh, lady dear, hast thou no fear?4JGApostropheOh, Lady holde, fürchtest du dich nicht?
2:31Why and what art thou dreaming here?4JGWas und weshalb träumst du hier?
2:32Sure thou art come O'er far-off seas,4JHSicher, du bist gekommen über weit entfernte Meere,
2:33A wonder to these garden trees!4JHAls Wunder dieser Gartenbäume.
2:34Strange is thy pallor! strange thy dress,4JIAnapherBefremdend ist deine Blässe, befremdend dein Kleid,
2:35Strange, above all, thy length of tress,4JIBefremdend über alles hinaus die Länge deiner Locken,
2:36And this all solemn silentness!4JISUnd all diese einsame Stille.
.
3:37The lady sleeps! Oh, may her sleep,4JAEpipherDie Lady schläft! Ach, sei ihr Schlaf,
3:38Which is enduring, so be deep!4JADer andauert, darum auch tief!
3:39Heaven have her in its sacred keep!5TASDer Himmel halte sie in seinem sicheren Schloss!
3:40This chamber changed for one more holy,4JBSDiese Kammer getauscht für eine heiligere,
3:41This bed for one more melancholy,4JBSDieses Bett für ein melancholischeres,
3:42I pray to God that she may lie4JCSo bete ich zu Gott, dass sie hier liege
3:43For ever with unopened eye,4JCAuf ewig mit ungeöffnetem Auge,
3:44While the pale sheeted ghosts go by!4JCUnd die bleich eingehüllten Geister mögen vorbeiziehen!
.
4:45My love, she sleeps! Oh, may her sleep4JAEpipherMeine Liebste schläft! Ach, sei ihr Schlaf,
4:46As it is lasting, so be deep!4JAWeil er andauert, darum auch tief!
4:47Soft may the worms about her creep!4JASacht mögen die Würmer über sie kriechen!
4:48Far in the forest, dim and old,4JBSTief in den Wäldern trübe und alt,
4:49For her may some tall vault unfold –4JBBinnenreimMöge sich ihr eine tiefe Gruft entfalten –
4:50Some vault that oft has flung its black4JCAnadiploseEine Gruft, die oft geechot ihre schwarze,
4:51And winged panels fluttering back,4JCBeflügelte Tafeln, zurückflatternd,
4:52Triumphant, o'er the crested palls,4JDTriumphierend über die schmückenden Leichentücher,
4:53Of her grand family funerals –4JDIhrer ehrenwerten Familie Begräbnisse –
4:54Some sepulchre, remote, alone,4JEEine düstere, abgelegene und verlassene,
4:55Against whose portal she hath thrown,4JEGegen deren Pforte sie geworfen
4:56In childhood, many an idle stone –4JEIn der Kindheit manch nutzlosen Stein.
4:57Some tomb from out whose sounding door4JFEin Grab aus deren widerhallender Pforte,
4:58She ne'er shall force an echo more,4JFNie ein Echo von ihr hallen möge.
4:59Thrilling to think, poor child of sin!4JGS, ApostropheGruselnd, zu denken, armes, einsames Kind der Sünde!
4:60It was the dead who groaned within.4JGDass es die Toten waren, die darin raunten!

Trivia

“In the higher qualities of poetry, it is better than The Raven – but there is not one man in a million who could be brought to agree with me in this opinion.”

„Die höheren Qualitäten der Poesie erfüllt dieses Gedicht noch mehr als Der Rabe – Doch unter einer Million Menschen würde ich niemanden finden, der mir in diesem Punkt beipflichten würde.“

Poe: an einen Leser 1849[5]

In der Dead Lovers' Sarabande des Frankfurter Musikprojekts Sopor Aeternus nimmt das Lied, das sich Poes Text bedient, eine zentrale Stellung ein.

Bibliografie

  • Charles F. Heartman, James R. Canny: A Bibliography of First Printings of the Writings of Edgar Allan Poe. The Book Farm, Hattiesburg MS 1943.
  • W. B. Hunter: Poe’s ‘The Sleeper’ and Macbeth. In: American Literature, May 1949, 20, S. 55-57
  • Kiehl, James: Valley of Unrest: A Major Metaphor in the Poetry of Edgar Allan Poe. Thoth, Winter 1964, 5, S. 42-52
  • Thomas Ollive Mabbott: Poe’s 'The Sleeper' Again. In: American Literature, November 1949, 21, S. 339-340
  • Thomas Ollive Mabbott (Hrsg.): Collected Works of Edgar Allan Poe. (Vol 1 Poems). The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge MA 1969.[2]

Weblinks

Wikisource: The Sleeper (Originaltext) – Quellen und Volltexte (englisch)

Einzelnachweise

  1. Eintrag in American Libraries; archive.org.
  2. a b Dokumentation bei der E. A. Poe Society
  3. Campbell, Killis: “The Origins of Poe”, The Mind of Poe and Other Studies. Russell & Russell, New York 1962, S. 154.
  4. In den späteren Manuskripten von Poe 1849 wieder entfernt.
  5. Sinngemäße Aussage auch im Briefwechsel mit James Russell Lowell, 1844.

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