Dialektkontinuum
Unter einem Dialektkontinuum wird in der Dialektologie eine Kette von Dialekten verstanden, innerhalb derer sich nach innersprachlichen strukturellen Kriterien keine eindeutigen Grenzen ziehen lassen, da zumindest zwei geographisch oder sozial benachbarte Dialekte jeweils gegenseitig verständlich sind.
Geographische Dialektkontinua
Meist wird der Begriff Dialektkontinuum im Sinne eines geographischen Dialektkontinuums verwendet, eines zusammenhängenden geographischen Raums, in dem miteinander verwandte Dialekte gesprochen werden, zwischen denen sich nach innersprachlichen strukturellen Kriterien keine eindeutigen Grenzen ziehen lassen, da sie zwar durch zahlreiche Isoglossen voneinander getrennt werden, die Isoglossen für unterschiedliche sprachliche Erscheinungen jedoch im Allgemeinen nicht an derselben Stelle verlaufen.[4]
Die Dialekte verändern sich von einem Ort zum Nachbarort meist nur leicht, so dass immer eine Kommunikation mit den Sprechern in der unmittelbaren Umgebung problemlos möglich ist. Je größer die Distanz zwischen den Orten wird, umso größer werden die Unterschiede und entsprechend wird die Kommunikation schwieriger, bis ab einer gewissen örtlichen Distanz gar keine Kommunikation auf basilektaler Basis mehr möglich ist.[4]
Dialektgebiete sind Teil eines Dialektkontinuums und haben sich durch geographische Isolation und damit durch Ausprägung der örtlichen Kommunikation entwickelt. (Man vergleiche auch den verwandten, aber nicht identischen Begriff Dialektcluster.)
Geographische Dialektkontinua und Dachsprachen
Da eine eindeutige Gliederung in mehrere Einzelsprachen auch bei größeren geographischen Dialektkontinua nach rein innersprachlichen strukturellen Kriterien nicht möglich ist, orientieren sich die konstruierten Einteilungen gewöhnlich auch an politischen oder kulturellen Grenzen, die zur Verwendung unterschiedlicher Dachsprachen in unterschiedlichen Gebieten geführt haben. Haben sich die Verbreitungsgebiete der Dachsprachen im Laufe der Zeit geändert oder ist deren Status selbst umstritten, so können sich damit unterschiedliche Konstrukte von Einordnungen derselben Dialekte ergeben.[5]
Verfügen weit voneinander entfernt liegende Dialekte eines Dialektkontinuums über eine gemeinsame Dachsprache, spricht man auch bei nicht gegenseitig verständlichen Varietäten meist von Dialekten derselben Sprache. Dialektsprecher, die der Dachsprache mächtig sind, leben in einer sprachlichen Situation, die man als Diglossie bezeichnet.
Soziale Dialektkontinua
Neben geographischen Dialektkontinua gibt es auch soziale Dialektkontinua zwischen basilektalen und akrolektalen Sprachvarietäten, die in demselben geographischen Raum gesprochen werden. Hier können sich Basilekt und Akrolekt bis zur gegenseitigen Unverständlichkeit voneinander unterscheiden, jedoch existiert dazwischen eine Kette von Varietäten, die Merkmale des Basilekts und des Akrolekts in unterschiedlichem Ausmaß miteinander mischen, so dass eine eindeutige Trennung der Varietäten nicht möglich ist.[6]
Beispiele für großräumige geographische Dialektkontinua
- Das kontinentalwestgermanische Dialektkontinuum,[7] von einigen Sprachwissenschaftlern nach den überdachenden Literatursprachen auch als deutsch-niederländisches Dialektkontinuum bezeichnet, umfasst die hochdeutschen (oberdeutschen, mitteldeutschen,) niederdeutschen, niederfränkischen und westfriesischen Dialekte in einem zusammenhängenden Gebiet Mittel- und Westeuropas. Eine niederländische Studie kam allerdings zu dem Schluss, dass die deutsch-niederländische Staatsgrenze im Fall der kleverländischen Dialekte inzwischen zu einer scharfen Sprachgrenze geworden sei.[8]
- Zur Zeit des Altenglischen bildete auch das Englische ein Dialektkontinuum mit den westgermanischen Sprachen auf dem Festland, die Dialektsprecher auf dem Festland und der Insel konnten sich mündlich wie schriftlich miteinander verständigen. Aber nach der normannischen Eroberung der britischen Inseln (1066) haben sich die altenglischen und kontinentalen Dialekte, auch durch die geografische Trennung stark gefördert, so weit auseinanderentwickelt, dass dieses einstige Dialektkontinuum nicht mehr existiert. Allerdings erinnern noch heute viele Ortsnamen in England an die Besiedlung durch Sachsen und Angeln.
- Das festlandskandinavische Dialektkontinuum[9] umfasst heute Dänisch, Schwedisch und die zahlreichen Dialekte des Norwegischen. Die inselnordischen Sprachen Färöisch und Isländisch bildeten noch im Mittelalter ein Dialektkontinuum mit den skandinavischen Sprachen des Festlandes, das heute jedoch infolge der langen Trennung nicht mehr vorhanden ist.
- Die (westlichen) romanischen Sprachen[10] zwischen Atlantik, Adria und Ärmelkanal (Portugiesisch, Galicisch, Asturisch, Spanisch, Katalanisch, Okzitanisch, Französisch, Rätoromanisch, Italienisch, Sardisch) bilden ein Dialektkontinuum. Am Übergang zwischen den übrigen Sprachen und dem Französischen zerbricht dieses aber gegenwärtig, da die vom Standardfranzösischen verschiedenen autochthonen galloromanischen Sprachen in Frankreich und der Romandie (Okzitanisch, Frankoprovenzalisch und periphere Oïl-Sprachen) zum großen Teil vom Standardfranzösischen verdrängt wurden und deshalb vom Aussterben bedroht sind.
- Das nordslawische Dialektkontinuum,[11] das die westslawischen Sprachen Tschechisch, Slowakisch und Polnisch und die ostslawischen Sprachen Ukrainisch, Russisch und Belarussisch umfasst.
- Die südslawische Sprache[12] Slowenisch bildet ein gemeinsames Sprachgebiet mit dem Kroatischen, Bosnischen und Serbischen (Dialektkontinuum Serbokroatisch mit den Dialektgruppen Kajkavisch, Štokavisch, Čakavisch und Torlakisch – die ersten drei benannt nach dem Wort für „was“ – sowie [als Untergruppen von Štokavisch] Ekavisch, Ijekavisch und Ikavisch – benannt nach der Aussprache des altslawischen Lautes jat [*ě]), dem Mazedonischen, Ägäis-Mazedonischen und Bulgarischen.
- Ein weiteres klassisches Dialektkontinuum stellen die neuindoarischen Sprachen abgesehen vom Singhalesischen dar, das neben der gleichen Ausgangssprache auch durch diverse Wanderungsbewegungen und damit verbundenen Durchmischungsprozessen im kaum durch natürliche Barrieren zerteilten indischen Kernland zustande gekommen ist.
- Das arabische Sprachgebiet umfasst die Staaten von Marokko bis zum Irak, begrenzt von der Sahara im Süden, dem Atlantik im Westen, dem Mittelmeer im Norden sowie dem Türkischen, Kurdischen, Lurischen und Persischen im Osten.
- Das Quechua-Sprachgebiet umfasst die Sprachen Quechua I, II a, II b und II c mit zahlreichen Untervarianten im westlichen Südamerika.
- Die Sprachen der Eskimos bilden ein Dialektkontinuum vom östlichsten Sibirien bis nach Grönland. Sie werden oft zusammenfassend als Inuktitut bezeichnet.
Siehe auch
Literatur
- J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Auflage, Cambridge University Press, Cambridge 1998, ISBN 0-521-59646-7 (Cambridge textbooks in linguistics).
- Alfred Lameli: Strukturen im Sprachraum. Analysen zur arealtypologischen Komplexität der Dialekte in Deutschland. Berlin/Boston 2013, ISBN 3-11-033123-3.
Einzelnachweise
- ↑ W. Heeringa: Measuring Dialect Pronunciation Differences using Levenshtein Distance, Dissertation, University of Groningen, 2004, S. 232–234.
- ↑ P. Wiesinger: Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, Berlin, New York, S. 807–900
- ↑ Werner König: dtv-Atlas Deutsche Sprache. München 2019, S. 230.
- ↑ a b J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 5–7 (Geographical dialect continua).
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 5–7, 9–12.
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 7–9 (Social dialect continua).
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 6 (West Germanic dialect continuum).
- ↑ Charlotte Giesbers:Dialecten op de grens van twee talen — een dialectologisch en sociolinguïstisch onderzoek in het Kleverlands dialectgebied. ( des vom 28. Oktober 2020 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Proefschrift, Radboud Universiteit, Nijmegen 2008, S. 187. (Teil dieser Doktorarbeit ist einedeutschsprachige Zusammenfassung ( des vom 28. Oktober 2020 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ab Seite 233.)
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 6 (Scandinavian dialect continuum).
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 6 (West Romance dialect continuum).
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 6 (North Slavic dialect continuum).
- ↑ J. K. Chambers, Peter Trudgill: Dialectology. 2. Aufl., Cambridge Univ. Press, Cambridge 1998, S. 6 (South Slavic dialect continuum).
Auf dieser Seite verwendete Medien
Autor/Urheber: Vlaemink, Lizenz: CC BY-SA 4.0
A map describing the principal dialect groupings of the closed West Germanic dialect continuum between High German, Low German (in a stricter sense) or Low Saxon, Low Franconian and Frisian around the year 1900. Based on:
- Peter Wiesinger: Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, 2. Halbband, series: HSK 1.2, Berlin & New York, pp. 807–900
- W. König: dtv-Altas Deutsche Sprache, 2019, Munich, pp. 230.
- Jan Goossens: Deutsche Dialektologie, Walter de Gruyter, 1977, pp. 48.
- Wilbert (Jan) Heeringa: Measuring Dialect Pronunciation Differences using Levenshtein Distance, University of Groningen, Groningen, 2004, pp. 232–234 in chapter 9 ([1]). But e.g. omitting Zeelandic and East Flemish from this source.
- Note: The majority of the map is based on that of Wiesinger, the former eastern areas of the German language are principally based on König. When in conflict in one another, priority was given to Wiesinger.
Legend: Lines
- The thin white/black dashed line represents the area in which two Dachsprachen are present: Standard Dutch (alongside Standard West Frisian) in the Netherlands, and Luxemburgish (alongside Standard German) in Luxemburg.
- The thick white line represents Standard Language isogloss (Goossens) between the dialects for which Dutch is the standard language (to the left of the line) and those for whom German is the standard language (right of the line).
- Striped lines indicate transitional dialects.
Low Franconian varieties: (purple)
1. Central Dutch
2. West Flemish
3. Brabantic
4. Limburgian
5. Kleverlandish or Low Rhenish (in a stricter sense)
Missing:
- Zeelandic between 1 and 2
- East Flemish between 2 and 3
- Southwest Limburgian between 3 and 4
- Frisian mixed varieties like town Frisian (Stad(s)fries), Bildts near 6
Frisian varieties: (orange)
6. West Frisian
7. Saterlandic (last remnant of East Frisian)
8. North Frisian
Low German or Low Saxon varieties: (blue)
9. Overijssels
10. Gronings
11. Westphalian
12. Northern Low German
13. Eastphalian (one yellow part inside is Erzgebirgisch in part of the Harz)
14. Mecklenburg-Pomeranian
15. Brandenburgish (the yellow part inside is Berlinian in Berlin)
16. Middle Pomeranian
17. Eastern Pomeranian
18. Low Prussian
Missing:
- Stellingwerfs in the middle of 6, 9 and 10
Middle/Central German varieties: (yellow)
19. Ripuarian
20. Luxemburgish (closely related to Moselle Franconian, but different written standard)
21. Moselle Franconian
22. Rhine Franconian
23. Central Hessian
24. Northern Hessian
25. Eastern Hessian
26. Thuringian
27. North Upper Saxon [part of North Upper Saxon–South Markish]
28. South Markisch [part of North Upper Saxon–South Markish]
29. Upper Saxon
30. Silesian
31. High Prussian
Note 1: The empty part near 25, 26, 27 isn't a lake but Sorbian, a Slavic variety.
Note 2: Transylvanian Saxon spoken in Transylvania (Romania) is missing on this map.
Upper German varieties: (ochre)
32. East Franconian
33. North Bavarian
34. Central Bavarian
35. South Bavarian
36. Swabian
37. Low Alemannic
38. Middle Alemannic
39. High Alemannic
40. Highest Alemannic
German language pockets in Eastern and Southern Europe: (lila)
Cp.:
Autor/Urheber: BishkekRocks, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Verbreitungsgebiet der indo-arischen Sprachen