Deutsch-Israelische Studiengruppen
Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen (DIS) waren parteiunabhängige Hochschulvereinigungen in Westdeutschland und West-Berlin, die sich ab 1957 gründeten. Mitte der 1960er Jahre bestanden zeitgleich bis zu 19 Deutsch-Israelische Studiengruppen mit insgesamt etwa 600–800 Mitgliedern.[1] Die Studiengruppen setzten sich für die NS-Aufarbeitung, gegen den Antisemitismus und für engere Kontakte mit Israel ein.
Geschichte
Gründung (1957–1959)
Die erste Deutsch-Israelische Studiengruppe (DIS) gründete sich am 28. Juni 1957 an der Freien Universität Berlin auf Betreiben des israelischen Studenten Jochanan Bloch.[2] Nach dem Vorbild der Berliner Studiengruppe formierten sich ab 1959 auch an anderen westdeutschen Universitäten parallele Gruppen. Am 25. Mai 1961 schlossen sich die verschiedenen Studiengruppen zum Bundesverband Deutsch-Israelischer Studiengruppen zusammen (BDIS). Dem Kuratorium des BDIS gehörten unter anderem Franz Böhm, Helmut Gollwitzer, Romano Guardini, Theodor Heuss, Gertrud Luckner, Carlo Schmid und Karl Ullstein an.[3] Die Deutsch-Israelische Studiengruppe an der Freien Universität Berlin gab zunächst allein, ab dem 3. Jahrgang Heft 3 / Juli 1961, im Auftrag des Bundesverbandes Deutsch-Israelischer Studiengruppen (BDIS), die Zeitschrift diskussion heraus, in der aktuelle Probleme der deutsch-israelischen Beziehungen und der bundesdeutschen Gesellschaft debattiert wurden.
Forderung nach NS-Aufarbeitung und Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel (1960–1965)
Anfang der 1960er Jahre engagierten sich die Studiengruppen für die NS-Aufarbeitung und unterstützten an verschiedenen Hochschulstandorten die Wanderausstellung Ungesühnte Nazijustiz.[4] Ein weiteres wichtiges Thema war die Forderung nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel, der man mittels Veranstaltungen, Petitionen und Protestkundgebungen Nachdruck verlieh.
Krise nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen (1965–1967)
Nachdem 1965 mit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel die zentrale Forderung der DIS erfüllt wurde, verfielen die Studiengruppen in eine existenzielle Krise.
Aus den Deutsch-Israelischen Studiengruppen entwickelte sich die 1966 gegründete Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG), die im Gegensatz zu den DIS bis heute besteht. Als Verbindungsperson zwischen beiden Gruppen fungierte der evangelische Theologe Rolf Rendtorff, der 1963 mit einer Gruppe der DIS erstmals den Staat Israel bereist hatte.[5]
Sechstagekrieg und „Kritische Solidarität“ (1967)
Infolge des Sechstagekrieges 1967 entwickelte sich im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), zu jener Zeit der größte linke Studierendenverband, eine starke antizionistische Stimmung. Hatten der SDS und der BDIS Anfang der 1960er Jahre bei hochschulpolitischen Fragestellungen häufig eng zusammengearbeitet (Höchster Abkommen), protestierten nach 1967 zahlreiche Studiengruppen gegen die antizionistischen Positionen des SDS. Der BDIS sprach sich in der Folge für eine „Kritische Solidarität“ gegenüber Israel aus.[6]
In der Berliner Studiengruppe, wo es engere Verbindungen zum SDS gab, gewann im Jahr 1969 die antizionistische Linie, die unter anderem von Eike Geisel vertreten wurde, die Oberhand. Von anderen Studiengruppen sowie dem Bundesverband wurden die Positionen der Berliner Gruppe nicht unterstützt und 1970 entzog man der Berliner Studiengruppe die Unterstützung zur Herausgabe der diskussion, woraufhin die letzte Ausgabe der Zeitschrift im Dezember 1971 nicht mehr im Auftrag des BDIS erschien.[7]
Kontakte zu israelischen Studierendenverbänden und Auflösung (1967–1972)
Ende der 1960er Jahre setzten sich die Studiengruppen für offizielle Beziehungen mit israelischen Studentenorganisationen ein, mit denen man seit fast einem Jahrzehnt inoffizielle Kontakte pflegte. Im September 1969 beschloss die National Union of Israeli Students, offiziell mit dem BDIS zusammenzuarbeiten.[8]
Die letzte Bundesdelegiertenkonferenz der Studiengruppen fand am 22. April 1972 in Frankfurt am Main statt. Der Bundesverband und die meisten Ortsgruppen lösten im Verlauf der 1970er Jahre in einem schleichenden Prozess und ohne formellen Beschluss auf. Einzelne Studiengruppen existierten aber auch noch während der 1980er Jahre.[9]
Bekannte Mitglieder
- Jochanan Bloch, Religionswissenschaftler
- Felix Busse, Präsident des Deutschen Anwaltsvereins
- Nils Diederich, SPD-Politiker und Politikwissenschaftler
- Peter Freimark, Judaist
- Eike Geisel, Journalist und Essayist
- Angelika Köster-Loßack, Politikerin Bündnis 90/Die Grünen
- Michael Krupp, evangelischer Theologe und Judaist
- Ludwig Liegle, Erziehungswissenschaftler
- Siegward Lönnendonker, Soziologe und Chronist der Studentenbewegung
- Wolfgang Lüder, FDP-Politiker und Berliner Wirtschaftssenator
- Diemut Majer, Rechtswissenschaftlerin
- Manfred Rexin, Journalist und Sachbuchautor
- Alexander Schölch, Orientalist
- Ansgar Skriver, Journalist und Verleger
- Klaus Thüsing, SPD-Politiker
- Klaus von Trotha, CDU-Politiker und Minister für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Baden-Württemberg
- Hedda Jungfer, SPD-Politikerin
- Reinhard Strecker, Initiator der Wanderausstellung Ungesühnte Nazijustiz
- Heinz Wewer, Journalist und Historiker
Publikationen
DISkussion
Die Zeitschrift DISkussion wurde erstmals im Januar 1960 als Vereinsorgan der Berliner Studiengruppe herausgegeben. Ab Mai 1961 erschien die DISkussion im Auftrag des BDIS. Mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren entwickelte sich die Zeitschrift Anfang der 1960er Jahre zur zentralen Publikation der Deutsch-Israelischen Studiengruppen.
Dialog
Der Dialog war das Vereinsorgan der Münchner Studiengruppe. 1963 erstmals herausgegeben, erschien die Zeitschrift mit einer Auflage von 1.000 Exemplaren bis zu vier Mal pro Jahr.
Du-Siach
Du-Siach war eine hebräischsprachige Zeitschrift, die vom BDIS mit Unterstützung der Deutschen Botschaft Tel Aviv sowie des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung ab April 1967 herausgegeben wurde. Die Zeitschrift hatte eine Auflage von 5.000 Exemplaren und wurde an israelischen Universitäten verteilt. Anliegen der Zeitschrift war es, israelische Studierende über Deutschland zu informieren.
Emuna Horizonte
Als eines der letzten Projekte gab der BDIS ab 1970 gemeinsam mit dem Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft sowie dem Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland die Zeitschrift Emuna Horizonte heraus.
Kuratoriumsmitglieder einzelner Studiengruppen und des Bundesverbands
Freie Universität Berlin
- Walter Dirks, katholischer Publizist und Journalist
- Gert von Eynern, Wirtschaftswissenschaftler
- Walter Fabian, Journalist und Übersetzer
- Ossip K. Flechtheim, Jurist und Politikwissenschaftler
- Dietrich Goldschmidt, Soziologe und Bildungsforscher
- Helmut Gollwitzer, evangelischer Theologe
- Heinrich Grüber, evangelischer Theologe
- Michael Landmann, Philosoph
- Joachim Lipschitz, SPD-Politiker
- Helge Pross, Soziologin
- Kurt Sontheimer, Politikwissenschaftler
- Wilhelm Weischedel, Philosoph
Goethe-Universität Frankfurt
- Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Hessen
- Werner Bockelmann, SPD-Politiker
- Max Ludwig Cahn, Rechtsanwalt und Notar
- Max Horkheimer, Sozialphilosoph und Direktor des Instituts für Sozialforschung
- Walter Leiske, CDU-Politiker
- Friedrich Minssen, Romanist und Pädagoge
- Oswald von Nell-Breuning, katholischer Theologe
- Karl von Rath, Kulturdezernent von Frankfurt/Main
- Luise Rinser, Schriftstellerin
- Ernst Schütte, SPD-Politiker
- Berthold Simonsohn, Leiter der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
- Hannah Vogt, Schriftstellerin[10]
Ludwig-Maximilians-Universität München
- Gad Beck, NS-Widerstandskämpfer
- Ruth Andreas-Friedrich, NS-Widerstandskämpferin
- Burghard Freudenfeld, Journalist und Publizist
- Peter Gerhards, evangelischer Theologe
- Alois Hundhammer, CSU-Politiker
- Helmut Kindler, Verleger
- Ernest Landau, Journalist
- Georg Lanzenstiel, evangelischer Theologe
- Werner Leibbrand, Psychiater und Medizinhistoriker
- Alfred Marchionini, Dermatologe
- Karl Saller, Anthropologe
- Gertrud von le Fort, Schriftstellerin
- Alfred von Martin, Historiker und Soziologe
- Elmar Warning, Bankier
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
- Emil Belzner, Journalist und Schriftsteller
- Erich Bloch, Journalist und Schriftsteller
- Konrad Duden, Rechtswissenschaftler
- Otto Ernst Pfleiderer, Ökonom und Zentralbankpolitiker
- Barbara Just-Dahlmann, Juristin
- Kurt Georg Kiesinger, Bundeskanzler
- Herbert Krimm, evangelischer Theologe
- Hermann Maas, evangelischer Theologe
- Gerhard von Rad, evangelischer Theologe
- Rolf Rendtorff, evangelischer Theologe
- Liselotte Mugdan, Professorin
Bundesverband
- Hugo Bergman, Philosoph und Schriftsteller
- Franz Böhm, CDU-Politiker
- Dietrich Goldschmidt, Soziologe und Bildungsforscher
- Romano Guardini, katholischer Religionsphilosoph
- Helmut Gollwitzer, evangelischer Theologe
- Heinrich Grüber, evangelischer Theologe
- Theodor Heuss, Bundespräsident
- Harald Koch, SPD-Politiker
- Heinz Kremers, evangelischer Theologe
- Gertrud Luckner, NS-Widerstandskämpferin
- Alfred Marchionini, Dermatologe
- Helmuth Plessner, Philosoph und Soziologe
- Rolf Rendtorff, evangelischer Theologe
- Carlo Schmid, SPD-Politiker
- Ernst Simon, Religionsphilosoph und Pädagoge
- Helmut Thielicke, evangelischer Theologe
- Karl Ullstein, Verleger
Literatur
- Jonas Hahn: Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen und die frühen studentischen Kontakte mit Israel 1948–1972, Göttingen 2025.
- Michael Jenne, Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin und Brandenburg e. V.: DIS kam vor DIG vom 13. Juli 2016, in: DIG Magazin. Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Nr. 4 (2016), 24 f.
- Thomas Käpernick: Die Studentenrevolte von 1968: Vom Philosemitismus zum Antisemitismus? Anmerkungen zur Geschichte der Deutsch-Israelischen Studiengruppen, in: Irene A. Diekmann, Elke-Vera Kotowski (Hrsg.), Geliebter Feind. Gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart, Neue Beiträge zur Geistesgeschichte Bd. 7, Berlin 2009, S. 439–466.
- Thomas Lennert: Erinnerungen an die Gründungsjahre der Deutsch-Israelischen Studiengruppe in Berlin, in: Deutsch-Israelischer Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten e. V. (Hrsg.), Israel & Palästina, II–III (2015), S. 47–49.
Weblinks
- Nina Diezemann: Luftpost nach Jerusalem – Webseite der Freien Universität Berlin, ursprünglich veröffentlicht am 14. Februar 2015 in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität.
Einzelnachweise
- ↑ Jonas Hahn: Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen und die frühen studentischen Kontakte mit Israel 1948–1972, Göttingen 2025, S. 11.
- ↑ Michael Jenne: DIS kam vor DIG, in: DIG Magazin. Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Nr. 4 (2016), 24.
- ↑ Jonas Hahn: Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen und die frühen studentischen Kontakte mit Israel 1948–1972, Göttingen 2025, S. 10f.
- ↑ Stephan Alexander Glienke: Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ (1959–1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, in: Nomos Universitätsschriften, Bd. 20, Baden-Baden 2008, S. 103.
- ↑ Gerhard Gronauer: Der Staat Israel im westdeutschen Protestantismus. Wahrnehmungen in Kirche und Publizistik von 1948 bis 1972 (AKIZ.B57). Göttingen 2013, S. 181 f.
- ↑ Deutscher Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Deutsch-Israelische Gesellschaft, Bundesverband Deutsch-Israelischer Studiengruppen in Verbindung mit dem Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland u. a. (Hrsg.): EMUNA – Horizonte. Zur Diskussion über Israel und das Judentum, V. Jg. (1970), S. 145.
- ↑ Deutsch-Israelische Studiengruppe e. V. an der Freien Universität Berlin: diskussion, 12. Jg., Nr. 30/31 (1971), Impressum.
- ↑ Jonas Hahn: Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen und die frühen studentischen Kontakte mit Israel 1948–1972, Göttingen 2025, S. 298–308.
- ↑ Jonas Hahn: Die Deutsch-Israelischen Studiengruppen und die frühen studentischen Kontakte mit Israel 1948–1972, Göttingen 2025, S. 308.
- ↑ Wilma Aden-Grossmann: Berthold Simonsohn. Biographie des jüdischen Sozialpädagogen und Juristen (1912–1978), in: Campus Judaica, Bd. 23, Frankfurt2 2008, S. 245 f.