Der Graben

Der Graben ist ein Gedicht der Gattung Chanson, geschrieben von Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Theobald Tiger im Jahre 1926. Tucholsky zeigt darin die Sinnlosigkeit des Kriegs auf und kritisiert soziale und gesellschaftliche Missstände.

Entstehung

Im Jahr der ersten Drucklegung dieses Gedichtes (1926) ist Deutschland dem Völkerbund beigetreten. Nur zwei Monate später, am 20. November 1926, wurde „Der Graben“ in der Zeitung Das Andere Deutschland gedruckt. Für Tucholsky war klar, dass die Völkerversöhnung nicht nur Sache der Politik ist, sondern vor allem das eigentliche Volk betrifft. In „Der Graben“, das den Ersten Weltkrieg thematisiert, zeigt er unter anderem die Sinnlosigkeit des Kriegs auf. Als Hitler an die Macht kam, wurden viele Zensuren vorgenommen, wodurch auch dieses Chanson verdrängt wurde, welches zuvor großen Anklang bei der Bevölkerung gefunden hatte.[1]

Text

Mutter, wozu hast du deinen Sohn aufgezogen?
Hast dich zwanzig' Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
und du hast ihm leise was erzählt?
    Bis sie ihn dir weggenommen haben.
    Für den Graben, Mutter, für den Graben.

Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er wollt dir einen Groschen schenken,
und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.
    Bis sie ihn dir weggenommen haben.
    Für den Graben, Junge, für den Graben.

Drüben die französischen Genossen
lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.
    Alte Leute, Männer, mancher Knabe
    in dem einen großen Massengrabe.

Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.
    Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
    für das Grab, Kameraden, für den Graben!

Werft die Fahnen fort!
Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen -
das ist dann der Dank des Vaterlands.

    Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
    Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
    schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
    Wollt ihr denen nicht die Hände geben?
    Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
    übern Graben, Leute, übern Graben -! [2]

Form

Der Graben gliedert sich in fünf Strophen, davon vier mit demselben Reimschema. Jede der vier Strophen beginnt mit zwei Kreuzreimen. Die letzten zwei Zeilen haben jeweils einen Paarreim und sind durch die Einrückung als Refrainzeilen gekennzeichnet. Die letzte Strophe expandierte er zu einem sechszeiligen Refrain, der in der Form des Paarreims steht. Diese Ausweitung zeigt gleichzeitig, dass es in dieser Strophe zu einem inhaltlichen Höhepunkt kommen wird und für den Autor bedeutsam ist. Die Unregelmäßigkeit dieses Gattungtyps sieht man am Versfuß. Dieser dominiert als sechshebiger Trochäus mit zwölf Silben, wird jedoch an manchen Stellen von fünf Hebungen mit zehn Silben abgelöst. Diese Flexibilität kommt dem Autor zugute, denn er kann das Gedicht freier gestalten. Die Wiederholungsmodelle werden von Kurt Tucholsky des Öfteren verwendet, da sie ideal für eine Vertonung geeignet sind.[3]

Interpretation

Mit dem Titel des Werks deutet Tucholsky schon darauf hin, dass der Krieg nicht in Köpfen von Generälen und Politikern stattfindet, sondern ganz direkt im Graben und auf dem Schlachtfeld. Mit der ersten Strophe wird auch klar, dass er einfache Leute ansprechen will, sprich Familienmitglieder von Kriegsopfern. In der ersten Strophe wird die Mutter angesprochen, in der zweiten Strophe wendet er sich an den Sohn, der seinen Vater verliert. Typisch für Tucholskys Lyrik ist das Erwecken von Gefühlen über Erinnerungen. Er spricht in der zweiten Strophe von Ereignissen aus der Kindheit und weckt dadurch ein Bild des Friedens und Verbundenheit, womit er den Leser näher ans Geschehen bringt.[4]

In der dritten Strophe findet der Übergang vom Individuellen zum Allgemeinen statt. Während sie sich direkt auf den Graben richtet, impliziert der Verfasser eine Generalisierung der Menschen: Alle haben sie ihr Blut vergossen / Und zerschossen ruht heut Mann bei Mann. Kurt Tucholsky gibt diesen zwei Zeilen eine mehrfache Bedeutung. Die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen im Krieg wird hervorgehoben und gleichzeitig verweist er auf die zahlreichen Opfer, die der Erste Weltkrieg forderte.[5]

Diese Strophe fällt zudem durch ihre geänderten Schlusszeilen auf. Mit diesem geänderten Refrain wird nochmals verdeutlicht, dass gewöhnliche Bürger dem Krieg zu Opfer fallen und dabei weder Jung noch Alt verschont bleibt. Die Begriffe „Knabe“ und „Massengrabe“ sind gehobene, altväterliche Ausdrücke, die eine Hochschätzung der Toten des Autors verrät. In der vorletzten Strophe, die mit einer Anapher eingeleitet wird, kommt zum ersten Mal ein diktierender Ton hervor. Der negative Appell verlangt das Unterlassen des nationalen Stolzes, während die folgenden Zeilen die Schuldigen deklariert. Der Refrain fordert Widerstand gegen Adel und Staat, womit Tucholsky gleichzeitig auf die Kriegsinteressierten hindeutet. In der letzten Strophe werden die Forderungen dramatisiert, mit dem Ziel den Militarismus zu beenden und zu erinnern, dass dem Krieg nur Tote folgen und sonst keinen Sinn darin zu sehen ist. Im folgenden sechszeiligen Refrain erkennt man wieder das Motiv der dritten Strophe, indem Tucholsky zum Gedenken der Gegenseite und zum sich Versöhnen aufruft. Die Tatsache, dass er dabei von Vätern, Müttern und Söhnen spricht, zeigt die Verknüpfung zur ersten Strophe, diesmal jedoch mit einer positiven Aussage.[6][7]

Mit dieser versöhnlichen Geste, am Schluss dieses Chanson, lässt Kurt Tucholsky die Möglichkeit des Überwindens eines Krieges wieder aufleben.[8]

Literatur

Axel Maximilian Speith: Der Stellenwert des Chanson in Kurt Tucholskys lyrischem Gesamtwerk. Mainz 2005.

Dirk Walter: Interpretation: Tucholsky, Der Graben. Reclam. Stuttgart 2003. S. 5ff

Weblinks

Wikisource: Der Graben – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Dirk Walter: Interpretation: Tucholsky, Der Graben. Reclam. Stuttgart 2003. S. 5ff
  2. Totentänze in der Weltliteratur, deutsch
  3. Axel Maximilian Speith: Der Stellenwert des Chanson in Kurt Tucholskys lyrischem Gesamtwerk. Mainz 2005.
  4. Dirk Walter: Interpretation: Tucholsky, Der Graben. Reclam. Stuttgart 2003. S. 5ff
  5. Axel Maximilian Speith: Der Stellenwert des Chanson in Kurt Tucholskys lyrischem Gesamtwerk. Mainz 2005.
  6. Axel Maximilian Speith: Der Stellenwert des Chanson in Kurt Tucholskys lyrischem Gesamtwerk. Mainz 2005.
  7. Dirk Walter: Interpretation: Tucholsky, Der Graben. Reclam. Stuttgart 2003. S. 5ff
  8. Axel Maximilian Speith: Der Stellenwert des Chanson in Kurt Tucholskys lyrischem Gesamtwerk. Mainz 2005.