Cristina Perincioli

Cristina Perincioli

Cristina Perincioli (* 11. November 1946 in Bern) ist eine Regisseurin, Autorin, Multimediaproduzentin und Webautorin. Die Schweizerin lebt seit 2003 in Stücken.

Leben

Cristina Perincioli wurde 1946 in Bern als Tochter des Bildhauers Marcel Perincioli und der Kunsthandweberin Hélène Perincioli geb. Jörns geboren. Sie ist Enkelin des Berner Bildhauers Etienne Perincioli. Cristina Perincioli zog 1968 zum Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie nach Berlin. Hier motivierte die 68er-Bewegung sie zu Dokumentarfilmen („Nixon in Berlin“, „Besetzung eines Studentenwohnheims“, „Kreuzberg gehört uns“, „Population Explosion“) und zu Spielfilmen.

Perinciolis Kurzfilm zu einem Frauenstreik „Für Frauen 1. Kapitel“ von 1971 ist einer der ersten „Frauenfilme“ der Zeit und wird in Oberhausen im selben Jahr mit dem 1. Preis der Filmjournalisten ausgezeichnet. Harun Farocki schreibt: „Zu sehen ist der Spaß, den befreiende Erkenntnis macht.“[1] Der Film wurde 2014 in einer Kurzfilmanthologie zu fünf Jahrzehnten „Frauenfilm“ wieder veröffentlicht.[2] Eleonor Benítez hebt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die vernachlässigte zeitgeschichtliche Bedeutung der Kinopionierinnen auch für den Jungen Deutschen Film hervor. Sie sieht Perinciolis „Für Frauen 1. Kapitel“ als paradigmatisch für ein Thema, das alle Filmemacherinnen dieser Ära verbindet:

„Wenn sich aber ein Thema in zahlreichen weiblichen Filmstimmen Gehör verschafft, dann das des Strebens nach Freiheit. In dem witzigen Film von Cristina Perincioli, den sie zusammen mit Verkäuferinnen und Hausfrauen drehte, erheben sich Supermarktangestellte geschlossen gegen männliche Bevormundungs- und Überwachungsstrategien. Bedenkt man, dass Frauen bis 1977 in der BRD nicht ohne Zustimmung des Ehemanns erwerbstätig sein durften, bildet Perinciolis Film von 1971 ein revolutionäres Stück Zeitgeschichte ab.“[3]

1969 war Perincioli aktiv beim Anarcho-Blatt Agit 883, dann 1972 Mitgründerin der Lesbenbewegung und 1973 des ersten Berliner Frauenzentrums in der Kreuzberger Hornstrasse 2,[4] und 1977 des Frauennotrufs (West-)Berlin. 1975 schrieb sie zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Cäcilia Rentmeister das Drehbuch für den ersten Spielfilm zu einer lesbischen Beziehung im deutschen Fernsehen („Anna und Edith“, ZDF). Der Film zeigt keine Lesben, sondern wie sich mitten in einem Arbeitskampf eine Liebesbeziehung zwischen zwei Kolleginnen entwickelt – ähnlich, wie auch in der damaligen Frauenbewegung viele bislang heterosexuelle Frauen das „andere Ufer“ erkundeten. Dies beschreibt Perincioli als Zeitzeugin in der Fernseh-Dokumentationsreihe des rbb "Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt: 1975", und sie konstatiert auch, wie die Frauenbewegung der 70er Jahre als „Schneller Brüter“ wegweisender Ideen und Praxisprojekte unter der „Westberliner Käseglocke“ ein besonders förderliches Klima fand.[5]

1977 gründete Perincioli die Sphinx Filmproduktion GmbH mit Marianne Gassner als Produktionsleiterin. Die Dokufiction „Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen“ (ZDF 1978) wird auch international aufgeführt. Aus einem Interview mit Perincioli:

„Als ich 1974 in England die ersten Häuser für misshandelte Frauen sah, begann ich in Berlin Frauen zu Gewalt von Partnern zu befragen und fand ein nie geahntes Ausmaß an Misshandlung. Wir – Frauen aus der Frauenbewegung und engagierte Journalistinnen – fingen nun an, die Öffentlichkeit zu mobilisieren mit Hörfunk- und Fernsehsendungen und dem Buch Gewalt in der Ehe. 1976 entstand in Westberlin das erste Frauenhaus. 1978 drehten wir diesen Film zusammen mit Frauen aus diesem Frauenhaus. International erfolgreich verstärkte der Film die Frauenhausbewegung in Deutschland, Australien, Kanada, den USA, der Schweiz, Österreich, Schweden und Indien. Der Titel wurde zur Parole.“[6]

Michael Althen beschrieb 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Funktionen und Wirkungen des Films als eine „… Dokufiction, in der Bewohnerinnen des ersten Berliner Frauenhauses ihre Erfahrungen mit häuslicher Gewalt nachstellen und kommentieren. Es geht dabei nicht ums Einzelschicksal, sondern um die wiederkehrenden Muster von Gewalt und Reue auf Männerseite, Schuldgefühl und Scham auf Frauenseite, um demütigende Erfahrungen auf Ämtern und den ganzen Teufelskreis sozialer und emotionaler Abhängigkeiten. Der Film ist am stärksten, wenn er das Stillschweigen des sozialen Umfelds und die mangelnde Zivilcourage artikuliert. Den prügelnden Mann spielt übrigens Eberhard Feik, der spätere Assistent von Kommissar Schimanski.“[7]

Ab den 70er Jahren publizierte Perincioli auch als Hörfunk- und Buchautorin und trug damit – angeregt durch Recherchen in London und Harrisburg/USA – zur öffentlichen Debatte und Bewusstseinsbildung über Häusliche Gewalt sowie zu Risiken der Atomenergie bei. Ab 1990 entwickelte sie interaktives Story-Telling, darauf basierend ein erstes Adventure mit interaktivem Video (1992), und gestaltete sieben Computer-Lernspiele für den öffentlichen Raum („Laut ist out“, „Ach die paar Tropfen“, „Weiblich, männlich – und dazwischen“, „Kulturtester Rebellion“).

Sie lehrte Regie am KIMC Kenya Institute of Mass Communication in Nairobi[8] und der Hochschule der Künste Berlin, Computeranimation an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, der Filmhochschule Babelsberg und der Merz Akademie Stuttgart, und Multimediadesign an den Schulen für Gestaltung in Bern[9] und Basel[10] bis 1997.

Ab Ende der 1990er Jahre wagte sie sich an „heikle Themen“ wie sexuelle und häusliche Gewalt und schuf – unter Anwendung nutzerfreundlicher Methoden wie „Entdeckendes, selbstgesteuertes Lernen“ – preisgekrönte Webplattformen für die Fortbildung, Opferhilfe und Prävention, mit Förderung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt, die Stiftung Deutsche Jugendmarke, das Daphne-Programm der Europäischen Kommission und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend BMFSFJ.

2015 erschien Perinciolis Buch „Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb“. Am Beispiel Berlins erzählt sie die furiosen Jahre der Neuen Frauen- und Lesbenbewegung 1968–1974 aus eigenem Erleben und lässt 28 weitere Akteurinnen zu Wort kommen. Den Beginn der Neuen Frauenbewegung beschreibt sie dabei als Beispiel, wie eine Modernisierung der Gesellschaft „von unten“ initiiert wurde und nennt Autonomie und Basisdemokratie als Voraussetzungen. In einer einstündigen Reportage von Vera Block im rbb-Rundfunk 2015 schildert Perincioli auch die kaum bekannte Tatsache, inwiefern auch Anarchismus eine Vorbedingung zu einer autonomen Frauenbewegung war.[11]

Für Sonya Winterberg wird durch das Buch deutlich, dass die neue deutsche Frauenbewegung 'viele Mütter' hat:

„Perincioli…[gibt] ausführlich und höchst unterhaltsam Einblicke in die frühe Lesben- und Frauenbewegung […] Undogmatisch, basisdemokratisch, autonom und höchst kreativ entstanden so lebendige Projekte, Frauenzentren und Lesbengruppen, die zum Teil bis heute Bestand haben. Wenn Perincioli vom 'Besten, was von der 68er Bewegung blieb' schreibt, ist dies keine Übertreibung […] Wer immer noch glaubt, dass Alice Schwarzer die Mutter der neuen Frauen- und Lesbenbewegung war, tut gut daran, hier einen Blick hinter die Kulissen zu werfen.“[12]

Den neuen 'Blick hinter die Kulissen’ betont auch Claire Horst:

„Was für eine Biografie! Cristina Perincioli kann die Entstehungsgeschichte der zweiten deutschen Frauenbewegung aus erster Hand erzählen, denn sie war von Anfang an dabei […] Grabenkämpfe und Konflikte innerhalb der Bewegung werden also nicht ausgespart… [Was die Biografie auch] mit Gewinn lesen lässt, ist die selbstkritische und oft humorvolle Haltung, die die Autorin heute einnimmt, ohne sich aber von den ehemaligen Zielen zu distanzieren.“ Horst hebt auch den Berlin-Bezug hervor: „Das Buch kann auch als Kulturgeschichte des alternativen Berlins der 60er und 70er Jahre gelesen werden.“[13]

Auszeichnungen

1972 erhielt Perincioli auf den Informationstagen mit Filmen aus der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin bei den Kurzfilmtagen Oberhausen den „1. Preis der Jury der Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten“ für ihren Abschlussfilm an der dffb (Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin) „Für Frauen 1. Kapitel“. Gwendolyn Audrey Foster zu ihren Regiearbeiten: „Cristina Perincioli is an important figure in the tradition of Straub, Huillet and Fassbinder …“ (in „Women Film Directors. An International Guide …“ 1995, p. 306). Bestbewertung für die CD-ROM „Save Selma“ (Präventionssoftware für Kinder/Adventure zu sexuellem Missbrauch) in Feibels Kindersoftwareratgeber 1999 und 2000.[14] Für ihre Webplattform „www.4uman.info“ zur Gewaltprävention in Partnerschaften erhielt Perincioli auf dem 6. Berliner Präventionstag 2005 den Preis der Securitas für den „innovativen Charakter der Website in der Gewaltprävention“.[15] Ihre Website „www.spass-oder-gewalt.de“ zur Prävention sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen erhielt 2007 den Thüringer Frauenmedienpreis.

Werke

Filme

  • Striking my Eyes, Bern/Schweiz (1966)
  • Nixonbesuch und Hochschulkampf (Wochenschaugruppe) (1968)
  • Besetzung und Selbstverwaltung eines Studentenwohnheims (mit Gisela Tuchtenhagen) (1969)
  • Für Frauen 1. Kapitel, (Buch, Regie) Dokufiction (1971)
  • Kreuzberg gehört uns (Kamera) (1972)
  • Frauen hinter der Kamera (Co-Autorin) (1972)
  • Anna und Edith (Buch, zusammen mit Cäcilia Rentmeister), Spielfilm, ZDF (1975). Auf DVD neu publiziert bei Edition Salzgeber
  • Die Macht der Männer ist die Geduld der Frauen (Buch, Regie, Produktion) Spielfilm/Dokufiction, ZDF (1978). Auf DVD neu publiziert
  • Population Explosion, KIMC Nairobi/Kenya (1985)
  • Mit den Waffen einer Frau (1986)

Printmedien (Auswahl)

  • Interviews zu „Gewalt in der Ehe: Mißhandlung“ (Deutschland) sowie Bericht und Interviews zum „Leben im Frauenhaus in England“, in: Sarah Haffner (Hgin): Gewalt in der Ehe – und was Frauen dagegen tun, Wagenbach, Berlin 1976
  • Die Frauen von Harrisburg, oder: „Wir lassen uns die Angst nicht ausreden“, Rowohlt aktuell, Reinbek 1980, Neuauflagen 1986, 1991. Gesamtauflage 20.000.
  • Auge und Ohr – Computer und Kreativität. Ein Kompendium für Computergrafik, -Animation, -Musik und Video, Co-Autorin Cillie Cäcilia Rentmeister, DuMont, Köln 1990
  • Anarchismus – Lesbianismus – Frauenzentrum. Warum mußte die Tomate so weit fliegen?, in: Heinrich-Böll-Stiftung und Feministisches Institut (Hgin): Wie weit flog die Tomate?, Boell, Berlin 1999
  • Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb, Querverlag, Berlin 2015

Websites

Literatur

  • Jutta Phillips, Marc Silberman: Wenn nicht andere ein bißchen Kraft rausziehen, ist der Film für den Papierkorb, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 37, Okt. 1979, p.115 ff.
  • Marc Silberman, Gretchen Elsner-Sommer: Two Interviews with Christina Perincioli, in: JUMP CUT. A REVIEW OF CONTEMPORARY MEDIA. no. 29, February 1984, pp. 52–53 [6]
  • Cristina Perincioli in: Julia Knight, Women and The New German Cinema, London 1992
  • Cristina Perincioli in: Gwendolyn Ann Foster, Women Film Directors. An International Bio-Critical Dictionary. Westport/USA 1995, pp. 305–306
  • Das Burlebübele mag i net, Dokumentarfilm über U. Sillge und C. Perincioli, Berlin 2008 [7]

Weblinks

Commons: Cristina Perincioli – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Kurzfilmtage.de, Abgerufen am 14. August 2010.
  2. Claudia Lenssen und Bettina Schoeller-Bouju: „Wie haben Sie das gemacht? Filme von Frauen aus fünf Jahrzehnten“. Kurzfilmanthologie mit vierundzwanzig Werken deutscher Regisseurinnen auf 2 DVDs. Absolut Medien 2014. ISBN 978-3-8488-8007-2. Trailer unter [1]. Abgerufen am 20. März 2015
  3. Eleonor Benítez: „Deutschlands Kino-Pionierinnen. Selbst filmt die Frau“, in: FAZ vom 31. August 2014, Rezension zur DVD-Kurzfilmanthologie. [2]
  4. Cristina Perincioli: Warum musste die Tomate so weit fliegen? Über 68erinnen, Anarchismus, Lesbianismus bis zum Frauenzentrum, in: Gabriele Dennert, Christiane Leidinger, Franziska Rauchut: In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben, Querverlag, Berlin 2007. ISBN 978-3-89656-148-0. Eine Variante des Artikels ist online unter [3]
  5. „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt: 1975“, von Karoline Kleinert, in der rbb-Mediathek [4], und der ard-Mediathek [5], Erstausstrahlung Sa. 18.05.2019, Aussagen Perincioli ab Min. 6:67 und Min 17:20.
  6. delete129a und antifa.de (Memento vom 18. Juli 2011 im Internet Archive). Abgerufen am 18. August 2010.
  7. Michael Althen: Interdisziplinäres Symposium gegen Häusliche Gewalt in bildungsnahen Schichten. In: Haus der Berliner Festspiele, 24. November 2008. Abgerufen am 14. August 2010.
  8. Kenya Institute of Mass Communication Nairobi, Abgerufen am 14. August 2010.
  9. Schule für Gestaltung Bern (Memento vom 8. Februar 2011 im Internet Archive), Abgerufen am 14. August 2010.
  10. Website der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Abgerufen am 14. August 2010.
  11. Vera Block: „Ein reiner Frauenverein. Geschichte und Geschichten der Berliner Frauenorganisationen“. rbb Kulturradio, Redaktion Zeitpunkte, Sendetermin 7. März 2015 Archivierte Kopie (Memento vom 2. April 2015 im Internet Archive). Abgerufen am 9. März 2015
  12. Sonya Winterberg: „Hinter den Kulissen der 68er Bewegung. Cristina Perincioli dokumentiert die 68er Bewegung aus feministischer, lesbischer Sicht“, in: L-MAG, März/April 2015, S. 74
  13. Claire Horst: Cristina Perincioli – Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb. Rezension vom 12. März 2015 auf AVIVA-Berlin.de, abgerufen am 1. Mai 2020.
  14. feibel.de
  15. Verleihung des Berliner Präventionspreises 2005 (Memento vom 18. Juli 2011 im Internet Archive)

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