Clifford-Algebra
Die Clifford-Algebra ist ein nach William Kingdon Clifford benanntes[1] mathematisches Objekt aus der Algebra, welches die komplexen und hyperkomplexen Zahlensysteme erweitert. Sie findet in der Differentialgeometrie sowie in der Quantenphysik Anwendung. Sie dient der Definition der Spin-Gruppe und ihrer Darstellungen, der Konstruktion von Spinorfeldern / -bündeln, die wiederum zur Beschreibung von Elektronen und anderen Elementarteilchen wichtig sind, sowie zur Bestimmung von Invarianten auf Mannigfaltigkeiten.
Die Frage nach komplexen Einheiten
Vorbetrachtung
Es gibt in der Mathematik Zahlensysteme (Divisionsalgebren mit Einselement) mit komplexen Einheiten, genauer die komplexen Zahlen, die Quaternionen und Oktaven. In diesen können jeweils 1, 3 oder 7 Elemente fixiert werden, welche mit der 1 zusammen den Zahlenraum als reellen Vektorraum aufspannen und welche (nicht nur) erfüllen. Manchmal reicht das nicht aus. Zu einer beliebigen Anzahl werden Strukturen gesucht, welche die reellen Zahlen und Elemente enthalten und in der ein Produkt definiert ist, welches die Bedingungen
erfüllt, wobei das Kroneckersymbol ist und . Das Verknüpfungssymbol lässt man gerne weg.
Die Elemente heißen die Erzeugenden oder Generatoren der Clifford-Algebra. Das Produkt aller Erzeugenden wird durch bezeichnet, . Das Quadrat von kann +1 oder −1 sein.
Diese Struktur ist, bis auf die genannten Beispiele, kein Zahlensystem in obigem Sinne, sondern kann nur als Algebra realisiert werden, in welcher die Erzeugende sind. Eine solche Algebra wird Clifford-Algebra genannt, nach William Kingdon Clifford, der sie im Jahr 1878 entdeckt hat. Sie wird mit oder bezeichnet, falls
- und
und sonst keine algebraische Beziehung der Erzeugenden gilt.
Bis hierher haben wir formale Rechenregeln aufgestellt, wissen aber noch nichts über die Existenz, Eindeutigkeit und Struktur einer solchen Algebra. Dieses Problem ist sofort gelöst, wenn man die Clifford-Algebra als Teil einer reellen Matrixalgebra darstellen kann.
Allgemeinere Betrachtung
Im mathematischen Teil werden die Rechenregeln durch eine universelle Eigenschaft ergänzt und die Clifford-Algebra aus einer Tensoralgebra konstruiert. Es sei vorerst nur angemerkt, dass die Erzeugenden einen reellen (Unter-)Vektorraum der Dimension n=p+q innerhalb der Algebra aufspannen. Summiert man die definierende Eigenschaft über die Koordinatendarstellung eines Vektors dieses Vektorraums, so ergibt sich eine koordinatenfreie (in physikalischer Sprechweise: kovariante) Darstellung der definierenden algebraischen Relation.
- , wobei
eine quadratische Funktion auf ist, welche ein (Pseudo-)Skalarprodukt definiert:
- und
- .
Die Erzeugenden bilden dann eine Orthonormalbasis auf .
Ein solches Paar aus reellem Vektorraum und darauf definierter quadratischer Funktion ist der Ausgangspunkt für die mathematische Theorie der Clifford-Algebren.
Definition
Sei ein Körper und ein endlichdimensionaler quadratischer Raum.
Dann ist die Clifford-Algebra des quadratischen Raums definiert als die größte assoziative, aber nicht notwendig kommutative Algebra über , die von und dem Einselement erzeugt wird und deren Multiplikation die Relation
erfüllt.
Dies ist wohldefiniert, da gezeigt werden kann, dass eine lineare Einbettung (also ein Vektorraumhomomorphismus) in eine assoziative -Algebra mit Eins, so dass die Relation
gilt, zu einem -Algebra-Homomorphismus fortgesetzt werden kann. Daher ist die Clifford-Algebra bis auf Isomorphie eindeutig.[2][3]
Beispiele
Komplexe Zahlen
Die komplexen Zahlen können als einfachste Clifford-Algebra mit einer einzigen Erzeugenden verstanden werden. Der Vektorraum ist eindimensional und von erzeugt, also und die quadratische Form auf ist . Die Algebra ist als reeller Vektorraum zweidimensional mit und als Basiselementen, sie lässt sich identifizieren mit der Algebra der 2x2-Matrizen der Form
- .
Solche Matrizen erfüllen also die Gleichung
- .
Diese Clifford-Algebra wird auch, da sie ein Beispiel einer reellen Clifford-Algebra ist, mittels notiert. Dies wird später in diesem Artikel definiert.
Quaternionen
Die Quaternionen ergeben sich aus der Clifford-Algebra . Die Erzeugenden haben ein nichttriviales Produkt , aus den definierenden Eigenschaften des Produkts ergibt sich, dass es mit dem Produkt der Quaternionen übereinstimmt. Der Vektorraum ist reell zweidimensional, die Algebra reell vierdimensional. Eine Matrixdarstellung ist die Teilalgebra der komplexen 2x2-Matrizen
- ,
durch Einsetzen der reellen 2x2-Matrizen der komplexen Zahlen und ergibt sich eine Teilalgebra der reellen 4x4-Matrizen.
Anormal-komplexe Zahlen
Die Algebra der anormal-komplexen Zahlen , hat ein Erzeugendes mit Quadrat 1. Daher können Elemente der reell 2-dimensionalen Algebra in zwei Summanden aufgespaltet werden , von denen der erste unter Multiplikation mit sein Vorzeichen behält und der zweite sein Vorzeichen ändert. In der Multiplikation zweier Elemente multiplizieren sich diese Summanden separat, wie in der Multiplikation zweier Diagonalmatrizen. Die Algebra ist also isomorph zur direkten Summe zweier Kopien von , .
Graßmann-Algebra
Die Graßmann-Algebra eines reellen Vektorraumes ist die Clifford-Algebra mit der trivialen quadratischen Form . Innerhalb einer beliebigen Clifford-Algebra kann die Graßmann-Algebra konstruiert werden, indem das Keilprodukt als – und analog als alternierende Summe bei mehr als zwei Faktoren – definiert wird.
Es kann umgekehrt jede Clifford-Algebra innerhalb der Graßmann-Algebra konstruiert werden, indem in dieser ein neues Produkt definiert wird als
- .
Die Dimension der Algebra bleibt dabei erhalten, sie ist , wobei .
Diese Beziehung ist unter anderem für die Quantisierung supersymmetrischer Feldtheorien wichtig.
Alternative Definitionen
Die Clifford-Algebra ist ein aus mathematischer Sicht natürliches Konstrukt zu einem Vektorraum mit darauf definierter quadratischer Form, denn sie kann als initiales Objekt einer Kategorie charakterisiert werden.
Als initiales Objekt
Man betrachte die Kategorie aller assoziativen -Algebren , in welche eingebettet ist, das heißt aller Paare mit linear, die zusätzlich noch die Eigenschaft
- für alle aus
beziehungsweise die äquivalente Aussage
für alle , aus erfüllen. Die Morphismen dieser Kategorie sind Algebrenmorphismen, die die eingebetteten Kopien von V ineinander überführen, das heißt erfüllt nicht nur , sondern auch .
Ein initiales Objekt einer Kategorie ist dadurch ausgezeichnet, dass es zu jedem anderen Objekt der Kategorie genau einen Morphismus gibt. Wenn es mehrere initiale Objekte gibt, dann sind diese isomorph. Jedes initiale Objekt der hier betrachteten Kategorie, sofern überhaupt eins existiert, wird Clifford-Algebra genannt. Zu jedem weiteren Paar der Kategorie gibt es also einen eindeutig bestimmten Algebrenmorphismus mit .
Es sei im Folgenden mit seiner Einbettung identifiziert, das heißt, die Abbildung wird nicht mehr explizit erwähnt.
Konstruktion in der Tensoralgebra
In der Tensoralgebra sei das Ideal definiert. Dann ist der Quotient eine Realisierung der Clifford-Algebra .[2]
Spezielle Clifford-Algebren
Reelle Clifford-Algebren
Im Folgenden sei ein n-dimensionaler Vektorraum.
- Falls mit dem Standardskalarprodukt ausgestattet ist, so wird die dadurch erzeugte Clifford-Algebra auch mit bezeichnet. Die Erzeugenden sind dann die kanonischen Basisvektoren , die quadratische Form, die aus dem Standardskalarprodukt induziert wird, ist die Quadratsumme der Koordinaten.
- Ist der Raum mit der Minkowski-Form mit der Signatur ausgestattet, so dass gilt. Dann ist die quadratische Form durch
- gegeben. So wird die reelle Clifford-Algebra auch mit notiert.
Komplexe Clifford-Algebren
Zu jeder reellen Clifford-Algebra kann auch die komplexifizierte Algebra
definiert werden. Diese Definition ist unabhängig vom komplexifizierten Skalarprodukt, denn auf gibt es – bis auf Isomorphie – genau eine eindeutig bestimmte, nicht ausgeartete quadratische Form.
Eigenschaften
Graduierung
Die Abbildung
erfüllt ebenfalls die definierende Identität , somit gibt es wegen der universellen Eigenschaft einen Algebrenisomorphismus mit für alle und . Damit zerfällt die Clifford-Algebra in einen geraden Teil
und einen ungeraden Teil
Diese Zerlegung erzeugt eine –Graduierung der Algebra, Produkte gerade-gerade und ungerade-ungerade ergeben gerade Elemente, Produkte gerade-ungerade ergeben ungerade Elemente. So sind Produkte mit einer geraden Anzahl von Faktoren aus V gerade, Produkte mit einer ungeraden Anzahl von Faktoren aus V ungerade.
ist eine Unteralgebra der Clifford-Algebra und wird auch als zweite Clifford-Algebra bezeichnet, ist ein lediglich ein Modul bezüglich .
Filtrierte Algebra
Da die Clifford-Algebra als Quotient aus der Tensoralgebra aufgefasst werden kann und die Tensoralgebra eine natürliche Filtrierung besitzt, kann auch für die Clifford-Algebra eine Filtrierung erklärt werden. Die Abbildung ist die natürliche Projektion von der Tensoralgebra in den Quotientenraum und die Filtrierung der Tensoralgebra. Setzt man so wird die Clifford-Algebra ebenfalls zu einer filtrierten Algebra.[4]
Beziehung zur orthogonalen Gruppe
Sei ein Vektorraum mit nicht ausgearteter symmetrischer Bilinearform und . In der Clifford-Algebra können dann Spiegelungen in dargestellt werden. Dazu wird eine elementare Folgerung aus der Struktur des Produkts benutzt:
Ist ein Einheitsvektor, , so ist die Abbildung , die Spiegelung an der zu senkrechten Hyperebene. Jede Spiegelung ist eine orthogonale Abbildung, somit ist die von den Spiegelungen erzeugte Gruppe eine Untergruppe der orthogonalen Gruppe.
Die Pin-Gruppe
Umgekehrt lässt sich jede orthogonale Abbildung in ein Produkt aus Spiegelungen zerlegen, siehe Householdertransformation beziehungsweise QR-Zerlegung. Die Zerlegung ist nicht eindeutig, aber die Clifford-Produkte der Einheitsvektoren der Spiegelmatrizen unterscheiden sich höchstens im Vorzeichen.
Zunächst wird die Pin-Gruppe als Menge aller Produkte von Einheitsvektoren definiert:
Diese Menge ist ein Untermonoid des multiplikativen Monoids der Clifford-Algebra und wird zur Gruppe durch die Existenz eines Inversen: . Es gibt Produkte, deren Faktoren unterschiedlich sind, die aber dasselbe Element der Pin-Gruppe bezeichnen, etwa gilt für orthogonale Einheitsvektoren und mit und jedes Paar
- .
Jedoch gilt, dass jedem Element aus genau eine orthogonale Abbildung
entspricht, deren Unabhängigkeit von der gewählten Faktorisierung aus der Eindeutigkeit des Inversen folgt. Weiter ist bekannt, dass surjektiv der Ordnung 2 ist, d. h. eine zweifache Überlagerung. Die Urbilder der gleichen orthogonalen Abbildung unterscheiden sich nur um das Vorzeichen.
Die Spin-Gruppe
Physikalisch und geometrisch bedeutsam ist aber eine Untergruppe der Pin-Gruppe, die Spin-Gruppe
der Produkte mit gerader Anzahl von Faktoren (aus der spielerischen Neudeutung der Spin-Gruppe als „spezielle Pin-Gruppe“ ergab sich der Begriff „Pin“-Gruppe). Von dieser ist bekannt, dass sie eine zweifache Überlagerung der speziellen orthogonalen Gruppe ist, sowie dass sie, sofern die Dimension des zugrundeliegenden Vektorraumes größer als 2 ist, einfach zusammenhängend, das heißt universelle Überlagerung ist. Da die Matrixgruppe eine Darstellung vom Gewicht 2 von ist, sagt man in der Physik auch, dass Darstellungen der Spin-Gruppe vom Gewicht 1 Spin--Darstellungen der orthogonalen Gruppe seien.
Darstellungen
Eine Darstellung einer Algebra ist eine Einbettung dieser in die Algebra der Endomorphismen eines Vektorraums, also (nach Basiswahl) in eine Matrixalgebra. Dabei können die Matrizen reelle, komplexe oder quaternionische Einträge haben.
Es lässt sich zeigen, dass jede Clifford-Algebra zu einer Matrixalgebra oder der direkten Summe zweier Matrix-Algebren über den reellen Zahlen , den komplexen Zahlen oder den Quaternionen isomorph ist.
Reelle Clifford-Algebra
(p−q) mod 8 | ω2 | Cl(p,q,ℝ) (p+q = 2m) | (p−q) mod 8 | ω2 | Cl(p,q,ℝ) (p+q = 2m + 1) |
---|---|---|---|---|---|
0 | + | M(2m, ℝ) | 1 | − | M(2m, ℂ) |
2 | − | M(2m−1, ℍ) | 3 | + | M(2m−1, ℍ) ⊕ M(2m−1, ℍ) |
4 | + | M(2m−1, ℍ) | 5 | − | M(2m, ℂ) |
6 | − | M(2m, ℝ) | 7 | + | M(2m, ℝ) ⊕ M(2m, ℝ) |
Dabei gelten die folgenden allgemeinen Isomorphien:
Komplexe Clifford-Algebra
Die Darstellung der komplexen Clifford-Algebra ist einfacher als die der reellen. Es gilt nämlich
In diesem Zusammenhang gilt die Isomorphie
die auch essentiell für den Beweis der Darstellung ist. Ist gerade, so nennt man mit der natürlichen Graduierung in diesem Zusammenhang Spinor-Modul.
Niedrigdimensionale Beispiele
Die Dimension von als reeller Vektorraum ist 2p+q. Damit lässt sich die Clifford-Algebra durch reelle Matrizen dieser Dimension darstellen, welche die Multiplikation in der Algebra beschreiben. Diese Darstellung ist nicht minimal, d. h., es gibt Matrizen geringerer Dimension, welche das gleiche leisten, siehe [1] und die Beispiele unten.
- hat den Generator mit . Es gibt also eine komplex eindimensionale Darstellung, welche auf die imaginäre Einheit i abbildet, und die entsprechende reell zweidimensionale.
- Der Generator ist mit . Jedes Element der Algebra kann in zwei Summanden und aufgespaltet werden. Da gilt, erhält sich diese Aufspaltung unter Produktbildung. Die Clifford-Algebra ist also isomorph zum mit komponentenweisem Produkt, wobei dem Element entspricht und das Einselement dem Element . Diese direkte Summe zweier Algebren kann auch als Algebra der 2x2-Diagonalmatrizen realisiert werden.
- hat die Generatoren und und deren Produkt k=ij mit den Relationen
- .
- Man rechnet nach, dass dies zur Algebra der Quaternionen isomorph ist.
- .
- hat die Generatoren und , , und . Man überzeugt sich, dass die Generatoren folgenden reellen 2x2-Matrizen entsprechen:
- somit alle reellen Matrizen erreicht werden.
- hat die Generatoren und mit Quadrat 1, deren Produkt hat das Quadrat , somit ist diese Algebra isomorph zur vorhergehenden.
Quantenphysikalisch bedeutsame Beispiele
- hat die Erzeuger , und mit den Relationen
- , , , .
- Sowohl reelle als auch komplexe Darstellungen zerfallen als , wobei Nullraum des Projektors und Nullraum des Projektors mit ist. Es gilt , so dass beide Untervektorräume voneinander unabhängige Unterdarstellungen erzeugen.
- Eine rein negative Darstellung, d. h. mit , ist direkt zur Quaternionen-Algebra isomorph,
- ,
- eine rein positive ist konjugiert isomporph,
- .
- In beiden Fällen gilt das zu gesagte.
- Der gerade Teil dieser Algebra, der die -Gruppe enthält, ist zu isomorph. Er wird erzeugt von , es ist z. B. .
- oder
- oder
Literatur
- Bartel L. van der Waerden: Algebra. 9. Auflage. Band 1. Springer, Berlin u. a. 1993, ISBN 3-540-56799-2.
- Bartel L. van der Waerden: A history of Algebra. From al-Khwārizmī to Emmy Noether. Springer, Berlin u. a. 1985, ISBN 3-540-13610-X.
- H. Blaine Lawson, Marie-Louise Michelsohn: Spin Geometry (= Princeton Mathematical Series. Bd. 38). Princeton University Press, Princeton NJ 1989, ISBN 0-691-08542-0.
Weblinks
- José Figueroa-O'Farrill: Majorana-Spinoren und allgemeine Darstellungstheorie. (PDF-Datei; 239 kB).
Einzelnachweise
- ↑ William Kingdon Clifford. In: Guido Walz (Hrsg.): Lexikon der Mathematik. 1. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Mannheim/Heidelberg 2000, ISBN 3-8274-0439-8.
- ↑ a b Nicole Berline, Ezra Getzler, Michèle Vergne: Heat kernels and Dirac operators (= Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen. Bd. 298). Springer, Berlin u. a. 1992, ISBN 0-387-53340-0, S. 100.
- ↑ H. B. Lawson, M. Michelsohn: Spin Geometry. Princeton University Press, 1989, ISBN 978-0-691-08542-5, S. 8f.
- ↑ H. B. Lawson, M.-L. Michelsohn: Spin Geometry. 1989, S. 9–10.