Christian Enzensberger

Christian Enzensberger (* 24. Dezember 1931 in Nürnberg; † 27. Januar 2009 in München[1][2]) war ein deutscher Anglist, Übersetzer und Schriftsteller.

Leben und Werk

Christian Enzensberger, ein jüngerer Bruder von Hans Magnus Enzensberger (1929–2022) und seit 1957 Assistent des Münchner Anglisten Wolfgang Clemen, promovierte 1962 und habilitierte sich 1969 mit seiner Arbeit über die Viktorianische Lyrik. Danach war er bis zu seiner Emeritierung 1994 Professor für Englische Literaturgeschichte am Institut für Englische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit übersetzte Enzensberger zahlreiche Werke, vor allem aus dem angelsächsischen Sprachraum. Besonders seine Übersetzungen von Lewis Carrolls Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln 1963 machten die beiden Bücher auch im deutschsprachigen Raum populär. Exemplarisch für die Eigenständigkeit und herausragende Qualität seiner Nachdichtungen sei hier Carrolls Gedicht Jabberwocky aus Alice hinter den Spiegeln genannt.[3] In seinem Buch Literatur und Interesse (1977/81) entwickelte Enzensberger eine materialistische Literaturtheorie und Theorie des Kunstschönen.

Enzensbergers 1968 veröffentlichter Essay Größerer Versuch über den Schmutz erregte öffentliche Aufmerksamkeit.[4] Er wurde in überregionalen Zeitungen rezensiert und erfuhr innerhalb eines Jahres drei Auflagen. 1975 und 1980 erschienen zwei bibliophile Mappenwerke mit Radierungen von Thomas Müllenbach und Klaus Fußmann. 1970 verweigerte Enzensberger die Annahme des ihm für dieses Werk verliehenen Bremer Literaturpreises.

Literatur und Interesse (eine materialistische Literaturtheorie)

Christian Enzensberger entwickelte in seinem Buch „Literatur und Interesse“ (1977/81) eine marxistische Literaturtheorie über die Frage, wie Literatur und Gesellschaft ursächlich zusammenhängen und welche Funktion Literatur in der Gesellschaft hat. Seine ebenso provokante wie auch naheliegende Kernthese besagt: Literatur hat eine kompensatorische Funktion bezüglich der Mängel einer sinndefizitären Gesellschaft. Der Zusammenhang der Literatur mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist nicht der der Abbildung, sondern, im Gegenteil, der der Sinnberuhigung, der Bedürfnisbefriedigung, der Kompensation. Bildlich gesprochen: Literatur verhält sich zur Realität wie das Wasser zum Durst, ihre Wirkung ist die der Sättigung.

Zu den bedeutendsten marxistischen Literaturtheorien zählen jene von Georg Lukács und Terry Eagleton. Bei Lukacs wird Literatur als eine Art Spiegel betrachtet, welcher die Gesellschaft reflektiert (Widerspiegelungstheorie). Nach dem Engländer Terry Eagleton versucht Literatur, durch ideologische Einflussnahme auf die Realität einzuwirken. Nach Eagletons Wirkungstheorie ist Literatur nicht Spiegel, sondern Steuerelement der Gesellschaft. Literatur kann Gesellschaften in gewisse Richtungen lenken. Enzensbergers Theorie ist in diesen beiden Kernpunkten (Widerspiegelung, Wirkung) konträr zu Lukács und Eagleton. Der Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft beruht verkürzt auf einem einfachen, in wenigen Sätzen zusammenfassbaren Sachverhalt:[5] Gesellschaftliche Mängel bewirken eine Erfahrung von Sinnmangel (Sinndefizit). Diesem Sinndefizit steht ein existentielles, unausrottbares menschliches Sinnbedürfnis gegenüber. Literatur befriedigt dieses Sinnbedürfnis kompensatorisch, indem sie in die Sinnlücke eintritt und diese füllt. Aus dieser Auffassung von „Literatur als Kompensation“ ergeben sich zwei Folgerungen. Literatur ist immer „fiktive Wirklichkeitskonstruktion“ und in diesem Sinn keine reine Abbildung von Wirklichkeit. Literatur hat keine gesellschaftsverändernde Kraft, sondern bewirkt das genaue Gegenteil: sie absorbiert Aktivität und trägt damit zur Stabilisierung des Bestehenden bei. Es gibt in diesem Sinn keine revolutionäre Literatur, und Verschönung des Bestehenden bleibt ihr Gesetz.[6]

Vom Sinndefizit zur Sinnerfüllung

Jede Gesellschaft weist Mängel auf, die der Einzelne in vielen Formen von Angst, Isolation, Funktionslosigkeit erfährt. Diesen Zustand eines Mangels an existentiellem Sinn, von Sinnunsicherheit und Sinnabwesenheit, bezeichnet Enzensberger mit dem Begriff „Sinndefizit“.[7] Demgegenüber steht ein unausrottbares, existentielles Sinnbedürfnis des Menschen. Keine Entscheidung, keine Tätigkeit, bei der nicht die Frage aufkommt, ob ein Vorhaben wohl Sinn hat oder sinnvoll ist oder andersherum, dass ein Plan sinnlos ist bzw. keinen Sinn macht. Hier kommt nun der ebenso einfache wie naheliegende Gedanke zum Tragen, von dem Enzensberger selbst sagt, dass „wir es irgendwie schon immer gewusst haben“: Literatur befriedigt das Sinnbedürfnis des Menschen kompensatorisch, indem sie in die Sinnlücke eintritt und diese füllt. Erfahrungswirklichkeit und Literatur sind einander strukturell entgegengesetzt. Das Verhältnis der Realität zur Literatur ist eines von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung, von Wunsch und Wunscherfüllung. Literatur verhält sich zur Wirklichkeit wie das Wasser zum Durst.[8]

Wie leistet Literatur die Sinnerfüllung? Die Antwort auf diese Frage kann man am besten aus dem Strukturgegensatz von gesellschaftlicher Erfahrungswirklichkeit und Literatur ableiten. Die Erfahrungswirklichkeit hat keine unmittelbar einsichtige Sinn-Struktur (wenn ich mir in der Realität das Bein breche, brauche ich einen Arzt); Literatur dagegen hat eine Sinnstruktur (wenn sich in einem Roman jemand das Bein bricht, hat das i. d. R. etwas zu bedeuten). Literatur leistet die Sinnerfüllung auf Grund folgender Kriterien: Die bedeutungshafte Bezogenheit aller Motive aufeinander (wenn in einem älteren Roman ein Gewitter aufzieht, bedeutet das die baldige Krise für den Helden; wenn in einem neueren Roman die Sonne scheint, heißt das i. A. nichts Gutes für ihn; und wenn es gar nichts heißt, erhebt sich die Frage: was will der Autor damit sagen, dass es nichts bedeutet?).[9] Eine alles umgreifende Notwendigkeit: das Opfer in einem Kriminalroman muss genau in diesem Augenblick zur Tür hereinkommen, damit es ermordet werden kann. Die Ausrichtung auf ein übergeordnetes inhaltliches Sinnziel hin: Lehnstreue, Vaterlandsliebe, Freiheit, ökonomische Zwänge usw. Die Ausrichtung auf eine Notwendigkeit, ein Gesetz hin erfolgt in der Literatur generell äußerlich in der Form. Am offensichtlichsten ist dies im Gedicht, das mit Hilfe eines traditionell festgelegten Reimschemas konstruiert ist. Die Literatur leistet dies jedoch generell (Roman, Theaterstück) einfach durch die „bedeutungshafte Bezogenheit“ aller Motive aufeinander. Aus all dem resultiert das Täuschungsvermögen der Literatur. Literatur überschreibt das schlechte Bestehende mit Sinn, sie unterschiebt dem Beschriebenen Sinnhaftigkeit. Sie muss die Wirklichkeit falsch abbilden, nämlich verschönen, d. h. die Literatur lügt, sobald sie etwas sagt, und sie muss aus Sinnzwang lügen.

Literatur als ästhetisch-ideologische Sinnlösung

Enzensberger geht vom idealtypischen Modell einer Zwei-Klassen-Gesellschaft aus („herrschendes Bewusstsein“ vs. „beherrschtes Bewusstsein“),[10] das historisch in verschiedenen Formen auftreten kann, z. B. im Mittelalter als Gegensatz von Adel und „Volk“, oder im England des 18./19. Jahrhunderts als Konstellation von altem grundbesitzendem Adel, aufsteigendem Bürgertum und Arbeiterklasse. Es ergeben sich klassenspezifische Sinndefizite: ein Mitglied des alten Adels hat ein anderes Sinndefizit als ein Vertreter des Bürgertums, und dieser wiederum ein anderes als ein Mitglied der Arbeiterklasse.

Beim Zusammenspiel von Sinndefizit und literarischer Kompensation kommt nun massiv die Psychologie ins Spiel. Dem Aufstieg des Bürgertums im England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts z. B. steht die Verelendung der Arbeiterklasse gegenüber. Das Bürgertum weiß, dass, indem es an der Unterdrückung teilhat, die Verelendung der Arbeiter die Kehrseite des eigenen sozialen Aufstiegs ist. Gemessen am Idealbild einer gerechten Gesellschaft, setzt die Durchsetzung des Eigeninteresses des Bürgertums in Form des sozialen Aufstiegs damit auch ein Schuldverhältnis.[11] Diese untergründig wahrgenommene Klassenschuld wird vom Bürgertum psychisch auf verschiedene Arten „verarbeitet“. Einerseits durch Verdrängung der eigenen Schuld (nicht-Wahrhaben-Wollen), andererseits durch Erstellung von Sündenbock-Feindbildern, d. h. durch Projektion der Schuld auf andere („schuld sind DIE da“).[12] Dies hat Auswirkung auf die Literatur, sei es in der Art, wie ein Autor ein Buch schreibt oder in der Art, wie ein Leser ein Buch „rezipiert“.

Enzensberger beschreibt Literatur als „ästhetisch-ideologische Sinnlösung“:[13] Literatur hat also zwei Komponenten, eine ästhetische und eine ideologische. Nehmen wir als Beispiel einen Roman, geschrieben von einem Vertreter des Bürgertums, um einen „Helden“ im Mittelpunkt. Die ästhetische Seite: Das jeweilige Sinndefizit (in diesem Fall das bürgerliche) wird so bearbeitet, dass dem Leser in der Geschichte um die Mittelpunktsfigur ein Beispiel von sinnkonsistenter Lebenspraxis präsentiert wird: der Roman als „Kunstwerk“. Die ideologische Seite: Der Roman konstruiert eine „Ausrichtung auf ein Sinnziel“, durch das der Aspekt der eigenen Schuld des Autors bzw. Lesers entweder ausgeblendet oder dem Roman-Sinnziel so untergeordnet ist, dass die eigene Verstrickung in die Sinnzerstörung verdeckt wird. Ideologie ist im marxistischen Fachjargon ausgedrückt: „plausibilisierende Bearbeitung der gesellschaftlichen Mängel durch das herrschende Bewusstsein“.[14] Man kann den Begriff „Plausibilisierung“ auch mit dem Begriff „Schönreden“ umschreiben: man redet die Verhältnisse „schön“, so dass die eigene Verstricktheit in die Sinnzerstörung schließlich zum Verschwinden gebracht wird.

Literatur im gesellschaftlichen Kontext

Jede Gesellschaft hat Mängel und die in der Gesellschaft lebenden Menschen haben das Bedürfnis, sich diese Mängel zu erklären bzw. darüber nachzudenken, wie man die Mängel beheben könnte. Enzensberger verwendet für diesen Vorgang den Begriff „Mängelplausibilisierung“.[15] Es gibt nach Enzensberger verschiedene Arten der Mängelplausibilisierung. Erstens die Plausibilisierung durch Gewalt: ein Bauernaufstand wird einfach niedergeworfen. Dann Plausibilisierung durch Gesellschafts-Theorien, z. B. formuliert Rousseau (1755) als positives Sinnziel: „die Zivilisation ist schlecht, wir müssen zurück zur Natur“. Schließlich gibt es die Möglichkeit der fiktiven Mängelplausibilisierung durch Literatur. Während die beiden ersten Arten der Mängelplausibilisierung auf die Wirklichkeit einwirken bzw. einwirken wollen, ist die Funktion von Literatur nach Enzensberger genau umgekehrt, nämlich absorbierend. Sie folgt dem Schema: Sinndefizit -> Sinnbedürfnis -> Kompensation.

Die Entstehungsursache und Funktion von Literatur im gesellschaftlichen Kontext kann man demnach folgendermaßen beschreiben: Literatur ist Kompensation: Die Entstehung und Funktion von Literatur besteht in nichts anderem, als in jeweils wechselnde Sinndefizite mit wahrscheinlich und interpretierbar gemachten fiktiven Lebensbeispielen kompensatorisch einzutreten.[16] Literatur dient dazu, gesellschaftlich erzeugte Sinndefizite kompensatorisch zu beheben, sie ist fiktive Befriedigung von Sinnbedürfnis. Literatur ist der Versuch, das im herrschenden Bewusstsein ständig anwesende Sinndefizit zu beruhigen. Oder dasselbe abstrakter im marxistischen Fachjargon ausgedrückt: „Literatur ist ideologische Scheinlegitimierung von durchgesetztem Eigeninteresse“.[17]

Literaturgeschichte

Menschliche Gesellschaften entwickeln sich im Lauf der Geschichte. Damit ändern sich auch die Sinndefizite im Erleben der betroffenen Menschen. Da Literatur die jeweiligen Sinnlücken kompensatorisch schließt, folgt daraus, dass sich auch die Literatur im Lauf der Geschichte fortlaufend ändern muss. Enzensberger will gut marxistisch die gesamte Literaturgeschichte aus den zwei gesellschaftlichen Grundstörungen des Klassenswiderspruchs und der falschen Produktion (Warentausch) ableiten.[18] Die Kompensation des Klassenwiderspruchs liege der Abfolge von der klassischen Antike über die europäischen Klassiken (die französische, die deutsche usw.) bis zum Realismus und Naturalismus zugrunde. Die Kompensation der zweiten Grundstörung durch den Warentausch sei die Grundlage der subjektivistischen, ästhetischen Grundhaltung und führe vom Manierismus über die Romantik zum Ästhetizismus.

In der Moderne bekommt die Literatur zunehmend Probleme, sich noch wahrscheinlich zu machen. Die Kunst/Literatur findet einen Ausweg in der „Darstellung der Zerstörung von Kunst“: auf der einen Seite Brechts Konzept der „Verfremdung“, auf der anderen Seite die Verweigerung von Inhalten überhaupt (Beckett, Dada, Surrealismus, absurde Literatur, ecriture automatique).[19] Aber alle diese Versuche zur Zerstörung der ästhetischen Sinnstruktur sind aufgrund des Sinnzwangs der Literatur zum Scheitern verurteilt. Die Versuche, Sinnlosigkeit direkt darzustellen, sind zum Scheitern verurteilt, weil die Darstellung von Sinnlosigkeit sich auf Seiten des rezipierenden Lesers oder Theaterpublikums unversehens in „Kunstgenuss“ verwandelt (Beispiel: Beckett, „Warten auf Godot“).[20] Ebenso sind extreme Formen des „Realismus“ (Versuch der Überführung der Kunst in Realität) zum Scheitern verurteilt, z. B. wenn die Künstler des Dada das Telefonbuch zum vollendeten Roman erklären wollen.[21] Denn in dem Moment, in dem man das Telefonbuch zum Kunstwerk erklärt, tritt die Sinn-Komponente in kraft: das Telefonbuch bekommt dann z. B. plötzlich eine vollendete symmetrische Struktur, die Namen beginnend mit „A“ am Anfang des Buchs spiegeln sich in den Namen beginnend mit „Z“ am Ende des Buchs. Selbst Versuche von Seiten des Autors, das Theaterpublikum direkt zu beschimpfen (Peter Handke, „Publikumsbeschimpfung“),[22] sind zum Scheitern verurteilt: auch hier verwandelt sich das Beschimpft-Werden auf Grund des Sinnzwangs der Literatur beim Publikum unversehens in „Kunstgenuss“. Die heutige gesellschaftliche Situation (geschrieben 1980) ist geprägt durch die Phänomene von „Klasseneinebnung“ und „Massenkonsum“. Auf Seiten der Literatur stehen dem zwei Tendenzen gegenüber. Die Literatur kehrt dahin zurück, wo sie eigentlich hingehört: in ihr Reich der Bedürfnisse/Wünsche und der Bedürfnisbefriedigung/Wunscherfüllung (Literatur als reine Kompensation: Bestseller, Fernsehserien).[23] Andererseits ist eine schwindende Bedeutung der Schönen Literatur festzustellen (Klassiker werden im Schulunterricht nicht mehr gelesen; Antiquariate kaufen keine Klassiker mehr an, weil diese sich nicht mehr verkaufen lassen). In der schwindenden Marktbedeutung der hohen Literatur zeige sich ein kulturelles Veralten der Literatur insgesamt an (Verlagerung der Sinndefizit-Kompensation auf andere Kulturgebiete, z. B. Fernsehen, Computer?).[24]

Literaturwissenschaft

Für die Literaturwissenschaft ergibt sich beim Arbeiten mit Enzensbergers Methode folgende Vorgehensweise:[25] Erstens muss man die in Frage stehende Gesellschaft historisch daraufhin untersuchen, welche gesellschaftlichen Mängel in ihr vorliegen. Zweitens muss daraus das klassenspezifische Sinndefizit des jeweiligen Autors bzw. Publikums rekonstruiert werden. Darauf setzt drittens die literaturwissenschaftliche Arbeit ein (Enzensberger nennt sie "Reduktionsarbeit): Wie tritt die Literatur in die Sinnlücke (Sinndefizit) ein? Viertens: was ist die ideologische Leistung des Werks?

Als Beispiel soll, in aller Kürze, Charles Dickens „Oliver Twist“ (1837) dienen.[26] Erstens die gesellschaftlichen Mängel: Das Jahrzehnt 1830/40 war eine Phase des Hochkapitalismus. Die gesellschaftlichen Mängel treffen in erster Linie die Arbeiterklasse: unmenschliche Arbeitsbedingungen; 12–14-stündiger Arbeitstag; noch 1842 werden in Bergwerken 4-jährige Kinder beschäftigt;[27] usw. Zweitens das bürgerliche Sinndefizit (Charles Dickens und seine Leser waren Bürger): Es besteht darin, dass das Bürgertum vage erkennt, dass der eigene soziale Aufstieg zu einem guten Teil auf Kosten der Verelendung der Arbeiterklasse erfolgt. Drittens der Aufbau des Romans: Der Roman ist die melodramatische Geschichte des „sozialen Aufstiegs“ des Waisenkinds Oliver vom Armenhaus in den ehrbaren Bürgerstand. Der Roman konstruiert dazu einen Gegensatz zwischen einer als ideal dargestellten Bürgerwelt und einer hoffnungslos verbrecherischen Unterwelt (Welt der Verbrecher). Die realen Missstände (Arbeiterproblem, Welt der Fabriken, Streiks, Arbeitszeiten, Löhne) werden in dem Roman gar nicht thematisiert. Der Roman arbeitet mit dem simplen Mittel der „poetischen Gerechtigkeit“: die Guten werden belohnt, die Schlechten bestraft (sie müssen sterben). Beide Darstellungsmittel (Soziales Aufstiegs-Schema, poetische Gerechtigkeit) sind keine Abbildung von Wirklichkeit (in der Wirklichkeit werden nicht die Guten belohnt und die Bösen bestraft, sondern eher umgekehrt; der soziale Aufstieg „vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist in der Wirklichkeit eher die Ausnahme als die Regel), sondern „fiktive Wirklichkeitskonstruktion“. Viertens die ideologische Leistung des Romans: Sie besteht darin, dass die Welt der Bürger als bürgerlicher Himmel dargestellt wird (die eigene Position wird verschönt) und die verbrecherische Unterwelt als hoffnungslos verloren. Die ideologische Aussage des Romans ist demnach aus bürgerlicher Sicht folgende: „Ja, das ist schon schlimm, wie es in den unteren Schichten der Gesellschaft zugeht, aber da kann man nichts machen, so ist das Leben, das sind alles hoffnungslose Fälle!“.

Enzensbergers historischer Ort

Aus dem Marxismus des 19. Jahrhunderts entwickelten sich in der nachfolgenden Zeit in vielen Wissenschaftsdisziplinen mit gesellschaftlichem Bezug eigene marxistische Strömungen (marxistische Philosophie, marxistische Soziologie, marxistische Wirtschaftstheorie, marxistische Literaturtheorie, in der Psychologie der sog. Freudomarxismus). Enzensberger entwirft in seinem Buch „Literatur und Interesse“ (1977/81) eine materialistische Literaturtheorie. Seine Begrifflichkeit speist sich aus zwei Quellen: die gesellschaftlichen Mängel beruhen auf einer falschen Produktionsweise und dem Klassenwiderspruch (K. Marx/F. Engels), psychologisch funktioniert Literatur nach Kategorien wie Mangel, Bedürfnis, Bedürfnisbefriedigung, Kompensation, Eigeninteresse, Schuld, Verdrängung, Projektion (S. Freud). Mit dieser Verbindung von Marx (Marxismus) und Freud (Psychoanalyse) ist Enzensberger der Bewegung des Freudomarxismus zuzurechnen. Diese Bewegung war in den 1920er Jahren entstanden (früher Vertreter: Wilhelm Reich) und fand eine Weiterentwicklung in den Vertretern der Kritischen Theorie (seit dem Zweiten Weltkrieg auch bekannt unter der Bezeichnung Frankfurter Schule): Max Horkheimer (1895–1973), Theodor W. Adorno (1903–1969), Herbert Marcuse (1898–1979.) Genau diese Autoren führt Enzensberger in der Literaturliste zu seinem Buch auf. Bedeutsam wurde die Bewegung des Freudomarxismus für die 68er-Generation. Dieser darf man Christian Enzensberger (als Alt-68er) im weitesten Sinn zurechnen.[28] Die 68er-Atmosphäre ist dem Buch von Enzensberger deutlich anzumerken.[29]

Veröffentlichungen

  • Größerer Versuch über den Schmutz. Hanser, München 1968 (3. Aufl. 1969); Deutscher Taschenbuchverlag, München, 1970; Ullstein, 1980. Neuausgabe: Carl Hanser Verlag, Edition Akzente, München 2011, ISBN 978-3-446-23763-6. – Englische Ausgabe: Smut. An Anatomy of Dirt, Calder and Boyars, London 1972.
  • Viktorianische Lyrik. Tennyson und Swinburne in der Geschichte der Entfremdung. Habilitationsschrift Universität München. Hanser, München 1969.
  • Literatur und Interesse – Eine politische Ästhetik mit zwei Beispielen aus der englischen Literatur. Band 1: Theorie. Band 2: Beispiele, Shakespeare ‚Der Kaufmann von Venedig’, Dickens ‚Oliver Twist’. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977. (Zweite, fortgeschriebene Fassung 1981, ISBN 3-518-27902-5)
  • Was ist Was. Roman, Franz Greno, Nördlingen 1987, Reihe Die Andere Bibliothek, Neuausgabe: Eichborn, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-8218-4033-1.
  • Eins nach dem anderen. Gedichte in Prosa. Hanser, München, 2010, ISBN 978-3-446-23570-0.
  • Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur. Mit einer Hinführung von Stefan Ripplinger und einem Nachwort von Dirck Linck und Joseph Vogl. Die Andere Bibliothek, Berlin, 2013, ISBN 978-3-8477-0342-6.
  • Ins Freie. Ein Erinnerungsbuch. Hrsg. von Wolfgang Gretscher und Christiane Wyrwa. Scaneg Verlag, München 2016, ISBN 978-3-89235-711-7.

Übersetzungen

  • Von Hopkins bis Dylan Thomas. Englische Gedichte und deutsche Prosaübertragungen. Gemeinsam mit Ursula Clemen, Fischer, Frankfurt am Main 1961.
  • George D. Painter: Marcel Proust. Teil 1. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1962.
  • Giorgos Seferis: Poesie. Gedichte. Griechisch und deutsch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1962, 4. Auflage. 2005, ISBN 3-518-01962-7.
  • Lewis Carroll: Alice im Wunderland. Insel, Frankfurt am Main 1963, TB ISBN 3-458-31742-2.
  • Lewis Carroll: Alice hinter den Spiegeln. Insel, Frankfurt am Main 1963, TB ISBN 3-458-31797-X.
  • Edith Sitwell: Gedichte. Englisch und deutsch. Übersetzt von Christian Enzensberger, Erich Fried und Werner Vordtriede, Insel, Frankfurt am Main 1964.
  • Ogden Nash: I’m a Stranger Here Myself. Selected Poems – Ich bin leider hier auch fremd. Ausgewählte Gedichte. Nachdichtungen von Christian Enzensberger, Walter Mehring und Ulrich Sonnemann, Rowohlt, Reinbek 1969.
  • Edward Bond: Trauer zu früh. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969.
  • Edward Bond: Lear. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972.
  • T. S. Eliot: Gesammelte Gedichte 1909–1962. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Englischen von Christian Enzensberger u. a., Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972, TB 2002, ISBN 3-518-38067-2.
  • Edward Bond: Bingo. Szenen von Geld und Tod. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975.
  • Ian McEwan: Der Zementgarten. Aus dem Englischen von einer studentischen Arbeitsgruppe unter Leitung von Christian Enzensberger, Diogenes, Zürich 1980, TB ISBN 3-257-20648-8.
  • Samuel Beckett: Mehr Prügel als Flügel. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, TB ISBN 3-518-39183-6.

Literatur

  • Wolfgang Gretscher, Christiane Wyrwa (Hrsg.): Christian Enzensberger – Ins Freie. Ein Erinnerungsbuch. Scaneg Verlag, München 2016.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Todesanzeige von Hans Magnus Enzensberger und Familie in der Süddeutschen Zeitung, 31. Januar 2009.
  2. Nachruf. In: Tagesspiegel. 31. Januar 2009 (archive.org).
  3. Christian Enzensberger: Der Zipferlake, Volltext
  4. Rezension in Der Spiegel 1/1969, abgerufen am 12. April 2014.
  5. Christian Enzensberger, Literatur und Interesse, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 302 1981, S. 73.
  6. Die politisch verändernde Wirkung von Schöner Literatur widerlegt Enzensberger mit einem absolut schlagenden Argument: wenn das Lesen von Schöner Literatur eine politisch verändernde Wirkung hätte, dann müssten die, die am meisten lesen, nämlich die Literatur-Professoren, die größten Polit-Aktivisten sein; in der Wirklichkeit aber ist genau das Gegenteil der Fall: die Literatur-Professoren sind i. d. R. die, die den größten Teil ihres Lebens nicht mit politischer Aktion, sondern mit Lesen verbringen.
  7. Christian Enzensberger, Literatur und Interesse, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 302 1981, S. 26.
  8. S. 63.
  9. alles S. 66.
  10. S. 40.
  11. S. 42.
  12. S. 49.
  13. z. B, S. 363.
  14. S. 37.
  15. S. 51 f.
  16. S. 98.
  17. S. 15.
  18. S. 247 ff.
  19. S. 252 f.
  20. S. 96.
  21. S. 68.
  22. S. 278, Fußnote 51.
  23. S. 261.
  24. S. 139.
  25. S. 156.
  26. S. 379–437.
  27. S. 58.
  28. Enzensberger promovierte 1962.
  29. v. a. in den amüsanten zeitgenössischen Beispielen (natürlich nicht auf Chr. Enzensberger zu beziehen!): wer eine griechische Putzfrau hat, ist in ein Ausbeutungsverhältnis verstrickt (S. 45); wer billigen Kaffee trinkt, ist an der Ausbeutung der südamerikanischen Bauern mitschuldig; wer die Zeitung aus Kostengründen abbestellt, macht sich mit mitschuldig, wenn die Drucker in den Zeitungsverlagen entlassen werden; Bewunderung des Supermarktdiebstahls zur damaligen Zeit; (alles S. 48) Hochschätzung von Carlos Castaneda, Enzensberger: „Es ist das Verdienst Castanedas, uns Nichtethnologen mit der indianischen Lehre von nagual bekannt gemacht zu haben, die mir dem Freudschen Konzept des Unbewußten überlegen scheint“ (S. 279, Fußnote 55); Lob von China und Albanien als kommunistische Musterstaaten (S. 184f.); Hochschätzung von Mao (S. 185)