Cantono-Frigerio-System

Kontaktwagen des Cantono-Frigerio-Systems

Das Cantono-Frigerio-System war ein italienisches Stromabnehmersystem für Oberleitungsbusse und Oberleitungslastkraftwagen, bei dem ein vierrädriger Kontaktwagen über eine feste Stange von unten an die beiden Fahrdrähte gedrückt wurde, die im Abstand von 50 Zentimetern zueinander verliefen. Es wird in englischen Veröffentlichungen oft Filovia-System genannt,[1] wobei das italienische Wort filovia (deutsch: Drahtweg) generell für eine Oberleitungsstrecke jeglicher Bauart verwendet wird.

Geschichte

Ein Oberleitungsbus der Società per la Trazione Elettrica bei einem Ausweichmanöver auf der Weltausstellung Mailand 1906

Nachdem Werner Siemens bereits 1882 mit dem Elektromote ein erstes Stromabnahmesystem für Straßenfahrzeuge vorgestellt hatte (basierend auf einem auf der Leitung laufenden Kontaktwagen), folgte 1901 Max Schiemann mit seinen Schleifschuhen, die per Federkraft an die Fahrleitung gedrückt wurden. Daraufhin kombinierten zwei Jahre später die Ingenieure Eugenio Cantono aus Rom und Carlo Frigerio aus Mailand die beiden Prinzipien. Daraus entstand die Bezeichnung Cantono-Frigerio-System. Zuvor verkehrte allerdings bereits zwischen Mai und November 1902 ein Schiemann-Obus auf der Turiner Gewerbeausstellung, der als erster italienischer O-Bus überhaupt gilt.

Das 1903 vorgestellte Cantono-Frigerio-System unterschied sich von den bisher bekannten Stromabnehmern dadurch, dass es einen vierrädrigen Kontaktwagen verwendete, der von unten über eine einzelne Stange an die Oberleitung gedrückt wurde. Die mögliche Abweichung nach rechts oder links betrug dabei bis zu 3,5 Meter. Die Fahrzeuge hatten üblicherweise zwei Motoren mit jeweils elf Kilowatt Leistung und konnten 20 bis 24 Fahrgäste transportieren.[2] Sie konnten engere Kurven und größere Steigungen als Straßenbahnen bewältigen und fuhren bis zu 30 km/h schnell.[1] Die Oberleitungsdrähte hatten einen Durchmesser von neun Millimetern. Es gab nur eine Oberleitung je Strecke, sie wurde mit 600 Volt Gleichspannung gespeist und in beiden Fahrtrichtungen benutzt. Die Fahrzeuge hatten einen Führerstand wie bei einer Straßenbahn. Ausgeführt wurden die betreffenden Strecken von den Unternehmen Eugenio Cantono S.A. (ab 1904 Cantono Avantreni S.A. beziehungsweise ab 1906 Fabbrica Rotabili Avantreni Motori S.A.) und Società in Accomandita Ing. Carlo Frigerio & C. (ab 1905 Società per la Trazione Elettrica).

Das Cantono-Frigerio-System konnte sich in Italien etablieren, bereits 1916 existierten mehrere erfolgreich betriebene Strecken mit einer Gesamtlänge von mehr als 80 Kilometern. In einigen Städten wurden sogar Subventionen für die Errichtung der Oberleitungen zur Verfügung gestellt.[2]

StreckeBetriebsdauerBildBemerkungen
Pescara–Castellammare Adriatico1903 bis 1904Castellammare Adriatico - Corso Vittorio Emanuele - cartolina.jpgDie ersten O-Busse nach dem System Cantono-Frigerio fuhren ab 1903 von Pescara nach Castellammare Adriatico, das heute nach Pescara eingemeindet ist. Die zweimotorigen Fahrzeuge wurden mit 550 Volt Gleichstrom gespeist und mit einem lärmenden Kettenantrieb auf die Vollgummi-Hinterräder angetrieben. Ihre Höchstgeschwindigkeit betrug 25 Kilometer pro Stunde.[3]
La SpeziaPorto Venere1906 bis 1909La Spezia - Porto Venere.jpgDie Strecke wurde am 10. Februar 1906 von La Spezia bis Fezzano eingeweiht und bot anfangs 20 Fahrten hin und zurück pro Tag. Nach anfänglichem Lob erwies sich die Kapazität als unzureichend und hätte die Inbetriebnahme von größeren Fahrzeugen erfordert. Der Betrieb war schwierig: die holprigen Straßen und häufige Entgleisungen des Stromabnehmerwägelchens begrenzten die Geschwindigkeit, und es gab immer wieder Probleme mit den Bremsen und der elektrischen Isolierung der Fahrzeuge. Diese Probleme führten dazu, dass die Stadt La Spezia 1908 den Bau einer Straßenbahn bis Cadimare beschloss, die den O-Bus ab November 1909 ersetzte.[4]
Mailand1906Società per la Trazione Elettrica.jpgWährend der Mailänder Weltausstellung vom 28. April bis zum 11. November 1906 demonstrierte die Società per la Trazione Elettrica auf einem Rundkurs um das Ausstellungsgelände auf der Piazza d'Armi erfolgreich die Vorteile des Systems.[5]
Siena1907 bis 1920La filovia a Siena - Deposito dei filobus presso Porta Camollia (ca 1907).jpg

Am 24. März 1907 wurden nach einigen Probefahrten O-Busse in Siena in Betrieb genommen. Die etwa sieben Kilometer lange Strecke verband die Ortsteile Fontebecci und Valli mit der Innenstadt (Piazza Indipendenza) und dem Bahnhof. Sie wurde anfangs von der Società Imprese Elettriche Senesi (SIES) betrieben, die später in Società Anonima Filovie Senesi (SAFS) umbenannt wurde. Die steilen und schmalen Straßen mit engen Kurven führten zu Schwierigkeiten, so dass das Unternehmen am 13. April 1920 liquidiert wurde.[6]

IvreaCuorgnè1908 bis 1935La filovia Ivrea-Cuorgnè passando per Castellamonte 1.jpgDie Strecke von Ivrea nach Cuorgnè, die auf Initiative des Landvermessers Vallino erbaut wurde, wurde am 30. März 1908 eröffnet. Sie hatte den Spitznamen Filovia del Poeta (Dichter-Drahtweg) weil sie am Haus des Dichters Giuseppe Giacosa vorbeifuhr. Im Gegensatz zu anderen Systemen der Pionierzeit bot sie anfangs einen zufriedenstellenden Betrieb. Als ab Ende der 1920er Jahre der Verkehr weiter anstieg, wurde sie durch Omnibusse ersetzt.
Cuneo1908 bis 1968Rete filoviaria di Cuneo a Corso Nizza di Cuneo.JPGDie Arbeiten für den O-Bus in Cuneo begannen im April 1908. Im Juni 1908 begannen die Probefahrten. Die erste O-Bus-Linie der Stadt, die den Bahnhof mit der Neuen Kirche verband, wurde am 1. August 1908 in Betrieb genommen und am 9. August 1908 offiziell eröffnet. Es wurden bis 1926 die sechs Wagen der Weltausstellung in Mailand sowie bis 1920 ein Oberleitungslastkraftwagen eingesetzt. Nachdem am Anfang der 1960er Jahre die Linie vom Bahnhof über die Piazza Galimberti zum Borgo Gesso stillgelegt worden war, wurde 1968 die Linie von der Piazza Torino über die Piazza Galimberti und den Corso Nizza nach San Rocco stillgelegt.[7][8]
ArgegnoSan Fedele Intelvi1909 bis 1922Filovie Valle d'Intelvi.JPGDie Filovia Valle d'Intelvi von Argegno am Comer See nach San Fedele Intelvi wurde vom 4. Juli 1909 bis Ende 1922 betrieben.[9] Sie fuhr auf einer steilen Serpentinenstraße mit bis zu elf oder nach anderen Quellen sogar bis 13 Prozent Steigung.[10]
L’Aquila1909 bis 1924L'Aquila Città Filovia (Grayscale).jpgDie L'Aquila Città Filovia war von 1909 bis 1924 in Betrieb.
AlbaBarolo1910 bis 1919Società Filovia Albesi (Alba - Barolo).jpgDie Strecke Alba–Barolo wurde von der Società per la Trazione Elettrica aus Mailand geplant und gebaut und von der Società Filovia Albesi betrieben. Sie wurde am 26. September 1910 in Betrieb genommen und wegen gravierender technischer Probleme 1919 stillgelegt.[8]
EnegoPrimolano1915 bis 1918[11]La prova di collaudo della filovia Primolano Enego (Trentino). Agosto 1917.jpgDie meisten O-Bus-Linien wurden neben der Personenbeförderung auch für den Güterverkehr mit Oberleitungslastkraftwagen genutzt. Die 1915 in Betrieb genommene Linie von Enego nach Primolano hingegen wurde von der königlichen italienischen Armee errichtet und diente in erster Linie dem Güterverkehr, das heißt insbesondere dem Munitionstransport.
EdoloPonte di Legno1915 bis 1918[11]Die Strecke von Edolo nach Ponte di Legno wurde von der Armee errichtet und militärisch genutzt.
Marostica–Puffele1916 bis 1919[11]Filovia militare a Marostica, 1919, Rognini Balbo del Regio Esercito.jpgDie Strecke Marostica–Puffele wurde während des Ersten Weltkriegs militärisch zum Güterverkehr und Munitionstransport genutzt.[12]
Breganze–TurcioUm 1916Die Strecke von Breganze nach Turcio wurde während des Ersten Weltkriegs militärisch vor allem zum Munitionstransport genutzt.[12]

Siehe auch

Depot der Filovia Valle d'Intelvi

Weblinks

Commons: Cantono-Frigerio-System – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Railless Traction at Bradford, Light Railway and Tramway Journal, 7. April 1911. (Englisch)
  2. a b Cyclopedia of applied electricity - a general reference work on direct-current generators and motors, storage batteries, electrochemistry, welding, electric wiring, meters, electric lighting, electric. 1916. Seite 399. (Englisch)
  3. Gabriele Montella: Il filobus. (Italienisch)
  4. Francesco Ogliari und Franco Sapi: Signori, in vettura! Storia dei trasporti italiani. Band 5. Liguria, a cura degli autori, Mailand, 1965. S. 130, 133, 134 und 155. (Italienisch)
  5. Milanoneisecoli: La prima filovia di Milano. (Italienisch)
  6. Maura Martellucci und Roberto Cresti: Pillole quotidiane di storia senese: 24 marzo 1907: la filovia a Siena. (Italienisch)
  7. Francesco Ogliari und Franco Sapi: Scintille fra i monti. Storia dei trasporti italiani. Bände 8° und 9°. Piemonte-Valle d'Aosta, a cura degli autori, Mailand, 1968. (Italienisch)
  8. a b Paolo Gregoris, Francesco Rizzoli, Claudio Serra, Giro d'Italia in filobus, Calosci - Cortona, 2003, S. 14, 42–46. ISBN 8877851937. (Italienisch)
  9. Un secolo di trasporti: dalla filovia all’autobus ecologico. (Italienisch)
  10. Hawera & Normanby Star, Band LX, 23. September 1910, Seite 3, und on-line. (Englisch)
  11. a b c Mattis Schindler: Übersicht Obusbetriebe der Welt. Stand Juli 2010. (Deutsch und Englisch)
  12. a b Scan eines Buches im Mondo Tram Forum. (Italienisch)

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La Spezia - Porto Venere.jpg
Filobus La Spezia - Porto Venere
Esposizione Internazionale Milano - 1906, 'Filovia' delle Società per la Trazione Elettrica.jpg
Trolleybus mit Cantono-Frigerio-Stromabnehmer bei der Weltausstellung in Mailand, 1906
Rete filoviaria di Cuneo a Corso Nizza di Cuneo.JPG
Trolleybus at the Corso Nizza of Cuneo
La prova di collaudo della filovia Primolano Enego (Trentino). Agosto 1917.jpg
La prova di collaudo della filovia Primolano Enego (Trentino). Agosto 1917
Società per la Trazione Elettrica.jpg
La Filovia elettrica sistema Cantono-Frigerio a Esposizioni Universali nel mondo e a Milano, 1906
Trolley of the Filovia system.gif
The collector of the Filovia system consisted of "a four wheel truck, placed on top of a boom, which is kept in contact with, and runs under the trolley wires in the same way as the ordinary tramway trolley wheel. Its design and construction have been so perfected that it will allow a displacement of the car to the extent of about 12 ft. from either side of the trolley wires, so that it will take easily very sharp curves, and will not leave the trolley wires even when running at a speed of 18mph.
Filovie Valle d'Intelvi.JPG
Filovie Valle d'Intelvi - Filovia in discesa per Argegno - 1 Luglio 1910 - Emissione di N. 1500 Azioni da L. 100 (Deliberazione dell' Assembl. Ordin. del 30 Marzo 1910)
Filovia Intelvese.jpg
La rimessa della filovia della Val d’Intelvi, sita in località Capria, nel territorio comunale di San Fedele Intelvi.
Società Filovia Albesi (Alba - Barolo).jpg
Società Filovia Albesi (Alba -Barolo)
La filovia Ivrea-Cuorgnè passando per Castellamonte 1.jpg
La filovia Ivrea-Cuorgnè passando per Castellamonte
Castellammare Adriatico - Corso Vittorio Emanuele - cartolina.jpg
Autor/Urheber: Cartolina storica, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Cartolina di corso Vittorio Emanuele a Castellammare Adriatico (oggi Pescara). Si noti il filobus.
La filovia a Siena - Deposito dei filobus presso Porta Camollia (ca 1907).jpg
Oberleitungsbusse mit Cantono-Frigerio-System nahe der Porta Camollia