C/2007 W1 (Boattini)

C/2007 W1 (Boattini)[ i ]
Eigenschaften des Orbits (Animation)
Epoche: 26. Mai 2008 (JD 2.454.612,5)
Orbittyphyperbolisch
s. Kap. Umlaufbahn
Numerische Exzentrizität1,00019
Perihel0,850 AE
Neigung der Bahnebene9,9°
Periheldurchgang24. Juni 2008
Bahngeschwindigkeit im Perihel45,7 km/s
Geschichte
EntdeckerAndrea Boattini
Datum der Entdeckung20. November 2007
Quelle: Wenn nicht einzeln anders angegeben, stammen die Daten von JPL Small-Body Database Browser. Bitte auch den Hinweis zu Kometenartikeln beachten.

C/2007 W1 (Boattini) ist ein Komet, der im Jahr 2008 mit bloßem Auge gesehen werden konnte. Er gilt als ein ernstzunehmender Kandidat für einen interstellaren Kometen, dessen Ursprung nicht in unserem Sonnensystem liegt.

Entdeckung und Beobachtung

Der Komet wurde von A. Boattini am Mount-Lemmon-Observatorium in Arizona im Rahmen des Mount Lemmon Survey entdeckt, als er eigentlich nach erdnahen Asteroiden suchte. Es war seine erste Kometenentdeckung.

Bei seiner Entdeckung im Grenzbereich der Sternbilder Jungfrau und Löwe besaß der Komet eine Helligkeit von 18 mag und war noch etwa 3,3 AE von der Sonne entfernt. Er war zunächst am Nachthimmel, später in der Abenddämmerung zu beobachten, bis Anfang Februar 2008 hatte er eine Helligkeit von 14 mag erreicht und bis Anfang März 13 mag. Anfang Mai hatte sich noch kein Schweif ausgebildet, die Helligkeit lag bei 7 mag. Der Komet wanderte weiter in den Südhimmel und konnte zur Zeit seiner Annäherung an die Sonne Ende Mai und bei seinem Vorbeiflug an ihr im Juni nur von der Südhalbkugel aus beobachtet werden. Zu dieser Zeit erreichte er eine Helligkeit von 4,5–5 mag und konnte gerade so mit bloßem Auge gesehen werden.

Ab Anfang Juli konnte er wieder in der Morgendämmerung auf der Nordhalbkugel aufgefunden werden, er hatte einen mehrere Grad langen Schweif, seine Helligkeit lag aber nur noch bei 5–6 mag und sank bis Anfang September bis 10 mag ab.[1][2] Er konnte noch mindestens bis Mitte Dezember beobachtet werden.

Wissenschaftliche Auswertung

Mit dem Near Infra-Red Spektrograph (NIRSPEC) am Keck-Observatorium auf dem Mauna Kea wurde im Juli 2008 die chemische Zusammensetzung des Kometen untersucht. Dabei wurden 11 flüchtige Substanzen (H2O, OH*, C2H6, CH3OH, H2CO, CH4, HCN, C2H2, NH3, NH2, CO) gefunden. Die Häufigkeiten fast aller dieser Substanzen relativ zu Wasser zeigten die höchsten Werte, die jemals bei einem Kometen gemessen wurden. Der Komet zeigte auch ein komplexes Ausgasungsverhalten.[3] Ähnliche Untersuchungen wurden auch mit dem CRyogenic InfraRed Echelle Spectrograph (CRIRES) am Very Large Telescope (VLT) der ESO in Chile durchgeführt.[4] In einer weiteren Untersuchung mit dem CRIRES am VLT wurde die Gasproduktionsrate von HCN untersucht.[5]

In den Jahren 2003 und 2008 wurden mit dem Canadian Meteor Orbit Radar (CMOR) in Ontario zwei kräftige Tages-Meteorströme um den 31. August beobachtet, deren Bahnelemente (ausgenommen die Exzentrizität) eine große Ähnlichkeit mit denen des Kometen C/2007 W1 (Boattini) zeigten. Die Forscher sahen in beiden Fällen einen möglichen Ursprung der Meteore im Kometen Boattini, da dessen in der Vergangenheit definitiv hyperbolische Bahncharakteristik zur Zeit ihrer Untersuchung noch nicht sicher genug bekannt war. Nach den späteren Untersuchungen von Królikowska und Dybczyński (s. Kap. Umlaufbahn) kann der Komet jedoch nur für den Meteorstrom von 2008 verantwortlich sein.[6]

Umlaufbahn

Für den Kometen konnte aus 699 Beobachtungsdaten über einen Zeitraum von etwa einem dreiviertel Jahr eine hyperbolische Umlaufbahn bestimmt werden, die um rund 10° gegen die Ekliptik geneigt ist.[7] Die Bahn des Kometen verläuft damit nur leicht angestellt gegen die Bahnebenen der Planeten. Im sonnennächsten Punkt (Perihel), den der Komet am 24. Juni 2008 durchlaufen hat, war er etwa 127,1 Mio. km von der Sonne entfernt und befand sich damit im Bereich zwischen den Umlaufbahnen der Venus und der Erde. Bereits am 12. Juni hatte die größte Annäherung an die Erde bis auf etwa 0,21 AE/31,4 Mio. km stattgefunden und am darauf folgenden Tag ging er noch im Abstand von etwa 65,3 Mio. km am Merkur vorbei. An Venus und Mars fanden keine nennenswerten Annäherungen statt.

Der Komet näherte sich der Erdbahn in der Nähe des aufsteigenden Knotens seiner Bahn um den 29. Juli 2008 sogar bis auf einen sehr geringen Abstand von etwa 2,7 Mio. km an, das entspricht knapp dem 7-fachen mittleren Abstand Erde–Mond. Die Erde erreichte diese Stelle ihrer Bahn aber erst fast einen Monat später um den 26. August.

Nach den mit einer gewissen Unsicherheit behafteten Bahnelementen, wie sie in der JPL Small-Body Database angegeben sind und die keine nicht-gravitativen Kräfte auf den Kometen berücksichtigen, hätte seine Bahn vor seiner Annäherung an das innere Sonnensystem noch eine Exzentrizität von etwa 1,000047 gehabt. Durch die Anziehungskraft der Planeten, insbesondere durch mehrere relativ nahe Vorbeigänge an den großen Planeten Jupiter am 30. August 2004 in etwa 10 AE Abstand, Saturn am 26. April 2006 in etwa 1,2 AE Distanz, und noch zwei weitere Male am Jupiter, nämlich am 1. Juli 2008 in etwa 4,3 AE und am 8. Juli 2011 in etwa 8,3 AE Abstand, würde seine zukünftige Bahn eine mit elliptischer Charakteristik. Diese besäße eine Exzentrizität von etwa 0,99951 und eine Große Halbachse von etwa 1730 AE, so dass die Umlaufzeit etwa 72.000 Jahre betragen würde.[8]

In einer Untersuchung aus dem Jahr 2013 konnten Królikowska und Dybczyński jedoch unter Verwendung von insgesamt 1703 Beobachtungen des Kometen über einen Zeitraum von 13 Monaten zeigen, dass die Bahn des Kometen wesentlich besser beschrieben werden kann, wenn außer den gravitativen Einflüssen aller Planeten und den relativistischen Effekten beim nahen Vorbeiflug des Kometen an der Sonne auch nicht-gravitative Kräfte auf den Kometen durch Ausgasungseffekte berücksichtigt werden. Die beste Übereinstimmung mit den beobachteten Positionen des Kometen erhielten sie durch eine getrennte Betrachtung der Beobachtungsergebnisse vor und nach dem Periheldurchgang. Sie verwendeten dazu 926 Beobachtungen zur Bestimmung eines Satzes Bahnelemente zur Beschreibung der Kometenbahn bis zum Perihel, sowie 777 Beobachtungen zur Bestimmung eines Satzes Bahnelemente zur Beschreibung der Kometenbahn nach dem Perihel.[9] Außerdem bestimmten sie Werte für die ursprüngliche und zukünftige Bahnform lange vor bzw. nach dem Durchgang durch das innere Sonnensystem. Sie erhielten als Ergebnis, dass der Komet sich vor seiner Annäherung an die Sonne auf einer definitiv hyperbolischen Bahn mit einer Exzentrizität von etwa 1,000037 bewegte. Für die zukünftige Bahn bestimmten sie eine elliptische Charakteristik mit einer Exzentrizität von etwa 0,99953, einer Großen Halbachse von etwa 1800 AE und einer Umlaufzeit von etwa 77.000 Jahren (Unsicherheit ±6 %).[10]

In einer weiteren Untersuchung von 2015 konnten sie durch eine Simulation der Kometendynamik mit statistischen Verfahren unter zusätzlicher Berücksichtigung der Anziehungskräfte der galaktischen Scheibe und des galaktischen Zentrums, sowie gravitativ störender Sterne in der Sonnenumgebung, die Daten noch etwas optimieren, allerdings hatten diese zusätzlichen Effekte nur einen sehr geringen Einfluss, so dass die zuvor genannten Zahlenwerte näherungsweise auch hier bestätigt werden konnten. Außerdem klassifizierten sie den Kometen als „dynamisch neu“, das heißt, er kam zum ersten Mal in Sonnennähe.[11]

Bereits in der ersten Untersuchung hatten Królikowska und Dybczyński darauf hingewiesen, dass dies der einzige unter 108 von ihnen bis 2010 untersuchten Kometen mit parabelähnlichen Bahnen ist, der auch nach Elimination aller Störeinflüsse ursprünglich definitiv eine hyperbolische Bahn hatte. Auch in Verbindung mit der Untersuchung der ungewöhnlichen chemischen Zusammensetzung durch Villanueva et al. und der Untersuchung des Tages-Meteorstroms vom Jahr 2008 durch Wiegert et al. (s. Kap. Wissenschaftliche Auswertung) sahen sie dies als starkes Indiz dafür an, dass dieser Komet einen interstellaren Ursprung besitzen könnte. Dies wurde dann auch durch die zweite Untersuchung nochmals bestätigt, so dass mit den heutigen Erkenntnissen davon auszugehen ist, dass C/2007 W1 (Boattini) ein ernstzunehmender Kandidat für einen interstellaren Kometen ist, der vor etwa 2 Mio. Jahren in einem Abstand von 120.000 AE von außen kommend in die Oortsche Wolke eingedrungen ist.

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. A. Hale: 427. COMET BOATTINI C/2007 W1. In: Countdown to 500 Comets. Earthrise Institute, 28. Januar 2012, abgerufen am 19. Juli 2020 (englisch).
  2. Ch. Rollwagen: Boattini (2008). In: Astro Corner. Abgerufen am 19. Juli 2020.
  3. G. L. Villanueva, M. J. Mumma, M. A. DiSanti, B. P. Bonev, E. L. Gibb, K. Magee-Sauer, G. A. Blake, C. Salyk: The molecular composition of Comet C/2007 W1 (Boattini): Evidence of a peculiar outgassing and a rich chemistry. In: Icarus. Band 216, Nr. 1, 2011, S. 227–240 doi:10.1016/j.icarus.2011.08.024.
  4. M. Lippi: The composition of cometary ices as inferred from measured production rates of volatiles. Dissertation, Braunschweig 2010, ISBN 978-3-942171-37-3.
  5. M. Lippi, G. L. Villanueva, M. A. DiSanti, H. Böhnhardt, M. J. Mumma, B. P. Bonev, D. Prialnik: A new model for the ν1 vibrational band of HCN in cometary comae, with application to three comets. In: Astronomy & Astrophysics. Band 551, A51, 2013, S. 1–9 doi:10.1051/0004-6361/201219903. (PDF; 1,00 MB)
  6. P. A. Wiegert, P. G. Brown, R. J. Weryk, D. K. Wong: The Daytime Craterids, a radar-detected meteor shower outburst from hyperbolic comet C/2007 W1 (Boattini). In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society. Band 414, Nr. 1, 2011, S. 668–676 doi:10.1111/j.1365-2966.2011.18432.x. (PDF; 6,54 MB)
  7. C/2007 W1 (Boattini) in der Small-Body Database des Jet Propulsion Laboratory (englisch).
  8. A. Vitagliano: SOLEX 12.1. Abgerufen am 9. Juli 2020 (englisch).
  9. C/2007 W1 Boattini. Solar System Dynamics & Planetology Group, 2013, abgerufen am 24. Juli 2020 (englisch).
  10. M. Królikowska, P. A. Dybczyński: Near-parabolic comets observed in 2006–2010. The individualized approach to 1/a-determination and the new distribution of original and future orbits. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society. Band 435, Nr. 1, 2013, S. 440–459 doi:10.1093/mnras/stt1313. (PDF; 1,77 MB)
  11. P. A. Dybczyński, M. Królikowska: Near-parabolic comets observed in 2006–2010 – II. Their past and future motion under the influence of the Galaxy field and known nearby stars. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society. Band 448, Nr. 1, 2015, S. 588–600 doi:10.1093/mnras/stv013. (PDF; 967 kB)