Boberhaus

Villa Boberhaus vor 1945

Das Boberhaus, abgeleitet vom im Riesengebirge entspringenden Fluss Bober, war Volksbildungshaus und Grenzschulheim in der Stadt Löwenberg, jetzt Lwówek Slaski, damals Provinz Niederschlesien. Von 1926 bis 1937 wurde es von der Schlesischen Jungmannschaft e. V., einer fortschrittlichen und unabhängigen Organisation innerhalb der bündischen Deutschen Freischar, inhaltlich und wirtschaftlich getragen. Das Boberhaus stand jungen Menschen ungeachtet der Parteizugehörigkeit, Herkunft, Berufstätigkeit oder der Weltanschauung offen. Jene Einrichtung der Erwachsenenbildung pflegte Auslandsbeziehungen, vor allem nach Südosteuropa. In der Zeit der Weimarer Republik wurde es von Behörden aller Ebenen moralisch und finanziell unterstützt. Das nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtete Boberhaus-Archiv befand sich in Kaiserslautern und ging über in das Institut für Zeitgeschichte München. Die Internationale Jugendbegegnungsstätte Kreisau auf dem Gut um Schloss Kreisau in Krzyżowa zeigt Dokumente zur Löwenberger Arbeitsgemeinschaft und zum Wirken des Boberhaus-Kreises bis 1994 auf. Hans Poelzigs Bauzeichnungen sind in Berlin archiviert.

Geschichte

Landhaus Zwirner 1911

Im Jahr 1908 beauftragte Max Zwirner, Inhaber der Löwenberger Blücher-Apotheke, den Architekten Hans Poelzig, damals Direktor der Königlichen Kunst- und Kunstgewerbeschule Breslau, ihm ein sechsgeschossiges Wohngebäude mit Knabenpensionat zu entwerfen. Dieses wurde sodann in Hanglage gegenüber der Löwenberger Schweiz mit Blick zu Iser- und Riesengebirge errichtet und 1910 als Landhaus Zwirner eröffnet. Nachdem Bauherr Zwirner im Umfeld seltene Nadelgehölze anpflanzte, veränderte sich die Bezeichnung in Haus Fichteneck. Im Jahr 1926 erwarb die Schlesische Jungmannschaft, ihrem in Schreiberhau gefassten Beschluss folgend, die in bodenständiger Architektur errichtete Villa mit Südterrasse. Im Grundbuch wurde jenes Gebäude als Boberhaus an der Hirschberger Straße 10 eintragen, seitdem und bis heute ein historischer Begriff. Das Löwenberger Post- und Fernmeldeamt teilte das Schließfach 7 und die Rufnummer 100 zu; das Girokonto wurde bei der Städtischen Sparkasse Löwenberg errichtet. Zu Ostern 1926 beginnend wurde hier elf Jahre eine ausstrahlende Bildungs- und Erziehungsarbeit geleistet, etwa in Form von Volkshochschullehrgängen, musischer Erziehung, Freizeiten für berufstätige oder erwerbslose Jugendliche, Volkskunde, Tagungsstätte, Landheimaufenthalte oder auch Ferienschullager ausländischer Jugend. Zum Zweck der Aufsicht, Beratung und wirtschaftlicher Lenkung konstituierte sich am 1. April 1926 – wenige Stunden vor der feierlichen Eröffnung des Boberhauses – ein Kuratorium, dem führende Mitglieder der Schlesischen Jungmannschaft und maßgebliche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens angehörten, so der Oberpräsident Niederschlesiens, der niederschlesische Landeshauptmann, der Landrat und der Bürgermeister des Kreises bzw. der Stadt Löwenberg in Schlesien. Solch ehrenamtliches Gremium, wenngleich personell verändert, bestand im Zeitraum aller Jahre, in denen das Boberhaus von der Schlesischen Jungmannschaft getragen worden war. Insgesamt 40.000 Teilnehmer gingen nach festem Reglement ein und aus. Besonders nachhaltig wirkten freiwillige Arbeitslager für Arbeiter, Bauern und Studenten, die eng mit Professor Eugen Rosenstock-Huessy und seinem zwanzigjährigen Studenten Helmuth James Graf von Moltke verbunden sind. Beide wollten von Massenarbeitslosigkeit und Elend hart betroffenen Jugendlichen des Steinkohlereviers Landeshut – Waldenburg – Neurode Orientierung und Zuversicht vermitteln. Um für jene sozialpädagogischen Ziele vielfältige Kräfte zu gewinnen, gründeten Graf von Moltke, Hans Dehmel und Horst von Einsiedel nach zahlreichen Vorgesprächen am 27. Oktober 1927 die „Löwenberger Arbeitsgemeinschaft“, der u. a. Gerhart Hauptmann (Nobelpreisträger für Literatur), Heinrich Brüning (Reichstagsabgeordneter) und Gerhart von Schulze-Gaevernitz (Hochschullehrer) angehörten. Das erste Lager mit den Bestandteilen körperliche Arbeit, Vorträge und Aussprachen zu Entwicklungsfragen sportlich-kulturelle Freizeit fand vom 14. März bis 1. April 1928 für einhundert junge Männer – je ein Drittel Arbeiter, Bauern und Studenten – statt, ähnlich das Lager 1929, dann im Folgejahr auch mit jungen Frauen. Zu den erwünschten Gesprächspartnern zählte der Pädagoge und Kulturwissenschaftler Professor Adolf Reichwein.[1] Zahlreichen Trägern im In- und Ausland dienten die Löwenberger Arbeitslager als Vorbild.[2] Jedoch am 9. November 1937 enteignete die NSDAP die Schlesische Jungmannschaft und übernahm entschädigungslos das Boberhaus, fortan war es Jugendherberge der Hitler-Jugend,[3] Wehrmachtslazarett, Lager für Zwangsarbeiterinnen. Vermutlich am 12. Februar 1945, rund 35 Jahre nach Einweihung brannte das Boberhaus zur Ruine nieder. Der schreckliche Anblick besteht noch heute. Im Jahr 1949 wurde das Grundstück geteilt.

Signet des Kreisauer Kreises

Zwölf Jahre nach dem ersten Arbeitslager und knapp sechs Jahre nach Hitlers Machtergreifung begannen Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg, antifaschistisch eingestellte Freunde als Mitglieder eines Arbeitskreises um sich zu sammeln. Hitlers Sicherheitsdienst nannte diese mutigen Männer später, nach Enttarnung im Spätsommer 1944, Kreisauer Kreis. Moltke waren im Boberhaus vertrauenswürdige Personen begegnet – acht gewann er für die konspirative Mitarbeit: Carl-Dietrich von Trotha, Horst von Einsiedel, Adolf Reichwein, Hans Peters, Otto Heinrich von der Gablentz, Fritz Christiansen-Weniger, Theodor Steltzer, Hans Lukaschek. Ihr Aufbegehren unter Einsatz des Lebens bestand im Vordenken für ein demokratisches Deutschland nach Kriegsende. Dies wurde am 9. August 1943 im Berghaus Kreisau, Moltkes Besitz, als Grundsätze für die Neuordnung festgeschrieben.[4] Das Boberhaus in Löwenberg/Schlesien ist dafür prägende Vorstufe gewesen.[5]

Die Vereine LTR Lwówek Slaski und Städtepartnerschaftsverein Heidenau realisierten von 2017 bis 2020 ihr Projekt Vier Gedenktafeln für das Boberhaus. Am Ende des Kooperierens kam die Idee auf, das Boberhaus noch einmal zu bauen als Europäische Jugendbegegnungsstätte. Zunächst aber entstand ein detailgetreues Boberhaus-Modell 1/87. Es wird für Ausstellungs- und Werbezwecke verwendet.

Boberhaus-Modell

Leiter des Boberhauses

  • 1926–1927 Gerhard Klau (1898–1950), unterstützt durch[6]:
    • Ernst Seeliger (1885–1947) und
    • Roman Kapuste (1895–1983)
  • 1928–1929 Hans Dehmel (* 1896)
  • 1930–1932 Hans Raupach (1903–1997)
  • 1932–1933 Georg Keil (1905–1990)
  • 1933 bis zur Liquidierung 1937: Walter Greiff (* 1903)

Literatur

  • Kurt Ballerstedt / Artur von Machui / Gerhard Klau: Denkschrift über die Errichtung eines Grenzschulheims in Schlesien. 1926
  • Eugen Rosenstock-Huessy: Hochschule und Arbeitslager. In: Schlesische Hochschulblätter 2, 1927, S. 17–19; Das Arbeitslager für Jungarbeiter, Jungbauern und Jungakademiker in Löwenberg vom 14.–31. März 1928. Freie Volksbildung (Neue Folge des Archivs für Erwachsenenbildung) 3, 1928: S. 217–224.
  • Artur von Machui: Aus unserer Gründungszeit. In: Die Volksgruppe. Beiträge zum schlesischen Volksbildungswerk. Frühjahr 1928, S. 2–4.
  • Adolf Reichwein: Ein Arbeitslager. In: Volkshochschulblätter für Thüringen, 10, 1928–29, H. 1, S. 14–19.
  • Ullrich Amlung, Nicole Hoffmann, Bettina Irina Reimers: Adolf Reichwein und Fritz Klatt. Ein Studien- und Quellenband zu Erwachsenenbildung und Reformpädagogik in der Weimarer Republik. Juventa, Weinheim 2008, S. 79–86.
  • Eugen Rosenstock und Carl-Dietrich von Trotha (Hrsg.): Das Arbeitslager. Berichte aus Schlesien von Arbeitern, Bauern, Studenten. Eugen Diederichs, Jena 1931, S. 87–116.
  • Klaus Bergmann, Günther Frank: Bildungsarbeit mit Erwachsenen. Handbuch für selbstbestimmtes Lernen. Rowohlt, Reinbek 1977, S. 44–60 („Das Dritte Lager“ und „Stimmen“).
  • Georg Keil: Gelebte Koexistenz im Boberhaus. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 10, 1978, S. 117–129.
  • Walter Greiff: Das Boberhaus in Löwenberg/Schlesien 1933–1937. Selbstbehauptung einer nonfonformen Gruppe. Thorbecke, Sigmaringen 1985.
  • Peter Dudek: Erziehung durch Arbeit. Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920–1935. Leske & Budrich, Opladen 1988.
  • Johann Georg Keil, Hans Dehmel u. a.: Vormarsch der Arbeitslagerbewegung. Geschichte und Erfahrung der Arbeitslagerbewegung für Arbeiter, Bauern, Studenten 1925–1932. Hrsg. Deutsches Studentenwerk. Reihe: Studentenwerk-Schriften Bd. 6; de Gruyter, Berlin 1932
  • Walter Greiff, Rudolf Jentsch, Hans Richter (Hrsg.): Gespräch und Aktion in Gruppe und Gesellschaft 1919–1969. Für Hans Dehmel im Auftrage des Boberhauskreises. Reihe: Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung, Band 14. Dipa, Frankfurt 1970.
  • Jerzy Ilkosz und Beate Störtkuhl: Hans Poelzig in Breslau. Architektur und Kunst 1900 - 1916; Aschenbeck und Holstein Verlag 2000, ISBN 3-932292-30-8
  • Theodor Effenberger: Von schlesischer Baukunst. Schlesische Heimat-Blätter 13/1911, S. 343 f.
  • Georg Keil unter Mitarbeit von Hans Dehmel, Richard Gothe und Hans Raupbach: Vormarsch der Arbeitslagerbewegung. Geschichte und Erfahrung der Arbeitslagerbewegung für Arbeiter, Bauern und Studenten 1925 bis 1932; Herausgeber Deutsches Studentenwerk, Berlin und Leipzig 1932
  • Peter Nasarski (Hrsg.): Deutsche Jugendbewegung in Europa. Versuch einer Bilanz. Textbeiträge von Gerhard Albrich, Hans Christian Brandenburg, Hans Christ, Hans Dehmel, Karl Epting, Rolf Gardiner, Rüdiger Goldmann, Sepp Großschmidt, Bernhard Heister, Willi Horak, Augustinus K. Huber, Wilhelm Jesser, Toni Kaser, Rudolf Kneip, Helmut Neumann, Kurt Oberdorffer, Erich Scholz, Elimar Schubbe, Friedrich Spieser-Hünenburg, Arved von Taube, Karl Thums, Erhard Wittek. Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1967.
  • Jürgen von der Trappen: Die schlesische Jungmannschaft in den Jahren von 1922 bis 1932. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung, auch Ferienschullager ausländischer Jugend. Dissertation phil. Gesamthochschule Essen 1996 S. 116 ff.
  • Günter Brakelmann: Christsein im Widerstand: Helmuth James Graf von Moltke. Einblicke in das Leben eines jungen Deutschen, Berlin 2008
  • Günter Brakelmann, Helmuth James Graf von Moltke. Chronologie seines Lebens im Kontext der deutschen politischen Geschichte und der Geschichte des Widerstands, Herausgeber: von der Hans-Ehrenberg-Gesellschaft, Hartmut Spenner Verlag Kamen 2020
  • Kurt Finker: Graf Moltke und der Kreisauer Kreis, 2. überarbeitete Auflage, Berlin (DDR) 1980
  • Ulrich Amlung: Adolf Reichwein 1898 – 1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers (2 Bände), dipa-Verlag Frankfurt am Main 1991
  • Von schlesischer Baukunst. Bauten Poelzigs. In: Schlesische Heimat-Blätter. Zeitschrift für Schlesische Kultur, Heft 13, 1. Aprilheft 1911, Hrsg. Otto Reier Hirschberg
  • Klaus Philippi: Die Genese des Kreisauer Kreises. Dissertation phil. an der Philosophischen Fakultät der Universität Stuttgart 2012.
  • Moltke-Stiftung Berlin: Moltke Almanach, Herausgeber Moltke-Stiftung Berlin 1984, Band 1: DIe Herkunft der Mitglieder des engeren Kreisauer Kreises. Das biografische und genealogische Bild einer Widerstandsgruppe.
  • Reinhard Amlacher: Verwunderbare Jahre; Band II, Selbstverlag Bürgel 2020

Weblinks

Commons: Boberhaus – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Ulrich Amlung: Adolf Reichwein 1898 – 1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers (2 Bände), dipa-Verlag Frankfurt am Main 1991
  2. Jürgen von der Trappen: Die schlesische Jungmannschaft in den Jahren von 1922 bis 1932. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Dissertation phil. Gesamthochschule Essen 1996.
  3. Kurt Finker: Graf Moltke und der Kreisauer Kreis, 2. überarbeitete Auflage, Berlin (DDR) 1980
  4. Günter Brakelmann, Helmuth James Graf von Moltke. Chronologie seines Lebens im Kontext der deutschen politischen Geschichte und der Geschichte des Widerstands, Bochum.
  5. Städtepartnerschaftsverein Heidenau; Archiv Werner Guder
  6. Peter Dudek: Erziehung durch Arbeit: Arbeitslagerbewegung und freiwilliger Arbeitsdienst 1920–1935. Springer-Verlag, Wiesbaden 1988, ISBN 978-3-663-12096-4, S. 131 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).

Koordinaten: 51° 6′ 14,7″ N, 15° 35′ 39,1″ O

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Der „Kreisauer“ Carlo Mierendorff (1897 – 1943) gab 1942 die Anfertigung dieses politischen Erkennungszeichens auf gelbem Untergrund in Auftrag, ausgeführt von Harro Siegel. Das schwarze Kreuz symbolisiert die überkonfessionell-christliche Grundhaltung der mutigen Männer um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg. Für brüderlichen und sozialen Zusammenhalt der Menschen guten Willens steht der rote Kreis.
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Landhaus Zwirner Winter 1911: Der schlesische Architekt Theodor Effenberger ( Hans Poelzigs Kollege) verüffentlichte in Schlesische Heimat-Blätter. Zeitschrift für Schlesische Kultur, Verlag Reier Hirschberg, Heft 13, 1. Aprilheft 1911, S. 342 ff, seinen Aufsatz "Von schlesischer Baukunst Bauten Poelzigs", Landhaus Zwirner im Winter
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