Interne Vertreibung
Intern Vertriebene, auch Binnenvertriebene oder Binnenflüchtlinge (aus dem Englischen internally displaced people/IDPs), sind Personen, die gewaltsam aus ihrer angestammten und rechtmäßigen Heimat vertrieben wurden, bei ihrer Flucht – im Unterschied zu Flüchtlingen im rechtlichen Sinn – keine Staatsgrenze überschritten haben und im eigenen Land verblieben sind. Gründe für diese interne Vertreibung sind bewaffnete Konflikte, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen und Naturkatastrophen.
Rechtsstellung und Situation
Status und Schutz von Binnenvertriebenen sind völkerrechtlich nicht klar geregelt. Die Genfer Flüchtlingskonvention, die die völkerrechtliche Grundlage für den Schutz politisch Verfolgter bildet, erstreckt sich nicht auf Binnenflüchtlinge. Es gibt auch keine andere internationale Konvention zum Schutz der intern Vertriebenen, keine internationale Organisation (wie das UNHCR für Flüchtlinge) mit einem klaren UN-Mandat zu ihrem Schutz und auch keine rechtliche Definition des Begriffs. Die Leitlinien des UN-Sonderbeauftragten zum Schutz der Menschenrechte Intern Vertriebener stellen einen internationalen Standard zum Schutz und zur Unterstützung der Betroffenen dar und werden von vielen Hilfsorganisationen und Regierungen respektiert, sind jedoch nicht im Sinne internationalen Rechts verbindlich.
Das UNHCR setzt sich auf Anfrage der betreffenden Regierung oder der UN-Generalversammlung auch für den Schutz von Binnenvertriebenen ein.
In Afrika gibt es die am 6. Dezember 2012 in Kraft getretene, verbindliche Kampala-Konvention, die in ihrer Definition von Binnenvertriebenen mit den Leitlinien der Vereinten Nationen übereinstimmt.[1][2]
Manche Binnenvertriebene leben in Lagern, andere in städtischen Slums oder auch in der freien Natur. Oft verbleiben sie dabei innerhalb oder in der Nähe eines Konfliktgebietes. Damit ist ihre Sicherheitslage schlechter als diejenige von Flüchtlingen und internationale Organisationen haben größere Schwierigkeiten, sie zu unterstützen. Während Anfang der 2010er Jahre die meisten Binnenvertriebenen in Lagern in ländlichen Gebieten lebten, lebten Ende 2019 doppelt soviele in städtischen oder halbstädtischen Gebieten wie in ländlichen.[3]
Vertreibungsgründe
Gewaltsame Vertreibungen werden aus verschiedenen Gründen und von diversen Akteuren durchgeführt. Der wichtigste Grund für interne Vertreibung sind bewaffnete Konflikte, bei denen die Zivilbevölkerung zwischen die Fronten der sich bekämpfenden Parteien gerät. Zum Teil wird Vertreibung auch gezielt als Mittel eingesetzt, um Angehörige bestimmter ethnischer oder religiöser Gruppen oder tatsächliche oder angebliche politische Gegner aus einem Gebiet zu entfernen, wie es etwa in Myanmar/Burma (vgl. Bewaffnete Konflikte in Myanmar), Kenia nach den Wahlen 2007 und Irak geschah. Insbesondere in Kolumbien wurden Menschen durch paramilitärische Gruppen oder durch linke Guerilla vertrieben, um ihr Land zu rauben und es für den Anbau von Drogen zu nutzen oder Großinvestoren der Agrarindustrie zugänglich zu machen. Auch in Honduras, Guatemala und El Salvador sind organisierte Kriminalität im Zusammenhang mit Drogenhandel und Bandenaktivitäten Ursachen für interne Vertreibung.[4]
Neben Konflikten verursachen auch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben interne Vertreibungen, die Millionen Menschen betreffen können. Jüngere Beispiele sind die Überschwemmungskatastrophe in Pakistan 2022, die Überschwemmungen am Horn von Afrika 2023 und das Erdbeben in der Türkei und Syrien 2023.[5][6] Durch die globale Erwärmung werden extreme Wetterereignisse häufiger, die zudem eine höhere Intensität aufweisen.[7]
Entwicklung in Zahlen
Die Zahl der Binnenflüchtlinge weltweit wurde 1998 auf rund 20 Millionen geschätzt. Seitdem stieg sie bis Ende 2023 auf 75,9 Millionen.[8]
Anzahl der intern Vertriebenen nach IDMC[5][6] | Anzahl der internen Vertreibungen (auch mehrfache Bewegungen) durch Gewalt und Konflikte (lila) und Naturkatastrophen (grün) nach IDMC[5][6] |
2014 bis 2022
2014 lag die Zahl der weltweiten Binnenflüchtlinge bei rund 38 Millionen.[9] Das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) in Genf schätzte in ihrem Jahresbericht 2020 die Zahl intern Vertriebener Ende 2019 auf 50,8 Millionen, so viele wie nie seit Beginn der Berechnungen. Das waren 12,8 Millionen mehr als 2015. Die dramatischste Entwicklung durchlebten solche Staaten wie Syrien mit 5,6 Millionen Binnenvertriebenen und die Demokratische Republik Kongo mit 5,5 Millionen Binnenvertriebenen.[10]
Das IDMC berichtete von 55 Millionen intern Vertriebenen im Jahr 2020 und 59,1 Millionen im Jahr 2021.[11]
Für das Jahr 2022 betrug allein die Zahl der aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 intern Vertriebenen in der Ukraine laut UNHCR im Mai 2022 mehr als 7 Millionen.[12] Die Anzahl der weltweiten Binnenflüchtlinge erreichte mit 71,1 Millionen nach dem ICDM einen neuen Höchststand. Davon waren 62,5 Millionen durch Gewalt und Konflikte und die restlichen 8,7 Millionen durch Naturkatastrophen wie insbesondere der Überschwemmungskatastrophe in Pakistan verursacht.[6]
2023
Ende 2023 stieg die Zahl der Binnenflüchtlinge laut dem IDMC global auf 75,9 Millionen, davon wurden 68,3 Millionen durch Gewalt und Konflikte vertrieben und 7,7 Millionen durch Naturkatastrophen. Die Anzahl der Binnenflüchtlinge durch Gewalt und Konflikte war im Sudan (9,1 Millionen), Syrien (7,2 Millionen) und der Demokratischen Republik Kongo (6,7 Millionen) am höchsten, während es die meisten Binnenflüchtlinge durch Naturkatastrophen in Afghanistan (1,5 Millionen), Pakistan (1,2 Millionen) und Äthiopien (881.000) gab. In den fünf Jahren von 2019 bis 2023 stieg die Anzahl der Binnenflüchtlinge um rund 50 Prozent. Fast die Hälfte der Binnenflüchtlinge weltweit befanden sich in den Ländern Sudan, Syrien, DR Kongo, Kolumbien und Jemen. 2023 stieg die Zahl insbesondere durch neue bzw. weiter eskalierende Konflikte in Äthiopien, in der Demokratischen Republik Kongo, im Sudan, in Palästina und in der Ukraine. Im Vergleich zu 2022 ging jedoch die im Laufe des Jahres verzeichneten internen Vertreibungen aufgrund von Gewalt und Konflikten um 28 Prozent zurück, was vor allem auf weniger Bewegungen in der Ukraine zurückzuführen ist. Eine Rekordzahl an durch Naturkatastrophen Vertriebenen wurde in Nordafrika und im Nahen Osten verzeichnet, die insbesondere auf eine Reihe verheerender Erdbeben in der Region zurückgingen. Diese waren vor allem das Erdbeben in der Türkei und Syrien der Magnitude 7,8 am 6. Februar 2023, das rund 4,7 Millionen Personen vertrieb, und das Erdbeben in Marokko der Magnitude 6,8 am 8. September 2023. Die Überschwemmungen am Horn von Afrika verursachten zudem 2,9 Millionen Binnenvertreibungen, jedoch nahm die Anzahl der Vertreibungen durch wetterbedingte Naturkatastrophen insgesamt im Vergleich zum Vorjahr ab.[5]
Literatur
- Michaela Ludwig, Andreas Rister: Vertreibung von Kindern verhindern!. Terre des Hommes. ISBN 3-924493-65-0
- Internal Displacement: A Global Overview of Trends and Developments in 2014 (Mai 2015) (PDF-Datei; 4,6 MB)
- Leitlinien betreffend Binnenvertreibungen, Vereinte Nationen, Bericht des Beauftragten des Generalsekretärs Francis Deng, E/CN.4/1998/53/Add.2 (11. Februar 1998) (PDF-Datei; 133 kB)
- UNHCR-Zeitschrift „Flüchtlinge“ zu Binnenvertriebenen (PDF-Datei; 1016 kB)
- Handbook for the Protection of Internally Displaced Persons, Global Protection Cluster Working Group (Dezember 2007) (PDF-Datei)
Weblinks
- Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC)
- 25 years of progress on internal displacement 1998-2023. (PDF; 15,1 MB) Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), 2. Oktober 2023 (englisch).
- Internally Displaced People. UNHCR (englisch).
- IDP Voices Lebensgeschichten von Binnenvertriebenen (Audio und Text)
- Forced Migration Review
Einzelnachweise
- ↑ Britta Nümann: Rechtliche Schutzmöglichkeiten für "Klimaflüchtlinge". Bundeszentrale für politische Bildung, 21. Januar 2019, abgerufen am 18. Mai 2024.
- ↑ Kampala Convention. (PDF; 1,56 MB) Afrikanische Union, 2009, abgerufen am 18. Mai 2024 (englisch).
- ↑ Global Trends. Forced displacements in 2019. UNHCR, S. 33, abgerufen am 18. Mai 2024 (englisch).
- ↑ Conflict and violence. Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), abgerufen am 16. Mai 2024 (englisch).
- ↑ a b c d 2024 Global Report on Internal Displacement. (PDF; 25,3 MB) Internal Displacement Monitoring Centre, 2024, abgerufen am 16. Mai 2024 (englisch).
- ↑ a b c d 2023 Global Report on Internal Displacement (GRID). (PDF; 19,7 MB) Internal Displacement Monitoring Centre, 2023, abgerufen am 16. Mai 2024 (englisch).
- ↑ Displacement, disasters and climate change. Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), abgerufen am 16. Mai 2024 (englisch).
- ↑ 25 years of progress on internal displacement 1998-2023. (PDF; 15,1 MB) Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), 2. Oktober 2023, abgerufen am 16. Mai 2024 (englisch).
- ↑ Binnenflüchtlinge weltweit 2014. In: kurier.at. 6. Mai 2015, abgerufen am 16. Mai 2024. mit Grafik
- ↑ 2020 Global Report on Internal Displacement. Abgerufen am 11. Juni 2020.
- ↑ Global Report on Internal Displacement 2022. Internal Displacement Monitoring Centre, 2022, abgerufen am 6. Juni 2022 (englisch).
- ↑ Ukraine emergency. In: unhcr.org. 22. Mai 2022, abgerufen am 6. Juni 2022 (englisch).
Auf dieser Seite verwendete Medien
Sudan: Konflikt und Vertreibung seit 15. April 2023
Autor/Urheber: Julien Harneis, Lizenz: CC BY-SA 2.0
"I was on the outskirts of Kibati camp to oversee our emergency measles vaccination. It was in the same location as an ICRC WFP food distribution. We heard shooting the other side of the camp less than a kilometer away, single shots and automatic for about 15 minutes. People fled the distribution, ran to the camp picked up their belongings and hurried down the hill to Goma. A crowd gathered around an abandoned food truck and started to loot it until government military police came in to restore order. As we drove back more than 200 very tense government troops trudged up the hill, announcing worse to come." - author
Democratic Republic of the Congo | Population Displacement
Binnenflüchtlinge 2021