Biblisches Aramäisch

Das biblische Aramäisch ist eine Ausprägung der aramäischen Sprachen, wie sie an einigen Textstellen des Tanach bzw. des Alten Testaments statt des Hebräischen verwendet wird. Der Begriff umfasst Sprachformen aus verschiedenen Jahrhunderten, die sich geringfügig unterscheiden. Das biblische Aramäisch ist nicht zu verwechseln mit den in späterer Zeit entstandenen Targumim, aramäischen Übersetzungen ursprünglich hebräischer oder griechischer Bibeltexte.

Schrift

Das biblische Aramäisch benutzt in den von den Masoreten überlieferten Texten die hebräische Schrift, das heißt:

  • Es wird von rechts nach links geschrieben.
  • Ursprünglich gibt es Buchstaben lediglich zur Darstellung von Konsonanten.
  • Mehr oder weniger systematisch können vier dieser Buchstaben als matres lectionis benutzt werden, um einen Vokal anzudeuten.
  • Die übrigen (vor allem die kurzen) Vokale wurden überhaupt nicht graphisch ausgedrückt und erst von den Masoreten im Mittelalter durch ein System aus Punkten und Strichen über und unter den unverändert bleibenden Konsonantenzeichen ergänzt.
    Auf dieser Seite wird die folgende Umschrift für Konsonanten verwendet:
Hebräischer Buchstabe
(Hebräischer Name)
UmschriftLautschrift (IPA)
א (Alef)ʔ = 'Alef'[ʔ] (Knacklaut = Glottisverschluss) *
ב (Bet)b / B[b / v]
ג (Gímel)g / G[g / γ]
ד (Dálet)d / D[d / ð]
ה (He)h[h]
ו (Waw)w? [w] (englisches 'w')
ז (Zájin)z[z] (stimmhaftes 's')
ח (Ħet)ħ[ħ] (pharyngales 'h')
ט (Ŧet)ŧ[tˁ] (emphatisches 't')
י (Jod)j[j]
כ = ך... (Kaf)k / K[k / x]
ל (Lamed)l[l]
מ = ם... (Mem)m[m]
נ = ן... (Nun)n[n]
ס (Sámech)s[s]
ע (Áyin)ʕ = 'Ajin'[ʕ] (pharyngalisierter Glottalverschluss)
פ = ף... (Pe)p / P[p / f]
צ = ץ... ((T)sadé)cemphatisches s
ק (Qof)q[q] (uvulares 'k')
ר (Resch)r[r]
שׁ :ש (Schin)š[ʃ] (deutsches 'sch')
שׂ :ש (Sin)ś? [s]
ת (Tau)t / T[t / θ]

(*) Um eine Verwechslung zwischen den IPA-Zeichen (für Glottisverschluss ~ Alef) und [ʕ] (für pharyngalisierten Glottisverschluss ~ Ayin) zu vermeiden, wird ersteres Zeichen im Folgenden hochgestellt (ʔ).

Zu beachten ist ferner:

  • Einige hebräische Buchstaben (k, m, n, p, c) haben am Wortende eine andere graphische Form; diese wird in Spalte 1 nach dem Gleichheitszeichen gegeben.
  • Die Aussprache der Plosive b, d, g, p, t, k hängt von ihrer Position im Wort ab: nach Vokal werden sie oft spirantisch, d. h. [v, ð, γ, f, θ, x] gesprochen. Die spirantische Aussprache wird in der hier verwendeten lateinischen Umschrift der aramäischen Schriftzeichen durch Großbuchstaben (B, D, G, P, T, K) ausgedrückt.
  • ה (He) am Wortende wird nicht immer ausgesprochen; in punktierten Texten wird ausgesprochenes [h] durch einen Punkt markiert: הּ.
  • Die Buchstaben י ,ו ,ה ,א (Aleph, He, Waw, Jod) dienen auch zur Andeutung von Vokalen, sie haben dann eine andere Aussprache als in der Tabelle angegeben ist:
    • א (Aleph) steht für einen beliebigen lange Vokal, am Wortende meist /â/.
    • ה (He) bezeichnet am Wortende [a:], [e:], [æ:] oder [o:].
    • י (Jod) bezeichnet [i:], [e:] oder [æ:].
    • ו (Waw) bezeichnet [o:] (punktiert: וֹ) oder [u:] (punktiert: וּ).
  • Steht am Wortende ein ח (Ħet) oder ע (Ajin), dem ein anderer Vokal als â (ָ) vorausgeht, wird ein kurzes [a] eingeschoben: Das Wort רוח (RWĦ) „Wind, Geist“ beispielsweise wird [ru:aħ] gesprochen und in punktierter Schreibweise als רוּחַ (!) dargestellt.
  • Langes /â/ (ָ) wird wie in der askenasischen Aussprache des Hebräischen als [ɔ:] (das ist offenes 'o') gesprochen.
  • Auskunft über die Aussprache der masoretischen Vokalzeichen gibt die Seite Masoretische Vokalisation. Als Umschrift für Vokalzeichen und Kombinationen gilt im Folgenden:
    • אַ /a/, אֲ /a/
    • אָ /â/ ([ɔ:]), אֳ/o/
    • אֶ /æ/, אֱ /æ/
    • אֵ /e/, אֵי /ê/, אְ (Schwa) /e/
    • אִ /i/, אִי /î/
    • אֹ /o/, וֹ /ô/
    • אֻ /u/,וּ /û/
    • Das Schwa-Zeichen ( אְ /e/) kann nach bestimmten Silbengesetzen auch anzeigen, dass ein Konsonant von gar keinem Vokal gefolgt wird!
  • Die Betonung liegt meistens auf der letzten Silbe; bei Wörtern aus drei und mehr Silben gibt es häufig eine Nebenbetonung mit mindestens einer Silbe Abstand zur Hauptbetonung.

Grammatik

Lautgesetze

  1. Spirantisierung: Die nicht-emphatischen Plosive werden nach Vokal meist zu Spiranten: b→[v], d→[ð], g→[γ], p→[f], t→[θ], k→[x]; dies geschieht auch wortübergreifend in engen Wortverbindungen (die bei den Masoreten durch einen hochgestellten Strich ¯ markiert werden) und sogar dann, wenn der die Spirantisierung hervorrufende Vokal selbst nicht mehr gesprochen wird. Zumindest für t gilt die Aussprache [θ] im Wortinnern auch nach j.
  2. Patach Furtivum: Vor auslautendem Ħet (ח) oder Ayin (ע) wird – nach einem anderen Vokal als â – ein zusätzliches [a] eingeschoben: /rûħ/ = ['ru:aħ].
  3. Glottisverschluss ([ʔ]) am Silbenende schwindet unter Ersatzdehnung: /aʔ./ > ā, /iʔ./ > ē.
  4. Geminierte Konsonanten werden im Auslaut vereinfacht.
    1. n wird oft dem Folgekonsonanten assimiliert; Gemination entsteht häufig durch Einschub eines n.
    2. Geminierte Konsonanten werden oft vor einem Schwa zu einem einfachen Konsonanten und das Schwa entfällt dann.
  5. /jī/ > ʔi
  6. Kurze Vokale werden vor auslautendem Resch, Ħet oder Ayin zu /a/.

Verben

Konjugation im Aorist:

PersonQal AktivHitpe´el:
ich* ʔi-KtuBʔiT-keTiB
du (m.)ti-KtuBtiT-keTiB
erji-KtuBjiT-keTiB
sie=du (m.)=du (m.)
wirni-KtuBniT-keTiB
ihr (m.)ti-KteB-ûntiT-kaTB-ân
sie (m.)ji-KteB-ûnjiT-kaTB-ûn
sie (m.)ji-KteB-ânjiT-kaTB-ân

Textstellen

In aramäischer Sprache sind folgende Stellen des Alten Testaments verfasst (mit zunehmendem Alter):

  • Daniel 2,4b bis 7,28.
  • Esra 4,8 bis 6,18 und Esra 7,12 bis 7,26.
  • Jeremia 10,11.
  • 1. Mose (Genesis) 31,47.

Eventuell aramäisch könnten sein:

  • 1. Mose (Genesis) 15,1.
  • 4. Mose (Numeri) 23,10.
  • Hiob 36:2a.

Jeremia 10,11

  • In hebräischen Schriftzeichen: כדנה תאמרון להום אלהיא די¯שמיא וארקא לא עבדו יאבדו מארעא ומן¯תחות שמיא
  • Umschrift: kdnh tʔmrwn lhwm ʔlhjʔ di-šmjʔ wʔrqʔ lʔ ʕbdw jʔbdw mʔʔ wmn-tħwt šmjʔ
  • Phoneme: /kidnā temrūn lehōm ʔælāhajjā dīšmajjā weʔrqā lā ʕabdū meʔarʕā ūmin-teħōt šemajjā/
  • Aussprache: [kiðˈnɔ: ˌtemˈru:n ləho:m ʔæˌlɔ:hajˈjɔ: ˌdi:šmajˈjɔ: wəʔarˈqɔ: lɔ: ʕavˈðu: jevˈðu: ˌmeʔarˈʕɔ: u:mintəˈχo:θ šəmajˈjɔ:]
  • Wörtliche Übersetzung: So sagt zu ihnen: Götter, welche den Himmel und die Erde nicht machten, werden vertilgt von der Erde und von unter dem Himmel
  • Übersetzung nach Luther (revidiert 1912): „So sprecht nun zu ihnen also: Die Götter, die Himmel und Erde nicht gemacht haben, müssen vertilgt werden von der Erde und unter dem Himmel.“

Anschließend folgt ein nicht in die Übersetzungen übernommenes hebräisches אלה ʔel:æ:] „dies“ in der Bedeutung: „soweit [reicht die aramäische Glosse]“.

Genesis 31,47

Dieser Vers lautet nach Luther (revidiert 1984): „Und Laban nannte ihn Jegar-Sahaduta, Jakob aber nannte ihn Gal-Ed.“ Labans Bezeichnung „Jegar-Sahaduta“ ist Aramäisch für „Steinhaufen des Zeugnisses“:

  • In hebräischen Schriftzeichen: ...יגר שהדותא...
  • Phoneme: /jegar śāhadūtā/
  • Aussprache: [jəˈγar ˌsɔ:haðu:ˈθɔ:]
  • Wörtliche Übersetzung: Steinhaufen Zeugnis.das (Zeugnis=שַׂהֲדוּ/)

Jakobs Bezeichnung „Gal-Ed“ (גל עד) bedeutet „Steinhaufen des Zeugen“ (Steinhaufen, der als Zeuge dient) auf Hebräisch.

Hiob 36,2a

  • In Quadratschrift: כתר־לי זעיר ואחוך
  • Aussprache laut den Masoreten: [kat:ar li: zəʕe:r waʔaħaw:æxɔ:]
  • Übersetzung nach Luther (1912): „Harre mir noch ein wenig, ich will dir's zeigen“.

Dieser Vers ist nach Rashi's Kommentaren aramäisch. Die Lemmata KTR „bleiben, erwarten“ und ĦWH „anzeigen, verkünden“ sind aramäisch; LJ „mir“ und ZʕJR „klein (aram.), ein wenig (hebr.)“ können beiden Sprachen entstammen.

Numeri 23,10

Der erste Teil dieses Verses lautet nach Luther (1912): „Wer kann zählen den Staub Jakobs und die Zahl des vierten Teils Israels?“
Das vorletzte Wort, רבע /roBaʕ/, wird gewöhnlich als „Viertel“ übersetzt; in Rabbi Joseph Hertz’ Kommentaren zu diesem Vers zitiert er einen unbekannten Schüler, der hierin ein aramäisches Wort für „Staub“ lesen will, und fügt eine Feststellung von Benno Jacob hinzu, wonach auch im Aramäischen der palästinensischen Christen das Wort רבע gleichbedeutend mit „Staub“ ist.

Genesis 15,1

Der erste Teil dieses Verses lautet nach der 'Neuen evangelistischen Übersetzung': „Nach diesen Ereignissen empfing Abram folgende Botschaft Jahwes in einer Vision“.
Das vorletzte Wort במחזה /ba-maħaze/ „in einem Gesicht“ ist laut Zohar (I:88b) aramäisch, denn auf Hebräisch müsste es במראה (ba-marʔe) lauten.

Sprachvergleiche

Biblisches Aramäisch diachron

  • Jeremia 10, 11 verwendet das ältere אַרְקָאʔarqɔ:] statt des jüngeren אַרְעָאʔarʕɔ:] in Daniel und Esra.
  • Die Form הימּוֹן [him:o:n] sie (3. Pl. m.) bei Daniel scheint jünger als הימּוֹ [him:o:] bei Esra zu sein.
  • Esra verwendet ältere Possessivsuffixe als Daniel:
    • Bei Esra: כֹם... /kom/ euer (2. Pl. m.) > bei Daniel: כוֹן... /kôn/.
    • Bei Esra: הֹם... /hom/ neben jüngerem הוֹן... /hôn/ ihr (3. Pl. m.) > bei Daniel steht nur letztere Form.

Biblisches Aramäisch und Hebräisch

Gemeinsamkeiten

  • Es gibt die gleichen Laute und ähnliche Lautgesetze (z. B. Patach Furtivum und Chateph-Vokale).
  • Es gibt zwei Aspekte: Imperfekt und Perfekt, mehrere Stammformen und sowohl vorangestellte als auch angehängte Personensuffixe.
  • Es gibt einen bestimmten, aber keinen unbestimmten Artikel.
  • Es gibt keine Deklination nach Kasus mehr.
  • Einige vorangestellte Präpositionen und Partikeln verschmelzen mit dem nachfolgenden Wort und verändern sich dabei (/wa/ „und“, /be/ „in“, /ke/ „wie“ und andere).
  • Possessiv- und Personalpronomen als Objekt werden durch Suffixe ausgedrückt.
  • Es gibt die drei Numeri Singular, Plural und Dual.
  • Bei den Personalpronomen und Personensuffixen wird auch in der 2. Person (du/ihr) zwischen männlich und weiblich unterschieden.
  • Am Wortende schwankt im Aramäischen die Schreibweise zur Darstellung eines /â/ zwischen א und ה.

Unterschiede

  • Der Hebräische definite Artikel ist ein Präfix (/ha.../), der aramäische ein Suffix (/...â/).
  • Das Aramäische entwickelte aus dem protosemitischen Relativpronomen /*ðî/ eine Partikel für Genitivkonstruktionen.
  • Im Status Absolutus verlieren weibliche Substantive mit einer besonderen Femininendung das auslautende /t/.
  • Auslautendes m wird im Aramäischen in immer mehr Morphemen n.
  • Einige ähnliche Wörter (aramäisch ~ hebräisch): אֱלָהּ /ælâh/ ~ אֱלוֹהַ /æˈlôah/ (häufiger ist hebräisch אֵל /el/) „Gott“, טָב /ŧâB/ ~ טוֹב /ŧôB/ „gut“, שְׁמַיָּא emajjâ/ ~ שָׁמַיִמ /šâˈmajim/ „Himmel“, שְׁמֵשׁ emeš/ ~ שֶמֶשׁ /ˈšæmæš/ „Sonne“.

Lautentsprechungen

In gewissen Fällen entsprechen sich die folgenden aramäischen, hebräischen und arabische Laute (teilweise ist der gemeinsame ursemitische Ursprung mit angegeben):

AramäischHebräischBeispiel AramäischBeispiel HebräischBeispiel ArabischBedeutung
/t/ < ursem. *θ/š/תּוֹר tôr
יתב jeTiB
שׁוֹר šôr
ישׁב jâšaB
ثَوْرٌ ṯawr

وثب waṯaba (Altsüdarabisch)[1]

Rind
er setzte sich
/d/ < ursem. *ð/z/דהב dehaB
דבח deBaħ
זהב zâhâB
זבח zâBaħ
ذَهَبٌ ḏahab

ذَبَحَ ḏabaḥa

Gold
er opferte
/ŧ/ < ursem. *θ´/c/קיט qájiŧ
נטר neŧar
קיץ qájic
נצר nâcar
قَيْظ qaiẓ

ناصَرَ nāṣara

Sommer
er bewahrte
/ʕ/ < ursem. *ð´/c/ארעא arʕ-â (*)
רעע Rʕʕ
הארץ hâ-ˈâræc
רצץ RCC
أَرْض arḍ

رَضَّ raḍḍa

die Erde
zertrümmern
Kurzvokal < ursem. kurze
geschlossene betonte Endsilbe
Langvokalדְּהַב dehâB
< ursem. *ðahab
זָהָב zâhâBذَهَبٌ ḏahabGold
Schwa/Chateph-Vokal
< ursem. kurze Vortonsilbe
Langvokalעֲלַע ʕalaʕ
< ursem. *ð´ilaʕ
צֵלָר celâʕضِلْع ḏilʕRippe
â
< ursem. betontes â
ôתְּלָת telâT
< ursem. *θalâθ
שָׁלוֹשׁ šâlôšثَلاَثَة ṯalâṯadrei

(*) Bei Jesaja steht älteres /arqâ/

Literatur

  • Hans Bauer, Pontus Leander: Kurzgefasste biblisch-aramäische Grammatik. Mit Texten und Glossar. Niemeyer, Halle (Saale) 1929, (6. Nachdruck: Georg Olms, Hildesheim u. a. 2008, ISBN 978-3-487-01019-9).
  • Karl Marti: Kurzgefasste Grammatik der biblisch-aramäischen Sprache, Literatur, Paradigmen, Texte und Glossar. Berlin 1896; 2., verbesserte Auflage 1911; 3., verbesserte Auflage 1925. (online)
  • Heinz-Dieter Neef: Arbeitsbuch Biblisch-Aramäisch. Materialien, Beispiele und Übungen zum Biblisch-Aramäisch. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Mohr Siebeck, Tübingen 2009, ISBN 978-3-16-150206-4.

Einzelnachweise

  1. Arabisch waṯaba heißt „springen“. Die Bedeutung „sitzen“ gibt es jedoch im verwandten Altsüdarabischen. Siehe Sabäisches Wörterbuch der Uni Jena und Wilhelm Gesenius: Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Leipzig: Vogel, 1905, S. 290, Lemma ישב.