Bakterienruhr

Klassifikation nach ICD-10
A03.0Shigellose durch Shigella dysenteriae
A03.1Shigellose durch Shigella flexneri
A03.2Shigellose durch Shigella boydii
A03.3Shigellose durch Shigella sonnei
A03.8Sonstige Shigellosen
A03.9Shigellose, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Bakterienruhr (synonym: Shigellose, Shigellendysenterie, Shigellenruhr, Bazillenruhr, bazilläre Dysenterie) ist eine von verschiedenen Shigellen-Arten (Ruhrbazillen) ausgelöste Dysenterieerkrankung mit Durchfällen und Stuhlzwang (Tenesmen), die hauptsächlich den Dickdarm befällt. Zur Wortherkunft „Ruhr“ siehe Dysenterie.

Geschichte

Früher kam es regelmäßig zu großen Shigellose-Epidemien. Hunger, Armut und mangelnde Hygiene begünstigten die Ausbrüche – damit naturgemäß besonders in ärmeren Bevölkerungsgruppen, aber auch in Kriegszeiten (während des amerikanischen Bürgerkriegs erkrankten mehr als eine halbe Million Menschen) und in Gruppen-Unterkünften.

Der japanische Mikrobiologe Kiyoshi Shiga war Entdecker und Namensgeber des Erregers und der Erkrankung. Er stellte die Keime erstmals im Laufe einer Shigelloseepidemie im Jahr 1897 aus dem Stuhl von Erkrankten dar.[1]

Im Jahr 1904 hatten zur Anwendung bei der bazillären Dysenterie Rudolf Kraus und Robert Doerr eine Serotherapie entwickelt.[2]

Übertragung

Die Infektion erfolgt meistens fäkal-oral, insbesondere über die orale Aufnahme von Spuren von Urin oder Kot infizierter Wirte. Der Mensch ist der einzige Reservoirwirt, die Verbreitung erfolgt unter anderem durch Fliegen. Im Gegensatz zu den ähnlichen Salmonellen sind Shigellen säurestabil, werden also im Magen nicht abgetötet.

Die Bakterienruhr tritt meistens in Gebieten mangelnder hygienischer Versorgung auf, mit schwereren Verlaufsformen bei einer geschwächten Immunabwehr oder bei Mangelernährung.

Epidemiologie

Die Ursache ist eine Infektion mit Shigellen, von denen vier Spezies bekannt sind:

  • Gruppe A, Shigella dysenteriae: Tropen, Subtropen, 10 Serovarianten, bildet sowohl ein Endotoxin, als auch ein Ektotoxin (Shiga-Toxin), das zu schweren Krankheitsbildern führt. Die Letalität liegt bei fünf bis 15 Prozent.[3]
    • Shigella ambigua, Schmitz-Bakterium, bildet ebenfalls Ektotoxine.
  • Gruppe B, Shigella flexneri: kein Exotoxin, weltweit verbreitet, i. A. mildere Verlaufsform als bei Gruppe A.
  • Gruppe C, Shigella boydii: Vorderasien und Nordafrika, selten, leichter Verlauf.
  • Gruppe D, Shigella sonnei: Mitteleuropa, v. a. bei Kindern, kein Exotoxin, meist flüchtiger und harmloser Verlauf („Sommer-Durchfall“).

Pathogenese

Die Erreger werden über den Darm aufgenommen und zum Teil resorbiert. Die toxischen Erreger der Gruppe A sondern Endo- und Ektotoxine ab, die neben allgemeinen toxischen Schäden auch Schleimhautveränderungen und Geschwürbildung bewirken können. Die häufigeren nichttoxischen Erreger-Varianten der Gruppen B, C und D bilden nur Endotoxine, wobei Infektionen im Allgemeinen leichter verlaufen.

Verlauf

Die Bakterienruhr hat eine Inkubationszeit von 2 bis 7 Tagen. Man unterscheidet zwei Verlaufsformen, eine toxische Bakterienruhr, die dem Paratyphus ähnelt, und eine leichtere, welche der infektiösen Gastroenteritis ähnelt.

Die toxische Bakterienruhr ist charakterisiert durch häufige blutig-schleimige Durchfälle, Fieber, Appetitlosigkeit, Abgeschlagenheit, Bauchschmerzen/Koliken und heftige Tenesmen. Der große Flüssigkeits- und Elektrolytverlust und die Aufnahme von Bakterientoxinen stellen die größten Gefahren dar, durch die es zur Exsikkose, Nierenversagen, Kreislaufkollaps, Krämpfen und Koma kommen kann.

Die mildere Verlaufsform geht mit geringeren toxischen Erscheinungen einher. Die Symptome sind Fieber, Erbrechen, Tenesmen sowie wässrige Durchfälle mit Beimengungen von Schleim und Blut.

Bei schweren Verläufen kann es zu Darmblutungen und Geschwürperforationen kommen, welche die Gefahr einer Peritonitis bergen.

Als Krankheitsfolge kann es zu einer reaktiven Arthritis (Reitersyndrom) kommen, die meist spontan verschwindet.

Nach überstandener Erkrankung scheidet die Person noch etwa vier Wochen Erreger aus. Eine überstandene Shigellose bietet eine gewisse Immunität gegen Erreger des gleichen Typs.

Diagnostik

Die Diagnose wird anhand der klinischen Symptome gestellt. Der Erreger wird durch kulturelle, bakteriologische Untersuchung eines Abstrichs aus dem Enddarm nachgewiesen.

Vorbeugung und Behandlung

Die grundlegende Vorbeugung sind Hygienemaßnahmen wie etwa Sauberkeit bei der Trinkwasser- und Nahrungszubereitung, regelmäßige Händedesinfektion und Fäkalienbeseitigung.

Die Therapie besteht heute aus einer Verbesserung der Immunabwehr des Patienten, Ersatz von Wasser und Elektrolyten (z. B. WHO-Trinklösung) sowie Antibiotika wie Chinolon-Antibiotika oder Ampicillin intravenös. Da einige Shigellen durch R-Plasmide multiresistent sind, ist eine eventuelle Korrektur der Antibiotika nach Antibiogramm erforderlich. Bei krampfartigen Bauchschmerzen kann die Gabe eines Spasmolytikums wie N-Butylscopolamin sinnvoll sein.

Obstipierende Mittel wie Loperamid unterdrücken zwar die Durchfälle, verzögern aber die Ausscheidung der Erreger aus dem Körper. Daher sind diese Mittel höchstens kurzfristig einzusetzen.

Prognose

Bei den leichteren Formen ist die Prognose relativ günstig, bei schwereren Formen beträgt die Letalität 3–10 %.

Meldepflicht

In Deutschland ist Bakterienruhr (Shigellose) unter Umständen[4] eine meldepflichtige Krankheit (z. B. für Beschäftigte in Küchen und Gaststätten) nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Namentlich meldepflichtig ist nämlich

„2. der Verdacht auf und die Erkrankung an einer mikrobiell bedingten Lebensmittelvergiftung oder an einer akuten infektiösen Gastroenteritis, wenn a) eine Person betroffen ist, die eine Tätigkeit im Sinne des § 42 Abs. 1 ausübt, b) zwei oder mehr gleichartige Erkrankungen auftreten, bei denen ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird, […]“

§ 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG

Die namentliche Meldepflicht besteht dann bei Verdacht und Erkrankung. In Deutschland ist ebenfalls der direkte oder indirekte Nachweis der Erreger Shigella sp. namentlich meldepflichtig nach § 7 des Infektionsschutzgesetzes, soweit der Nachweis auf eine akute Infektion hinweist. Nach dem Recht Sachsens besteht zudem eine namentliche Meldepflicht bezüglich Erkrankung und Tod an Shigellenruhr.[5] 2020 kam es in Deutschland zu 139 nachgewiesenen Fällen, 2021 zu 141.[6]

In der Schweiz ist der positive und negative laboranalytische Befund zu Shigella spp. meldepflichtig und zwar nach dem Epidemiengesetz (EpG) in Verbindung mit der Epidemienverordnung und Anhang 3 der Verordnung des EDI über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen.

Literatur

  • Karl Wurm, A. M. Walter: Infektionskrankheiten. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 9–223, hier: S. 136–140 und 145.
  • Willibald Pschyrembel: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. Bearbeitet von der Wörterbuchredaktion des Verlages unter der Leitung von Helmut Hildebrandt. 261. Auflage. De Gruyter, Berlin 2007, ISBN 978-3-11-018534-8.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Markus Frühwein: Shigellose (bakterielle Ruhr). Die Shigellose (Shigellendysenterie, Shigellenruhr, Bazillenruhr, bakterielle Ruhr) ist eine Infektionskrankheit, die mit blutigen Durchfällen, Bauchkrämpfen, Fieber und Erbrechen einhergeht. In: Apotheken Umschau. 12. November 2019, abgerufen am 30. Mai 2021.
  2. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 58.
  3. Gerald T. Keusch, David W. K. Acheson: Shigella Infection. In: Lois J. Paradise, Mauro Bendinelli, Herman Friedman (Hrsg.): Enteric infections and immunity. Plenum Press, New York NY u. a. 1996, ISBN 0-306-45242-1, S. 79–100, doi:10.1007/978-1-4899-0313-6_5.
  4. Shigellose. RKI-Ratgeber. In: rki.de. Robert Koch-Institut, 1. Mai 2012, abgerufen am 18. März 2020 (Meldepflicht gemäß IfSG).
  5. Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz über die Erweiterung der Meldepflicht für übertragbare Krankheiten und Krankheitserreger nach dem Infektionsschutzgesetz. Vollzitat: Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Verbraucherschutz über die Erweiterung der Meldepflicht für übertragbare Krankheiten und Krankheitserreger nach dem Infektionsschutzgesetz vom 3. Juni 2002 (SächsGVBl. S. 187), die zuletzt durch die Verordnung vom 9. November 2012 (SächsGVBl. S. 698) geändert worden ist. In: revosax.sachsen.de. Staatsministerin für Soziales, abgerufen am 16. November 2020 (Fassung gültig ab: 16. Dezember 2012).
  6. Epidemiologisches Bulletin des RKI, 6. Januar 2022