Autogynophilie

Autogynophilie (auch Autogynäkophilie und fälschlich Autogynäphilie) (von gr.: auto- „Selbst“, gynaiko- „Frau“, philia „Liebe“: „die eigene Weiblichkeit lieben“) bezeichnet die „paraphile Neigung eines Mannes, sexuelle Erregung durch die Vorstellung von sich selbst als Frau zu erlangen“.[1] Der Begriff ist Teil eines 1989 von Ray Blanchard vorgeschlagenen Erklärungsmodells für Transsexualität und Transvestitismus. Im Gegensatz zur Theorie der Geschlechtsidentitätsstörung sieht Blanchard Autogynophilie als eine von zwei möglichen Ursachen für das Verlangen nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen. Im DSM-5 ist Autogynophilie als Subtyp der Diagnose „Transvestitische Störung“ klassifiziert.[1] Die entsprechende Neigung einer Frau, sexuelle Erregung durch die Vorstellung von sich selbst als Mann zu erlangen, wird als Autoandrophilie bezeichnet.[2]

Die Theorie von Blanchard wird kritisch diskutiert. Es erscheinen seit Jahren sowohl zustimmende[3][4] als auch ablehnende[5][6] Übersichtsarbeiten.

Erklärungsmodell

Autogynophilie beschreibt das sexuelle Interesse und die sexuelle Reaktion einer Teilgruppe von Transfrauen (Mann-zu-Frau-Transsexuelle). Die Mitglieder dieser Teilgruppe werden sexuell von dem Gedanken erregt, selbst einen weiblichen Körper zu haben.[1] Das sexuelle Begehren der anderen, nicht vom Modell erfassten Teilgruppe ist in der Regel auf Männer ausgerichtet.

Blanchard konzentriert seine Forschungen über Geschlechtsidentitätsstörungen auf sogenannte „autogynophile Transsexuelle“. Dabei bezeichnet er Mann-zu-Frau-Transsexuelle als „Männer mit einer Geschlechtsidentitätsstörung“. Eine Transfrau mit geschlechtsangleichender Operation ist nach seiner Auffassung ein „Mann ohne Penis“ (Armstrong 2004).

In seiner Terminologie sind Transfrauen, die sexuell ausschließlich zu Männern hin orientiert sind, androphile bzw. homosexuelle Transsexuelle. Dies ist für die Vertreter dieser Theorie die einzig andere mögliche Ursache für den Wunsch nach einem Geschlechtswechsel. Gerade bei Personen, die eine geschlechtsangleichende Operation durchgemacht haben, steht die Theorie im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis von Homosexualität, da Homosexualität fast immer auch mit der erotischen Anziehung zu entsprechenden "gleichen" primären und sekundären Geschlechtsmerkmalen verstanden wird.

Transmänner (Frau-zu-Mann-Transsexuelle) betrachtet Blanchard nur am Rande. Er ordnet alle Betroffenen einem homosexuellen Typus zu, nimmt also einheitlich eine auf Frauen bezogene sexuelle Orientierung an. Dies steht im Widerspruch zu Erfahrungsberichten, denen zufolge mindestens ein Drittel aller Transmänner sexuell ausschließlich auf Männer hin orientiert sei und viele sich als bisexuell einstuften.

Kontroverse

Weil die von Blanchard untersuchten Korrelationen keine Kausalität belegen können, wird gelegentlich angeführt, dass Blanchard ein Symptom der Geschlechtsidentitätsstörung mit deren eigentlicher Ursache verwechselt habe. Zudem führt das Fehlen von Kontrollgruppen in Blanchards Arbeiten auf die Frage nach den Unterschieden zwischen bisexuellen, lesbischen und asexuellen Trans- und Cisgender-Frauen. So sind einer späteren Studie von C. Moser zufolge mehr als 95 % der cis Frauen nach Blanchards Definition autogynophil.[7] Moser betont jedoch, dass zumindest für einige Male-to-Female Transpersonen (MTF) Autogynophilie eine zutreffende Beschreibung ist, der viele MTF selbst zustimmen.[8]

Fürsprecher der Autogynophilie führen hingegen an, dass Transsexuelle gern Verhaltensweisen vortäuschten, die dem Modell widersprächen. Der seinerseits ebenfalls umstrittene J. Michael Bailey ist ein bekannter Verfechter des Modells. Er zitiert beispielsweise Maxine Peterson[9] dahingehend, dass „die meisten Geschlechtsidentitäts-Patienten lügen“ (Bailey, 2003, S. 172) und über die sexuellen Hintergründe ihrer Veranlagung hinwegtäuschten. Manche Transfrauen akzeptieren Autogynophilie jedoch als angemessene Beschreibung ihres Empfindens, was u. a. folgende Erklärungsversuche motivierte:

  • Vor dem heute verbreiteten Modell einer Geschlechtsidentitätsstörung war die Diagnose Transsexualität und damit eine Behandlung faktisch ausgeschlossen, wenn (z. B. beim Cross-Dressing) sexuelle Befriedigung eine Rolle spielte. Das Modell der Autogynophilie gruppiert dagegen ganz pauschal Männer mit Geschlechtsidentitätsstörung und Fetischisten, die aufgrund einer „fehlerhaften Zuordnung des sexuellen Ziels“ (Freund, 1993) für die Diagnose der Transsexualität in Betracht kommen.
  • In Blanchards Modell wird nicht zwischen Transsexualität und Transvestismus unterschieden. Das erlaubt es Betroffenen, von der Diagnose Transvestismus zur Transsexualität „aufzusteigen“ und damit eine Behandlung erlangen zu können.

Das gegenwärtige Modell der Geschlechtsidentitätsstörung als psychische Störung lässt dagegen sexuelle Erregung beim Cross-Dressing zu. Darüber hinaus unterscheidet es weitaus weniger rigide zwischen Transsexuellen und Transvestiten als frühere Ansätze auf Grundlage der sog. Benjamin-Skala, sondern fasst alle Menschen mit Geschlechtsidentitätsstörung in eine Kategorie zusammen, wobei die GID individuell ausgeprägt sein kann (vergleiche auch Transgender).

Dementsprechend machen Kritiker des Autogynophilie-Modells geltend, dass diejenigen, die dies als für sich zutreffend ansehen, ihre eigene Pathologisierung im Sinne einer Paraphilie betrieben und die erotische Komponente als die primär antreibende Kraft zur Transition ansähen. Es fehle jedoch jedes Anzeichen, dass eine Differentialdiagnose, die auf der sexuellen Vorgeschichte beruht, zu einer größeren Zufriedenheit unter den Patienten führt.

Vielfach wird in der wissenschaftlichen wie auch der populären Literatur berichtet, dass Menschen in sexuellen Phantasien dem anderen Geschlecht angehören wollen, obwohl sie nicht in allen Fällen transsexuell seien. Im Sinne einer psychosexuellen Pathologie werden diese Phantasien von einigen Sexualforschern als Paraphilien angesehen. In einer tschechischen Studie aus dem Jahr 2020 mit jeweils 5000 männlichen und weiblichen Teilnehmern gaben 26,6 Prozent der Männer an, autogynophile Phantasien zu einem gewissen Grad als erregend zu empfinden, bei 2,2 Prozent der Befragten war diese Erregung sehr ausgeprägt.[10] Im Hinblick auf autoandrophile Neigungen bei Frauen lagen die entsprechenden Werte bei 20,7 und 0,9 Prozent.

Literatur

  • Klaus Beier, Hartmut Bosinski, Uwe Hartmann: Sexualmedizin – Grundlagen und Praxis. Urban & Fischer Verlag, 2005, ISBN 3-437-51086-X.
  • J. Michael Bailey: The Man Who Would Be Queen: The Science of Gender-Bending and Transsexualism. Joseph Henry Press, 2003, ISBN 0-309-08418-0.
  • Ray Blanchard: The Concept of Autogynephilia and the Typology of Male Gender Dysphoria. In: The Journal of Nervous and Mental Disease 177 (10), 1989, S. 616–623. Zugriff am 9. Januar 2005
  • Ray Blanchard: The Classification and Labeling of Non-homosexual Gender Dysphorias. In: Archives of Sexual Behavior 18 (4), Ray, S. 315–334
  • Ray Blanchard: The Origins of the Concept of Autogynephilia (Memento vom 25. Juli 2011 im Internet Archive). In: The Autogynephilia Resource, 2004. Zugriff am 9. Januar 2005
  • Kurt Freund, Ray Blanchard: Erotic target location errors in male gender dysphorics, paedophiles, and fetishists. In: British Journal of Psychiatry 162, April 1993, S. 558–563
  • Peter Fiedler: Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung. Beltz Psychologie Verlags Union, 2004, ISBN 3-621-27517-7.
  • Uwe Hartmann, Hinnerk Becker: Störungen der Geschlechtsidentität – Ursachen, Verlauf, Therapie. Springer, Wien 2002, ISBN 3-211-83745-0.
  • Anne A. Lawrence: Men Trapped in Men's Bodies: Narratives of Autogynephilic Transsexualism. Springer, New York 2013, ISBN 978-1-4614-5181-5.
  • Julia Serano: The Case Against Autogynephilia. In: International Journal of Transgenderism 12 (3), 2010, S. 176–187. doi:10.1080/15532739.2010.514223

Fußnoten

  1. a b c Peter Falkai, Hans-Ulrich Wittchen (Hrsg.): Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5. 1. Auflage. Hogrefe, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8017-2599-0.
  2. Ashley Brown, Edward D. Barker, Qazi Rahman: Erotic Target Identity Inversions Among Men and Women in an Internet Sample. In: The Journal of Sexual Medicine. Band 17, Nummer 1, 2020, S. 99–110, doi:10.1016/j.jsxm.2019.10.018.
  3. Anne A. Lawrence (2017) Autogynephilia and the Typology of Male-to-Female Transsexualism - Concepts and Controversies. European Psychologist 22(1):39–54
  4. Edward Dutton, Guy Madison (2021) Gender Dysphoria and Transgender Identity Is Associated with Physiological and Psychological Masculinization: a Theoretical Integration of Findings, Supported by Systematic Reviews. Sexuality Research and Social Policy 18:788–799
  5. Jelena S. Laube, Matthias K. Auer, Sarah V. Biedermann, Johanna Schröder, Thomas Hildebrandt: Sexual Behavior, Desire, and Psychosexual Experience in Gynephilic and Androphilic Trans Women: A Cross-Sectional Multicenter Study. In: The Journal of Sexual Medicine. Band 17, Nr. 6, 1. Juni 2020, ISSN 1743-6095, S. 1182–1194, doi:10.1016/j.jsxm.2020.01.030, PMID 32147311.
  6. Julia Serano: Autogynephilia: A scientific review, feminist analysis, and alternative ‘embodiment fantasies’ model. In: The Sociological Review. Band 68, Nr. 4, 1. Juli 2020, ISSN 0038-0261, S. 763–778, doi:10.1177/0038026120934690.
  7. Charles Moser: Autogynephilia in Women. In: Journal of Homosexuality. Band 56, Nr. 5, 8. Juli 2009, S. 539–547, doi:10.1080/00918360903005212 (englisch, auf Pubmed, Volltext als PDF [abgerufen am 28. Dezember 2019]).
  8. C. Moser (2010) Blanchard’s autogynephilia theory: A critique. Journal of Homosexuality 57:790–809. "No one disputes that autogynephilia exists or that it can explain the motivation of some MTFs; many MTFs readily admit that this construct describes their sexual interest and motivation", S. 791
  9. Maxine Petersen, M.A., C.Psych.Assoc., Coordinator, Gender Identity Clinic, Centre for Addiction and Mental Health, Clarke Division, Toronto, Canada.
  10. Klára Bártová, Renáta Androvičová, Lucie Krejčová, Petr Weiss & Kateřina Klapilová (2020) The Prevalence of Paraphilic Interests in the Czech Population: Preference, Arousal, the Use of Pornography, Fantasy, and Behavior, The Journal of Sex Research, doi:10.1080/00224499.2019.1707468.