Autofreies Wohnen

Mit dem Begriff Autofreies Wohnen bezeichnet man zum einen die Errichtung von Siedlungen, Siedlungsteilen oder Wohnanlagen, bei denen der Autoverkehr weitgehend herausgehalten wird, und auch keine entsprechenden Stellplätze für die Bewohner zur Verfügung gestellt werden; zum anderen ist das Wohnen in denselben gemeint. Es wird dabei unterschieden zwischen autofreien, autoreduzierten, optisch autofreien und stellplatzfreien Stadtquartieren.[1]

Da derartige Projekte den örtlichen Stellplatzverordnungen meist zuwiderlaufen (Ausnahme zum Beispiel in Berlin: keine Stellplatzpflicht gem. § 50 BauOBln[2]), versucht man, die Bewohner solcher Siedlungen vertraglich an die Autofreiheit zu binden bzw. als Vereine zu organisieren, in denen die Kernanforderung an die Mitglieder der Verzicht auf das eigene Auto ist. Durch die Einsparung von Zufahrten und Stellplätzen können die Gesamtbaukosten merklich reduziert werden.[3] Auch der Flächenverbrauch ist wesentlich geringer. Bereits bei Wohnanlagen mit mehr als acht mittelgroßen Wohnungen kann die notwendige Stellplatzfläche größer sein als die Mindestabstandsflächen der Landesbauordnungen. Die gebauten Siedlungen haben eine hohe Außenraumqualität. Vor allem öffentliche und halböffentliche Bereiche können intensiver genutzt werden, da sie nicht von Autos blockiert werden. Zu den weiteren Vorteilen autofreien Wohnens zählen Sicherheits- und Gesundheitsaspekte (Luftqualität, Lärm u. a.) Nachteilig ist die eingeschränkte Bequemlichkeit und ein möglicher Verlust von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie.[4]

Geschichte

Autofreie Werkssiedlung Wittenberg-Piesteritz

Ältere Beispiele des autofreien oder autoarmen Wohnens stammen aus der Zeit, als es ohnehin noch keine Massenmotorisierung gab. Eine der größten autofreien Wohnsiedlungen Deutschlands ist etwa die 1916–19 entstandene und anlässlich der Expo 2000 sanierte Werkssiedlung Piesteritz in Wittenberg. In der Siedlung Römerstadt des neuen Frankfurt in den 1920er Jahren wurden einige Straßen so ausgelegt, dass diese für den motorisierten Verkehr unattraktiv sein sollten. So wurde bevorzugt, Straßen enger zu gestalten und für den Gegenverkehr nur Wartebuchten vorzusehen. Eine vollkommene Aussperrung des motorisierten Verkehrs wurde mit Verweis auf den Müllwagen und Möbellaster für Umzüge jedoch abgelehnt.

In der DDR war es eine übliche Planungspraxis, die Stellplätze von der eigentlichen Wohnnutzung zu trennen – ohne dass man dies ausdrücklich als „autofreies“ oder „autoarmes Wohnen“ bezeichnete. In den typischen Großwohnsiedlungen der 1970er- und 80er-Jahre (WBS 70) stehen oft Häuserblocks mit hunderten Wohnungen an schmalen Straßen mit nur wenigen Stellplätzen oder gar an reinen Fußwegen. Stattdessen wurden zentrale Anlagen zum Parken (etwa Garagenhöfe) am Rand des jeweiligen Gebietes angeordnet.[5] Ohnehin war der Anteil der Autobesitzer viel geringer. Wichtiger war daher, die Siedlungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erschließen, die in einem dichten Takt fuhren.

Erstes autofreies Gebiet in Deutschland: Das Baugebiet P in Nürnberg-Langwasser

Die Anfänge des autofreien Wohnens im heutigen Sinne reichen in die 1970er-Jahre zurück. Damals versuchten autobesitzende Familien, im Alltag für einen begrenzten Zeitraum ohne ihr Auto zu leben. Daraus entstand die Idee, ein diesem Lebensstil adäquates Wohnumfeld zu schaffen – autofreie Siedlungen. Das 1976–87 angelegte Baugebiet P in Nürnberg-Langwasser war das erste autofreie Wohngebiet in der Bundesrepublik Deutschland.[6][7]

In den 1990er-Jahren wurden erste größere Pilotprojekte in Amsterdam-Westerpark (Initiierung 1992, Fertigstellung 1997[8][9]) und Wien-Floridsdorf (Initiierung 1995, Fertigstellung Dez. 1999[10][11]) realisiert.

Verkehrsberuhigter Bereich im teilweise autofreien Quartier Vauban, Freiburg im Breisgau

Die ersten realisierten Autofrei-Wohnen-Projekte in Deutschland lagen in

  • Nürnberg-Langwasser (Baugebiet P, Initiierung Anfang der 1970er, Baubeginn 1976, Fertigstellung von 1978 bis 1987, etwa 3.200 Einwohner bei rund 900 Wohneinheiten (1990))[12]
  • München-Riem (Fertigstellung des ersten Eigentümer-Projektes Sept. 1999[13])
  • Hamburg-Winterhude (Siedlung Saarlandstraße: Eigentumswohnungen und Mietwohnungen in einer Genossenschaft, Initiierung 1992, Fertigstellung der ersten Bauabschnitte 2000, seit 2008 weitere Bauabschnitte im Bau[14][15])
  • Freiburg-Vauban (Initiierung um 1994, Baubeginn der ersten neuen Häuser 1998)
  • Köln-Nippes (Siedlung Stellwerk 60: Einfamilienhäuser, Eigentums- und Mietwohnungen, Fertigstellung der ersten Bauabschnitte 2006, der letzten 2012)[16]
  • Münster (Weißenburgsiedlung: Initiiert auf Landesebene, Erstbezug 2001, jetzt 189 Wohnungen, )

Die Umsetzung solcher Projekte erscheint am sinnvollsten in Lagen, die sich innenstadtnah befinden[17] und gut an öffentliche Verkehrsmittel angeschlossen sind. Mittlerweile gibt es in zahlreichen Städten Europas bereits gebaute Anlagen und Initiativen für weitere Projekte.[18] Das Wohnen in derartigen Bereichen wird als Gewinn für die Lebensqualität empfunden.[19]

77,1 % der privaten Haushalte in Deutschland besaßen 2008 mindestens ein Auto.[20] In Großstädten wie z. B. Berlin[21] und Hamburg[22] hat nur etwa jeder zweite Haushalt einen PKW. In den Innenstadtgebieten ist die Autofreiheit deutlich höher als in den Randbezirken, wo das ÖPNV-Angebot weniger dicht ist.

Stellplatzverordnung

In einigen Bundesländern (z. B. in Brandenburg) wurden die Landesbauordnungen in den letzten Jahren dahingehend geändert, dass eine landesweit einheitliche Stellplatzpflicht nicht mehr besteht. Stattdessen können die Gemeinden Stellplatzsatzungen erlassen. Eine Verpflichtung zum Bau von Stellplätzen besteht dann nur noch in Gemeinden, die von dieser Ermächtigung Gebrauch machen. Teilweise werden aus verkehrspolitischen Gründen in gut mit dem ÖPNV erschlossenen Gebieten keine Mindestzahlen für die Schaffung von PKW-Stellplätzen mehr festgelegt. In Innenstadtbereichen werden zum Teil sogar Höchstzahlen für PKW-Stellplätze festgelegt, um den Kraftfahrzeugverkehr zu reduzieren.[23]

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. http://www.autofrei.de/index.php/so-geht-autofrei/autofrei-wohnen/typologie-autofreier-wohngebiete
  2. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Bauordnung für Berlin (BauO Bln) (Memento vom 6. November 2011 im Internet Archive; PDF; 271 KB), vom 29. September 2005 (GVBl. S. 495), zuletzt geändert durch § 9 des Gesetzes vom 7. Juni 2007 (GVBl. S. 222)
  3. http://www.wohnen-ohne-auto.de/publ_stellplatzkosten „Stellplatzkosten“, Praktikumsarbeit von Bettina Hauber, Wohnen ohne Auto (WoA), Mai 2001
  4. Anja Krüger: Kommentar Fahrverbot für Dieselautos: Autobann statt Autowahn. In: Die Tageszeitung: taz. 16. Oktober 2018, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 5. November 2018]).
  5. Volker Wassmuth: Modellierung der Wirkungen verkehrsreduzierender Siedlungskonzepte. Institut für Verkehrswesen, Universität Karlsruhe 2001, S. 18.
  6. Martin Schieber: Geschichte Nürnbergs. C.H. Beck, München 2007, S. 174.
  7. Bernd Windsheimer: 90 Jahre Bauen in Nürnberg – wbg 1918–2008. Sandberg Verlag, 2008, S. 121.
  8. „Phantom oder Wirklichkeit – Die Suche nach dem städtebaulichen Leitbild eines autofreien Wohnquartiers GWL-Terrein in Amsterdam-Westerpark“, von Markus Neppl, April 1997
  9. http://www.gwl-terrein.nl/files/artikelen/GWL_terreinbrochure_eigentijdse_ecologie_2000.pdf
  10. wohnbauforschung.at: Autofreies Wohnen – Evaluierung der Mustersiedlung in Wien-Floridsdorf (Memento vom 30. Oktober 2012 im Internet Archive; PDF; 2,22 MB)
  11. schindler-szedenik.at: Autofreie Mustersiedlung Nordmanngasse 25 u. 27, Wien (Memento vom 16. Dezember 2009 im Internet Archive)
  12. Autofreie Wohngebiete: Erfolgreiche Projekte und verkehrspolitische Folgerungen auf vcd-bayern.de, von Matthias Striebich, Seite 24, vom 2. Juli 2003, abgerufen am 21. Dezember 2020
  13. wohnen-ohne-auto.de: Modell Riem (Memento vom 13. März 2017 im Internet Archive)
  14. wohnwarft.de: Vom Autobahndreieck zum Platz zum Wohnen (Memento vom 10. November 2017 im Internet Archive)
  15. autofreieswohnen.de: 10 Jahre Autofreies Wohnen Saarlandstraße (Memento vom 9. Februar 2011 im Internet Archive)
  16. stellwerk60.de. (Nicht mehr online verfügbar.) Ehemals im Original; abgerufen am 20. Juli 2021.@1@2Vorlage:Toter Link/www.stellwerk60.de (Seite nicht mehr abrufbar. Suche in Webarchiven.)
  17. mobilitaetsmanagement.nrw.de: Anforderungen an Standort und Wohnraum (Memento vom 20. Mai 2015 im Internet Archive)
  18. wohnen-ohne-auto.de: autofreie Projekte in Deutschland, Europa und weltweit (Memento vom 4. August 2014 im Internet Archive)
  19. Anna-Lena Limpert: Wie sehen unsere Straßen ohne Autos aus? In: AufRuhr, Magazin der Stiftung Mercator, 25. Oktober 2022, abgerufen am 4. November 2022.
  20. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2008 - Ausstattung der Haushalte mit PKW
  21. Pressemitteilung Nr. 350 vom 22. Dezember 2008: „Erste Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 in Berlin (EVS 2008)“. (PDF) (Nicht mehr online verfügbar.) Archiviert vom Original am 25. Juli 2021; abgerufen am 20. Juli 2021.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.statistik-berlin-brandenburg.de
  22. http://www.statistik-nord.de/uploads/tx_standocuments/O_II_j03.pdf „Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003“, Ausstattung privater Haushalte mit ausgewählten langlebigen Gebrauchsgütern am 1. Januar 2003
  23. Effektiv steuern mit der Stellplatzsatzung – Dokumentation. gruene-hessen.de, abgerufen am 28. Mai 2012.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Vauban housing courts.jpg
Autor/Urheber: Payton Chung from DCA, USA, Lizenz: CC BY 2.0
Verkehrsberuhigter Bereich ("Spielstraße") im teilweise autofreien Quartier Vauban, Freiburg im Breisgau
Zuckmayerweg 20 Langwasser.JPG
Autor/Urheber: Aarp65, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Der Zuckmayerweg ist eine Wohngebietsstraße im Stadtbezirk Langwasser Nordost.
Wittenberg Piesteritz.jpg
(c) DorisAntony, CC BY-SA 3.0
Gartenstädtische Werksiedlung der einstigen Bayrischen Stickstoffwerke Piesteritz im heutigen Ortsteil der Lutherstadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt, Deutschland (Blick auf das Steintor)
Anmerkung: Es heißt nicht "Steintor", sondern "Torhaus". Heute ist es ein Café und dient darüber hinaus als Lokalität des Herbstzeit e. V.