Visual snow

Bei dem Visual-Snow-Syndrom handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die durch anhaltendes Bildrauschen im gesamten Gesichtsfeld gekennzeichnet ist. Betroffene sehen viele kleine Punkte, die rasant flimmern, ähnlich dem Rauschen eines analogen Fernsehers. Diese Beschreibung wurde namensgebend für das Erkrankungsbild, das über diese umschriebene visuelle Störung hinausgeht. Häufig wird von einer Assoziation zur Migräne berichtet. So wurde ursprünglich angenommen, dass es sich beim Visual-Snow-Syndrom um optische Wahrnehmungsstörungen im Rahmen der Migräneaura handelt.[1] Dies ist nicht der Fall, wie Ergebnisse aktueller Forschung zeigen. Es ist vielmehr von einem eigenständigen Krankheitsbild auszugehen.[2]

Epidemiologie

Das Visual-Snow-Syndrom beginnt vor allem im jungen Erwachsenenalter. Einige Patienten geben an, bereits seit der Geburt die beschriebenen Symptome wahrzunehmen. Bei manchen Fällen wird von einem plötzlichen Krankheitsbeginn ohne erkennbare Ursache berichtet. Die vorherige Einnahme von Substanzen oder Medikamenten scheint durchaus in einigen Fällen mit dem Auftreten des Krankheitsbildes in Verbindung zu stehen. Epidemiologisch hat das Krankheitsbild viele Gemeinsamkeiten mit den Krankheitsbildern Migräne und HPPD.[3]

Eine britische Studie konnte eine nicht-geprimte Stichprobe von 1015 Erwachsenen in einer Onlineumfrage untersuchen und stellte bei 3,7 % Symptome fest, die mit Visual Snow kompatibel sind. 2,2 % der Stichprobe passten in die engeren Kriterien für das Visual Snow Syndrome nach ICHD-3. Die Verteilung von Männern zu Frauen lag hier bei 1.6:1. Außerdem konnte festgestellt werden, dass Betroffene im Schnitt älter als die Gesamtbevölkerung waren (51 Jahre), was vorherigen Studienergebnissen widerspricht. Dies wird so erklärt, dass Probanden von Vorstudien hauptsächlich aufgrund ihrer Symptome die Initiative ergriffen, einen Arzt aufzusuchen. Im Gegensatz dazu stammten die Zahlen von Personen, die sich des Themas der Studie nicht bewusst waren, was für eine zuverlässigere Schätzung der Häufigkeit des Visual Snow Syndroms in der Allgemeinbevölkerung spricht.[4]

Klinische Erscheinungen

Typischerweise zeigen klinisch-neurologische und augenärztliche Befunde keine Auffälligkeiten. Um das Krankheitsbild von anhaltenden Auren einer Migräne abzugrenzen, erfolgten Untersuchungen mit einer genauen klinischen Charakterisierung, Erfassung von Begleiterkrankungen und Krankheitsverläufen bei einer größeren Patientengruppe. Basierend darauf wurden folgende Diagnosekriterien postuliert.[5][6]

Diagnosekriterien des Visual-Snow-Syndroms nach ICHD-3
AVisual snow: dynamische, kontinuierlich vorhandene kleine Punkte im gesamten binokularen Gesichtsfeld, welche länger als 3 Monate andauern
BVorhandensein von mindestens zwei weiteren visuellen Symptomen der folgenden vier Kategorien
IPalinopsie (Trugbilder von Objekten, die sich kurz zuvor im Gesichtsfeld befunden haben). Zumindest eines der folgenden: Nachbilder (sich von retinalen Nachbildern unterscheidend) oder „trailing“ (Spuren) bewegter Objekte
IIAusgeprägte entoptische Phänomene. Zumindest eines der folgenden: exzessive Floaters in beiden Augen (fliegende Mücken), „self-light“ des Auges (farbige Wolken, Strudel, Wellen), spontane Photopsie (Wahrnehmung von Blitzen, Funken, Sternchen), oder exzessives Blaufeld-Phänomen (Wahrnehmung unzähliger winziger, sich rasch bewegender Punkte bei Blick in helles blaues Licht, wie z. B. den Himmel)
IIIPhotophobie (Lichtempfindlichkeit)
IVNyktalopie (beeinträchtigtes Dämmerungssehen)
CDie Symptome stimmen nicht mit typischer visueller Migräneaura überein
DDie Symptome lassen sich nicht besser durch andere Störungen erklären

Zu den Begleiterkrankungen zählen insbesondere verschiedene Formen der Migräne. Auch andere nicht-visuelle Symptome wie unter anderem Tinnitus, Konzentrationsstörungen oder sekundäre Depersonalisation werden gehäuft beobachtet. Daneben fällt eine Assoziation mit Depression und Angst auf, Begleiterkrankungen, die sich auch bei chronischer Migräne vermehrt diagnostizieren lassen.[7]

Ursache

Die Ätiologie (Ursache) von Visual Snow ist bislang ungeklärt. Hinsichtlich der Pathogenese (Entstehung) gibt es verschiedene Überlegungen.

Übererregbarkeitshypothese

Ein möglicher Erklärungsansatz ist ein Ungleichgewicht zwischen Inhibition und Erregung des visuellen Kortex.[8] Einen Anhaltspunkt gibt die gestörte Wahrnehmung von sowohl Kontrast als auch Helligkeit bei Betroffenen, welche sich in einer gewissen Hinsicht mit einer möglichen Übererregbarkeit des primären visuellen Kortex deckt. Die Hypothese wird ferner gestützt von Ergebnissen bildgebender Verfahren (PET), welche einen hohen Glucoseumsatz und damit einhergehende hohe Aktivität im rechten Gyrus lingualis und im linken Lobus anterior cerebelli, zwei Areale im Gehirn, aufzeigen.[9] Allerdings gibt es derzeit lediglich genau eine Fallstudie, in der die mutmaßliche Übererregbarkeit des visuellen Kortex mittels elektrophysiologischen Messungen direkt nachgewiesen werden konnte.[10]

Rolle des Thalamus

Das Tragen getönter Brillengläser geht häufig mit einer subjektiven Verbesserung der Symptome einher.[11] Insbesondere bei gefärbten Gläsern, die durchlässig für kurze Wellenlängen des sichtbaren Lichtspektrums (Blau) sind, empfand die Mehrheit der Patienten einer klinischen Studie eine Linderung. Eine vergleichbare Wirkung konnte bereits unter anderem bei Migräne und Epilepsie gezeigt werden.

Farbsignale im blau-gelben Spektrum werden von Neuronen des koniozellulären Systems übertragen. Da bei der Signalverarbeitung solcher Sehreize eine symptomatische Besserung nachgewiesen werden konnte, wird ein positiver regulatorischer Effekt bei Aktivierung des koniozellulären Systems vermutet. Unklar ist, ob eventuell das Blockieren von langwelligem Licht (Rot) und damit verbundener Aktivierung des parvozellulären Systems eine vorrangige Rolle spielt. Ungeachtet der tiefergehenden pathophysiologischen Überlegungen, wird jedoch die Hypothese einer thalamokortikalen Dysrhythmie erwogen.[12] Demnach wird eine Funktionsstörung der Verbindungen im Gehirn, die vom Thalamus zum visuellen Kortex ziehen, vermutet.

Nach dem aktuellen Stand der Forschung (Ende 2021) scheint sowohl die Hypothese einer thalamokortikalen Dysrhythmie als auch die Übererregbarkeitshypothese vereinbar mit unterschiedlichen Studienergebnissen.[13][14] Verschiedene in Studien durchgeführte Messungen deuten darauf hin, dass nicht ein erhöhtes neuronales Rauschen an der Entstehung des Visual Snow Syndroms beteiligt ist, sondern vielmehr eine geänderte Frequenz der Übertragung von Aktionspotentialen eine Rolle spielt.

Neurotransmitter

Der amerikanische Neurowissenschaftler James. T. Fulton spekuliert über ein mögliches chemisches Ungleichgewicht der Neurotransmitter Glutamat, GABA & Dopamin.

„The symptoms of these people suffering visual snow provide pretty interesting evidence that visual snow, along with other psychedelic affects are due to changes in the local chemistry of the brain, probably due to changes in the levels of glutamic acid, GABA and dopamine-like pharmaceuticals.“[15]

Verbindung zu Migräne

Ergänzend legt ein weiterer Ansatz nahe, dass das Visual Snow Syndrom mit Migräne und anderen wahrnehmungsverändernden Krankheiten verbunden ist. So weisen gemeinsame Forschungsergebnisse darauf hin, dass das Visual Snow Syndrom, Fibromyalgie, Tinnitus und persistent vorliegender postural-perzeptiver Schwindel (PPPD) auf eine zentrale Störung bei der Verarbeitung verschiedener Reize (visuell, somatosensorisch, akustisch und vestibulär) zurückzuführen ist. Bildgebende und elektrophysiologische Befunde deuten auf Netzwerkstörungen hin, die die sensorischen Netzwerke und andere große Netzwerke betreffen, welche an der Steuerung der Aufmerksamkeit und emotionaler Verarbeitung beteiligt sind. Es gibt klinische und epidemiologische Überschneidungen zwischen den genannten Störungen. Auch die Migräne weist eine multisensorische Überempfindlichkeit auf, selbst zwischen den Migräneanfällen mit Schwankungen während des Migränezyklus. Alle beschriebenen Wahrnehmungsstörungen werden mit Migräne als Risikofaktor in Verbindung gebracht, was darauf schließen lässt, dass Migräne, eine Störung der sensorischen Verarbeitung darstellt und diese Erkrankungen verbindet. Es also ist möglich, dass diese Erkrankungen gemeinsam auf einem Spektrum anzuordnen sind, was unter anderem daran festgemacht wird, dass ähnliche pathophysikalische Mechanismen vorliegen.[16]

Untersuchungsmethoden

Die Diagnosestellung des Visual Snows erfolgt durch eine Patientenbefragung mit Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese) und stellt letzten Endes eine Ausschlussdiagnose dar. Da die beschriebenen visuellen Symptome auch Ausdruck verschiedener hirnorganischer Erkrankungen sein können, sollte eine entsprechende neurologische Diagnostik, zum Ausschluss dieser, durchgeführt werden.

Behandlung

Derzeit gibt es noch keine standardisierte Therapie. In Einzelfällen können Antikonvulsiva (z. B. Lamotrigin) wirksam sein.[8][17] Von den 58 Patienten aus der Studie hatten 26 Patienten Lamotrigin verschrieben bekommen. Bei 5 von 26 Patienten resultierte es zu einer teilweisen Remission der Symptome. Kein Patient berichtete über eine vollständige Remission. Unerwünschte Ereignisse traten bei 13/26 (50,0 %) Patienten auf. Man kann also davon ausgehen, dass existierende Medikamente nicht genügend helfen können. Eine gesunde ausgewogene Ernährung, ausreichend guter Schlaf, regelmäßig Sport, Yoga o. Meditation und Stressvermeidung können die Symptome lindern. Vor allem ein bewusstes Fokussieren auf das Visual Snow oder in den grellen wolkenbedeckten Himmel schauen macht es sichtbarer. Auf andere Dinge fokussieren oder sich vom Alltag ablenken lassen, hilft. Nach einer Heilmethode bzw. Therapie wird zurzeit geforscht.

Nach derzeitigen Analysen von James. T. Fulton mit Einbezug der Arbeit von Oliver Sacks, vermutet er neber einer genetischen Disposition und Übermedikation diese vier theoretischen Ursachen für Visual Snow. Zwei sind verschreibungspflichtige Medikamente und zwei sind Drogen.[18]

Die vier „Disruptormoleküle“:

  • Mitglieder der Penicillinfamilie, inklusive Amoxicillin
  • Levadopa (L-Dopa)
  • Derivate von LSD
  • Ein Metabolit, bekannt als Carbonsäure-THC (THC-COOH), das im Gehirn als Ergebnis des THC aus Cannabis erzeugt wird.

Somit sollten Visual-Snow-Erkrankte die Einnahme von diesen Disruptormolekülen vermeiden. Aspartat und Glutamat (die „Hirnbrennstoff“ sind) könnten Visual Snow ebenfalls verschlimmern. Sie sind sowohl anregend als auch Teil desselben Befüllungsprozesses, der vermutlich in Visual Snow schiefgeht. Außerdem wird das Tragen von getönten Brillen empfohlen.[11]

Weblinks

Siehe auch

Belege

  1. Jäger HR, Giffin NJ, Goadsby PJ: Diffusion- and perfusion-weighted MR imaging in persistent migrainous visual disturbances. Cephalalgia. 2005 May; 25(5): 323–332. PMID 15839846
  2. CJ Schankin, F. Maniyar, J. Hoffmann, D. Chou, PJ Goadsby: Clinical characterization of „visual snow“ (Positive Persistent Visual Disturbance). In: The Journal of Headache and Pain. Band 14, Nr. 1, 21. Februar 2013, ISSN 1129-2377, S. P132, doi:10.1186/1129-2377-14-s1-p132.
  3. Francesca Puledda, Christoph Schankin, Peter J. Goadsby: Visual snow syndrome: A clinical and phenotypical description of 1,100 cases. In: Neurology. 15. Januar 2020, ISSN 0028-3878, doi:10.1212/WNL.0000000000008909.
  4. D. Kondziella, M. H. Olsen, J. P. Dreier: Prevalence of visual snow syndrome in the UK. In: European Journal of Neurology. Band 27, Nr. 5, Mai 2020, ISSN 1351-5101, S. 764–772, doi:10.1111/ene.14150 (wiley.com [abgerufen am 31. Mai 2022]).
  5. Schankin, CJ, Maniyar, FH, Digre, KB, Goadsby, PJ (2014): ‘Visual snow’ – a disorder distinct from persistent migraine aura. In: Brain doi:10.1093/brain/awu050
  6. Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS) The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition. In: Cephalalgia. Band 38, Nr. 1, Januar 2018, ISSN 0333-1024, S. 1–211, doi:10.1177/0333102417738202.
  7. U. Beyer, C. Gaul: „Visual snow“. In: Der Nervenarzt. Band 86, Nr. 12, 1. Dezember 2015, ISSN 1433-0407, S. 1561–1565, doi:10.1007/s00115-015-4401-y.
  8. a b A. Bou Ghannam, V.S. Pelak: Visual Snow: a Potential Cortical Hyperexcitability Syndrome. In: Current Treatment Options in Neurology. 19, Nr. 9, 27. März 2017, ISSN 1534-3138. doi:10.1007/s11940-017-0448-3.
  9. Christoph J. Schankin, Farooq H. Maniyar, Till Sprenger, Denise E. Chou, Michael Eller, Peter J. Goadsby: The Relation Between Migraine, Typical Migraine Aura and "Visual Snow". In: Headache: The Journal of Head and Face Pain. 54, Nr. 6, 1. Juni 2014, ISSN 1526-4610, S. 957–966. doi:10.1111/head.12378.
  10. Sebastian Luna, Daniel Lai, Alison Harris: Antagonistic Relationship Between VEP Potentiation and Gamma Power in Visual Snow Syndrome. In: Headache: The Journal of Head and Face Pain. Band 58, Nr. 1, Januar 2018, S. 138–144, doi:10.1111/head.13231.
  11. a b Jenny L. Lauschke a,b, Gordon T. Plant c, Clare L. Fraser (2015): Visual snow: A thalamocortical dysrhythmia of the visual pathway? In: Journal of Clinical Neuroscience 28 (2016) 123–127 doi:10.1016/j.jocn.2015.12.001
  12. Visual Snow Initiative: Visual Snow Conference 2018: Victoria Pelak. 3. Juli 2018, abgerufen am 15. September 2018.
  13. Jenny L. Hepschke, Robert A. Seymour, Wei He, Andrew Etchell, Paul F. Sowman: Cortical Oscillatory Dysrhythmias in Visual Snow Syndrome: A MEG Study. 18. Mai 2021, S. 2021.05.17.444460, doi:10.1101/2021.05.17.444460v1 (biorxiv.org [abgerufen am 14. Oktober 2021]).
  14. Cassandra J Brooks, Yu Man Chan, Joanne Fielding, Owen B White, David R Badcock: Visual contrast perception in visual snow syndrome reveals abnormal neural gain but not neural noise. In: Brain. 11. Oktober 2021, ISSN 0006-8950, doi:10.1093/brain/awab383.
  15. James T. Fulton: Visual snow (snowy Vision); a disease resulting from two different error mechanisms. Abgerufen am 6. Oktober 2018.
  16. Antonia Klein, Christoph J. Schankin: Visual snow syndrome, the spectrum of perceptual disorders, and migraine as a common risk factor: A narrative review. In: Headache: The Journal of Head and Face Pain. Band 61, Nr. 9, Oktober 2021, ISSN 0017-8748, S. 1306–1313, doi:10.1111/head.14213 (wiley.com [abgerufen am 31. Mai 2022]).
  17. Robin M. van Dongen, Lindy C. Waaijer, Gerrit L.J. Onderwater, Michel D. Ferrari, Gisela M. Terwindt: Treatment effects and comorbid diseases in 58 patients with visual snow. In: Neurology. Band 93, Nr. 4, 23. Juli 2019, ISSN 0028-3878, S. e398–e403, doi:10.1212/WNL.0000000000007825, PMID 31213497, PMC 6669936 (freier Volltext).
  18. James T. Fulton: Visual Snow Survey Report 2019. 11. Mai 2019, abgerufen am 21. April 2021 (englisch).