Außersinnliche Wahrnehmung

Schwarzweißaufnahme der Hellseherin Claire Reichart aus dem Jahr 1926
(c) Philipp Kester; Munich City Museum, Photography Collection, Kester Archive, CC BY-SA 4.0
Die Hellseherin Claire Reichart (1926)

Außersinnliche Wahrnehmungen (Abkürzung ASW; englisch extrasensory perception, Abkürzung ESP, oft auch Übersinnliche Wahrnehmung) ist ein Sammelbegriff für eine hypothetische Art von Wahrnehmungen, die nicht durch bekannte sinnliche Erfahrungen oder Wissensquellen erklärbar sind. Es gibt keine wissenschaftlich bestätigten Nachweise für solche Wahrnehmungen.

Die Wissenschaftsgemeinde lehnt ASW überwiegend ab. Gründe hierfür sind der Mangel einer evidenzbasierenden Faktenbasis und der Mangel einer Theorie, die ASW erklären könnte.

Im Science-Fiction-Bereich werden Personen mit einer solchen Wahrnehmung als Esper oder Mutanten bezeichnet.

Formen (Modalitäten)

Die Parapsychologie unterscheidet drei Modalitäten der außersinnlichen Wahrnehmung:[1]

  • Telepathie: Übertragungen von Informationen zwischen Lebewesen ohne Beteiligung der bekannten Sinneskanäle,
  • Hellsehen (oder seltener französisch Clairvoyance): außersinnliche Wahrnehmung von Tatsachen, die keiner beteiligten Person bekannt sind,[2]
  • Präkognition: die Erfahrung von zukünftigen Ereignissen.

Die auditive Form des Hellsehens ist das Hellhören, die außersinnliche Wahrnehmung von Worten oder Geräuschen ohne objektives akustisches Ereignis.[3] Die in die Vergangenheit gerichtete Form der Präkognition ist die Retrokognition, das außersinnliche Erfahren eines vergangenen Geschehens.[4]

Außersinnliche Wahrnehmungen sollen sowohl im Wachbewusstsein als auch in anderen Bewusstseinszuständen auftreten, z. B. in Trance oder im Schlaf bzw. Traum. Der Intensität nach werden bei außersinnlichen Wahrnehmungen sichere Kenntnis, unbestimmtes Ahnen oder ein Pseudo-Sinneseindruck (Halluzination oder Traum, realistisch oder verschlüsselt) unterschieden.[1]

Das Phänomen der außersinnlichen Wahrnehmung soll auch bei Tieren möglich sein, etwa wenn Tiere vor einem Erdbeben Unruhe zeigen. Parapsychologen untersuchten unter anderem das Verhalten von Katzen, Hunden und Enten.[5] Inwieweit tierische außersinnliche Wahrnehmungen sich dabei vom Instinkt abgrenzen lassen, ist allerdings unklar.

Historisch überlieferte Berichte über ASW

Bereits aus der Antike sind angebliche außersinnliche Wahrnehmungen überliefert worden. So soll, nach dem Bericht von Philostratos, der Philosoph Apollonius von Tyana, in Ephesus weilend, die gleichzeitig in Rom stattfindende Ermordung des Kaisers Domitian miterlebt und geschildert haben.[6]

Der heiliggesprochene Philipp Neri soll sich nähernde Personen erspürt, Künftiges erahnt, die Gedanken vor ihm Stehender gelesen und diesen seine Gedanken schweigend mitgeteilt haben. Außerdem habe er regelmäßig das Ergebnis von Papstwahlen zutreffend vorausgesagt. Goethe schreibt in einem Essay über ihn von „außerordentlichsten, zwischen den höchst geistigen und höchst körperlichen schwebend erscheinenden Naturgaben“.[7]

Der schwedische Gelehrte Swedenborg soll 1756 in einer Vision in Göteborg einen gleichzeitig in Stockholm stattfindenden Brand gesehen haben. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ließ diese Begebenheit durch einen Freund vor Ort in Schweden mit positivem Ergebnis überprüfen, wovon er in einem Brief vom 10. August 1763 berichtete[8] – jedoch begegnete Kant Swedenborgs angeblichen Visionen aus dem Geisterreich mit Spott und Ablehnung (in: Träume eines Geistersehers, 1766).

Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie, erhob für sich den Anspruch, hellsichtig zu sein, in die Zukunft sehen und in der Akasha-Chronik lesen zu können, einer Art ätherischem Weltgedächtnis, in dem alles Wissen über die Vergangenheit gespeichert sein soll. Diese Fähigkeit, die in jedem Menschen angelegt sei, könne durch systematisches Üben nach 'geisteswissenschaftlicher Methode' und unter Anleitung durch einen Geisteslehrer erreicht werden.[9][10] Im August 1923 hielt Steiner in Torquay Vorträge, die sich hauptsächlich mit anthroposophischem Hellsehen in Theorie und Praxis befassten.[11] Der schwedische Philosoph Sven Ove Hansson verweist allerdings darauf, dass kein anderer Anthroposoph bislang diese Fähigkeit erlangt habe; auch hätten sich Steiners Prophezeiungen, wonach die Naturwissenschaft seine auf übernatürlichem Wege erlangten Einsichten zur Atomphysik, zur Speziellen Relativitätstheorie und zur Syphilistherapie bestätigen würde, nicht erfüllt.[10]

Der später heiliggesprochene italienische Pater Pio soll bei der Beichte den Gläubigen die verheimlichten Sünden vorgehalten haben. Ebenso wird ihm, neben der Stigmatisation, die Bilokation (gleichzeitige Anwesenheit an zwei Orten) zugeschrieben.[12]

In einer 2011 veröffentlichten Studie legte der amerikanische Sozialpsychologe Daryl J. Bem Belege für naturwissenschaftlich unerklärliches Vorherwissen seiner Probanden und „Zeit-Umkehr“ (time-reversing) vor, etwa präkognitive Reaktion auf erotische Stimuli oder besseres Abschneiden in einem Wissenstest, für den die Teilnehmer erst nach der Testung lernten.[13] In späteren Überprüfungen konnten diese Ergebnisse jedoch nicht repliziert werden.[14]

Literatur

  • Eberhard Bauer, Michael Schetsche (Hrsg.): Alltägliche Wunder. Erfahrungen mit dem Übersinnlichen, wissenschaftliche Befunde (Grenzüberschreitungen; Band 2). 2. Aufl. Ergon-Verlag, Würzburg 2011, ISBN 978-3-89913-845-0.
  • Werner F. Bonin: Artikel Außersinnliche Wahrnehmung. In: Ders.: Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 49–51.
  • A. Hergovich: Der Glaube an Psi. Die Psychologie paranormaler Überzeugungen. 2., vollständig überarb. u. erg. Auflage. Bern: Huber 2005, ISBN 978-3-456-84190-8.

Weblinks

Belege

  1. a b Bonin, Außersinnliche Wahrnehmung (siehe Literatur), S. 50.
  2. Joachim Schmidt: Parapsychologie. In: Christoph Auffarth, Jutta Bernard, Hubert Mohr (Hrsg.): Metzler-Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Band 4, J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2005, S. 11–14, hier S. 12.
  3. Werner F. Bonin: Artikel Hellhören. In: Ders., Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 224.
  4. Werner F. Bonin: Artikel Retrokognition. In: Ders., Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 429.
  5. Werner F. Bonin: Artikel Tierparapsychologie. In: Ders., Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 491–493.
  6. Werner F. Bonin: Artikel Apollonios von Tyana. In: Ders., Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 31 f.
  7. Goethe: Philipp Neri, der humoristische Heilige (Text-Link).
  8. Werner F. Bonin: Artikel Swedenborg, Emanuel. In: Ders., Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 475. Kants Brief an Charlotte von Knobloch ist hier online
  9. Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (online, abgerufen am 19. Juni 2016); Helmer Ringgren: Anthroposophie. In: Theologische Realenzyklopädie, Band 3, De Gruyter, Berlin 1978, S. 12 (abgerufen über De Gruyter Online).
  10. a b Sven Ove Hansson: Is Anthroposophy Science? In: Conceptus. 25 (1991), Heft 64, S. 40–47 (online, abgerufen am 17. Juni 2016).
  11. Miriam Gebhardt: Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet. DVA, München 2011, S. 322.
  12. Werner F. Bonin: Artikel Forgione, Francesco. In: Ders., Lexikon der Parapsychologie, München 1988, S. 184f.
  13. Daryl J. Bem: Feeling the future: Experimental evidence for anomalous retroactive influences on cognition and affect. In: Journal of Personality and Social Psychology. 100, Heft 3 (2011), S. 407–425.
  14. Sebastian Hermann: Steile Thesen, nichts gewesen. In: Süddeutsche Zeitung. 1. Dezember 2018, S. 35.

Auf dieser Seite verwendete Medien

FM-87-61-175-35 Kester-P-1-ONLINE.jpg
(c) Philipp Kester; Munich City Museum, Photography Collection, Kester Archive, CC BY-SA 4.0
Porträtaufnahme der Hellseherin Claire Reichart, 1926. Aus dem Archiv des Münchner Stadtmuseums, Sammlung Fotografie, Archiv Kester, Inventarnr. FM-87/61.175.35. Beschriftung der Rückseite: „Beschriftung Rückseite: "Die Hellseherin Claire Reichart. Am 9. April beginnt vor dem Schöffengericht München der Prozess gegen die angebliche Hellseherin Claire Reichart wegen Vergehens der Gaukelei nach $ 54 des Bayer. Polizei-Strafgesetzbuches. Die Angeklagte ist die Tochter eines Schneidermeisters, war längere Zeit in Regensburger und Nürnberger Geschäften als Verkäuferin angestellt und trat später in München als Tänzerin auf. Als sie 17 Jahre alt geworden war, entwickelte sich in ihr angeblich die Gabe der Hellseherei, unter der sie fortan körperlich und seelisch zu leiden hatte. Neben vielen Geschichten unbedeutenderer Art soll sie in den letzten Jahren auch grosse politische Ereignisse vorausgesagt haben. Es wird behauptet dass Claire Reichart die Revolution, die Münchner Strassenkämpfe und den Mordanschlag auf Erhard Auer voraussah; auch in der letzten Zeit soll die Angeklagte eine Reihe hellseherischer Empfindungen gehabt haben. Von der Verteidigung der Angeklagten wird jede betrügerische Absicht der Claire Reichart bestritten. Die Angeklagte habe zwar wiederholt Geschenke angenommen, bei ihren Prophezeiungen aber immer im guten Glauben an ihre Fähigkeiten gehandelt. Ein besonderes Gewicht bei der Hellsehergabe der Claire Reichart wird darauf gelegt, dass die Angeklagte am Allerseelentag und noch dazu an einem Sonntag geboren ist; dazu soll sie, was für die Hellseherei als besonders vorteilhaft gilt, hellblondes Haar besitzen. – Zur Verhandlung werden voraussichtlich zahlreiche Zeugen und Sachverständigen geladen, darunter Erhard Auer, General von Epp, Freiherr von Schren[c]k-Notzing u.a."