Atmosphäre (Ästhetik)

Atmosphäre wird insbesondere in der Ästhetik und der Phänomenologie etwa gleichbedeutend mit Stimmung oder Aura gebraucht und bezeichnet

  • aus rezeptionstheoretischer Sicht eine subjektive Stimmung, die sozial und von der äußeren Umgebung vermittelt wird, oder
  • eine objektive Eigenschaft einer Umgebung, die sich nicht allein auf einen einzelnen Gegenstand zurückführen lässt, sondern auf die Art der Zusammenstellung dieser Umgebung. Atmosphären werden in diesem Zusammenhang von Gernot Böhme wegen ihrer Reproduzierbarkeit, d. h. ihrer stets ähnlichen Wirkung auf verschiedene Menschen, als objektive Gegebenheiten aufgefasst.

Begriffsgebrauch im Zusammenhang

Der Begriff der Atmosphäre wird einerseits im Kunstdiskurs gebraucht, andererseits als Fachterminus in einigen jüngeren ästhetischen Theorien verwendet, besonders in der ökologischen Naturästhetik.[1]

Der Begriff Atmosphäre wird im Kontext sowohl einer Ästhetik der Natur, insbesondere der Landschaft,[2] als auch der bildenden Kunst verwendet. Er kann sich also z. B. auf Stimmungen beziehen, die durch Zeit, Wetter, Architektur und Vegetation vermittelt sind, aber auch durch soziale Konstellationen oder die Gestaltung eines Kunstwerks. In letzterem Fall vermittelt der Begriff der Atmosphäre Gesichtspunkte der Produktions- und Werk- sowie der Rezeptionsästhetik. Dabei geht es vor allem darum, nicht nur semiotisch die Bedeutungsbestandteile des Kunstwerks selber zu erfassen, sondern vor allem die Stimmungswerte im Ausstellungs- oder Galerieraum, die vom Kunstwerk (mit)geprägt werden. Um die Atmosphäre sprachlich fassen und erforschen zu können, werden qualitative Methoden der Feldforschung genutzt.[3]

Der Kieler Philosoph Hermann Schmitz hat „Atmosphäre“ als phänomenologischen Begriff etabliert. Mit seinem kontrovers diskutierten Vorschlag, Gefühle als „räumlich ergossene Atmosphären“ zu bestimmen, nimmt der Begriff eine zentrale Stellung in seiner Neuen Phänomenologie ein. Gernot Böhme, der sich an Schmitz’ phänomenologische Beobachtungen anlehnt, jedoch in Kernfragen mit diesem nicht übereinstimmt, übersetzt die komplexe Leibphänomenologie des Philosophen in eine Ästhetik der Atmosphären. Ausgangspunkt ist eine phänomenologische Anthropologie, welche den Menschen als leibliches Sinnenwesen in besonderem Maße in ökologische Kontexte eingebunden sieht. Entsprechend stehen in einer allgemeinen Theorie sinnlicher Wahrnehmung „Beziehungen zwischen Umgebungsqualitäten und den Befindlichkeiten“ im Mittelpunkt.[4] Er bezieht sich dabei auf Impulse von Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty, stellt aber vor allem Schmitz’ Theorie der Leiblichkeit bzw. des „eigenleiblichen Spürens“ in den Mittelpunkt, in der die Atmosphäre eines der Schlüsselkonzepte darstellt. Das Atmosphärenverständnis von Schmitz hat zudem Eingang in einige andere Disziplinen wie Medizin,[5] Architektur[6], Wirtschaftswissenschaft[7] oder Soziologie[8] gefunden.

Walter Benjamins Begriff der Aura[9] kann als Vorgängerbegriff der „Atmosphäre“ verstanden werden. In ihm sind zwei Wahrnehmungsweisen angelegt und unterschieden, die als Wahrnehmungsmodi von Atmosphären gelten dürfen: das Auraatmen und die Blickbelehnung.[10]

In Anlehnung an Gernot Böhmes phänomenologisch-aisthetisches Verständnis von Atmosphären als leiblichem Spüren von Bewegungsräumen entwickelt Martina Löw einen raumsoziologischen Atmosphärenbegriff. Sie konzipiert Atmosphären als die unsichtbare Seite sozial konstituierter Räume. Das Spüren von Atmosphären ist, unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieus Feldtheorie, als Ausdruck habitueller Handlungsgebote und -verbote zu verstehen, wodurch ihre Wahrnehmung klassenspezifisches Verhalten in sozialen Räumen strukturiert. Löw betont damit den Aspekt des sozialen und kulturellen Einflusses auf den jeweiligen Gehalt des Atmosphärenerlebens.[11]

In seinen kunstsoziologischen Auseinandersetzungen leitet Niklas Luhmann das Entstehen von Atmosphären systemtheoretisch her. Eine beispielsweise durch ein Kunstwerk besetzte Raumstelle stellt nicht nur das Objekt in einen kommunikativen Zusammenhang, sondern kommuniziert darüber hinaus auch den Raum an sich als Medium für Formbildung, als Kontinuum möglicher kommunikativer Besetzungsstellen. Atmosphären entstehen nach Luhmann als „Überschuss der Stellendifferenz“, der sich mit der Selektion einer Raumstelle ergibt und auf die Kontingenz des Raumes als der anderen Seite seiner konkreten Form hinweist.[12]

Eine über die phänomenologische Beschreibung hinausgehende, an der Prozessphilosophie und dem Embodiment orientierte Weiterentwicklung des Begriffs Atmosphäre schlägt Davor Löffler vor. Atmosphären, die sich metaphorisch gesprochen in einer Art Bewusstseinsfärbung äußern, stellen neben Emotionen und Stimmungen eine eigenständige Kognitionsart dar. Atmosphären werden durch die Wahrnehmung realer oder imaginärer Situationen hervorgerufen und informieren als Kognitionsform über die in Situationen enthaltenen möglichen zukünftigen Befindlichkeiten. Im Spüren von Atmosphären drücken sich im Latenten verborgene Bereitschaftspotentiale des Leibes aus, sie machen zukünftige Kopplungsweisen zwischen Organismus und Umwelt spürbar. Diesem Verständnis nach entsteht das Erleben von Atmosphären nicht nur als Vermittlungsebene zwischen dualistisch gefassten Subjekten und Objekten in einer statischen Gegenwart. Sie vermitteln als Gespür für projizierte Situationsverläufe und mögliche zukünftige Interaktionen zwischen konkreten Situationen und potentiellen Zukünften des dynamischen Leib-Welt-Verhältnisses. Diese Konzeptualisierung von Atmosphären als Kognitionsart für potentielle Zukünfte verbindet somit klassische Fragestellungen der Ästhetik mit neueren bewusstseinstheoretischen Konzepten wie dem „Predictive Coding“[13] Karl Fristons. Bezogen auf die Weltoffenheit und Zeitlichkeit des Menschen kommt dem Phänomen Atmosphäre der Rang einer conditio humana zu, da Atmosphären vorbewusst Handlungen und Handlungsbereitschaften katalysieren und sich durch sie Weltverhältnisse erst realisieren.[14]

Literatur

  • Jürgen Hasse: Atmosphären der Stadt: Aufgespürte Räume. Jovis Verlag, 2012, ISBN 978-3-86859-125-5.
  • Michael Hauskeller: Atmosphären erleben: Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 978-3050027135.
  • Burkhard Meyer-Sickendiek: Lyrisches Gespür – Vom geheimen Sensorium der Poesie. Fink, Paderborn/ München 2011, ISBN 978-3-7705-5146-0.
  • Andreas Rauh: Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen. transcript, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-8376-2027-6.
  • Reinhard Knodt: Atmosphären – Über einen vergessenen Gegenstand des guten Geschmacks. In Reinhard Knodt: Ästhetische Korrespondenzen. Reclam, Stuttgart 1994, ISBN 3-15-008986-7, S. 39–70.
  • Hermann Schmitz: Atmosphären. Karl Alber, Freiburg/Br. 2014, ISBN 978-3-495-48674-0.
  • Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen. Projektverlag, Bochum/ Freiburg 2015, ISBN 978-3-89733-367-3.
  • Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. In: Die Güldenkammer. 3, 11, 1913, S. 635–644.
  • Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. 7. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2013.
  • Rainer Goetz, Stefan Graupner (Hrsg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München 2007, ISBN 978-3-86736-101-9.
  • Davor Löffler: Leben im Futur II Konjunktiv. Über das Phänomen Atmosphäre und dessen Bedeutung im Zeitalter der technischen Immersion. In: Institut für immersive Medien (Hrsg.): Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung. Schüren, Marburg 2013, S. 23–37.
  • Radermacher, Martin: „Atmosphäre“: Zum Potenzial eines Konzepts für die Religionswissenschaft. Ein Forschungsüberblick. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 26 (1), 142–194, DOI:10.1515/zfr-2017-0018.
  • Institut für immersive Medien (Hrsg.): Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung. Schüren, Marburg 2013, ISBN 978-3-89472-867-0.
  • Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. Fink, München 2001.
  • Michael Großheim: Atmosphären in der Natur – Phänomene oder Konstrukte? In: R. P. Sieferle, H. Breuninger (Hrsg.): Natur-Bilder: Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte. Campus, Frankfurt am Main 1999, S. 325–365.

Weblinks

  • Christian Julmi, Ewald Scherm: Der atmosphärische Einfluss auf die Organisationskultur. In: SEM Radar. Zeitschrift für Systemdenken und Entscheidungsfindung im Management. Band 11, Nr. 2, 2012, S. 3–37 (archive.org [PDF; 526 kB]).
  • Homepage Atmospheric Spaces
  • Susanne Hofmann: Atmosphäre als partizipative Entwurfsstrategie. Berlin 2013 (kobv.de [PDF; 35,0 MB] Dissertation).

Anmerkungen

  1. Für einen Überblick vgl. die Beiträge bei Goetz/Graupner 2007.
  2. Georg Simmel: Philosophie der Landschaft. In: Die Güldenkammer. 3, 11, 1913, S. 635–644.
  3. Vgl. Andreas Rauh: Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen. Bielefeld 2012, S. 203ff.
  4. Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt am Main 1989, S. 30.
  5. Wolf Langewitz: Beyond content analysis and non-verbal behaviour – What about atmosphere? A phenomenological approach. In: Patient Education and Counseling 53. 2007, S. 319–323.
  6. Jürgen Hasse: Die Stadt als Raum der Atmosphären. Zur Differenzierung von Atmosphären und Stimmungen. In: Die Alte Stadt. 35, 2, 2008, S. 103–116.
  7. Ewald Scherm, Christian Julmi: Einfluss der Atmosphäre. In: OrganisationsEntwicklung. 2, 31, 2012, S. 69–76.
  8. Robert Gugutzer: Atmosphären, Situationen und der Sport. Ein neophänomenologischer Beitrag zur soziologischen Atmosphärenforschung. In: Katrin Auspurg, Herbert Kalthoff, Karin Kurz, Annette Schnabel, Rainer Schützeichel und Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.): Zeitschrift für Soziologie. Band 49, Nr. 5-6. de Gruyter, Oktober 2020, S. 371–390.
  9. Am prominentesten entwickelt in: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 1986, S. 15, ebenso in: Walter Benjamin: Charles Baudelaire: Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt am Main 1974.
  10. Andreas Rauh: Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen. Bielefeld 2012, S. 72f.
  11. Martina Löw: Raumsoziologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001, S. 205.
  12. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 181.
  13. Jordana Cepelewicz: „Sagt unser Gehirn die Zukunft voraus?“ In: Spektrum, 22. April 2019, https://www.spektrum.de/news/sagt-unser-gehirn-die-zukunft-voraus/1613666.
  14. Davor Löffler: Leben im Futur II Konjunktiv. Über das Phänomen Atmosphäre und dessen Bedeutung im Zeitalter der technischen Immersion. In: Institut für immersive Medien (Hrsg.): Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung. Schüren, Marburg 2013, S. 23–37.