Atavismus

Darwin-Ohrhöcker

Ein Atavismus (von lateinisch atavus ‚Urahn‘[1]), veraltet auch Rückschlag, ist das Wiederauftreten von anatomischen Merkmalen bei einem Lebewesen, die bei entfernteren stammesgeschichtlichen Vorfahren ausgebildet waren, bei den unmittelbaren Vorfahren jedoch reduziert wurden, da sie für die gegenwärtige Entwicklungsstufe keinerlei Funktion mehr besitzen.[1] Häufig werden Atavismen daher als Missbildung wahrgenommen. Sie zählen, ebenso wie die Rudimente, zu den klassischen Evolutionsbelegen und können bei allen Lebewesen gleichermaßen auftreten. In einem erweiterten Sinne wird der Begriff auch in der Ethologie für entwicklungsbiologisch ursprüngliche Verhaltensweisen gemeinsamer evolutionärer Vorfahren angewandt. Da es sich um genetisch fixierte Verhaltensweisen handelt, sind ethologische Atavismen zwingend angeboren, nie erlernt.

Anatomische Atavismen

Bei Menschen

Überzählige Brustwarze bei einem Mann
  • Wollige Körperbehaarung, die auch als Hypertrichose bezeichnet wird[3]
  • Hornzipfel[4]
  • Processus supracondylaris, ein knöcherner Fortsatz am Oberarmknochen
  • Darwin-Ohrhöcker, ein Knorpelfortsatz am Außenrand der Ohrmuschel

Bei anderen Tieren

  • Ausbildung von Hinterextremitäten bei Meeressäugetieren wie Walen und Delphinen[3] oder auch Schlangen
  • Ausbildung von Zähnen in den Schnäbeln von Hühnern bei talpid2-Mutanten (könnte als künstlich induzierter Atavismus angesehen werden).[3]
  • spontanes Wiederauftreten von Flügeln bei Flügellosen Fluginsekten[9]

Bei Pflanzen

Weniger bekannt sind Atavismen bei Pflanzen, doch wurden solche bereits im 19. Jahrhundert erforscht.[10] Dazu gehören unter anderem die Pelorienbildung bei Blütenpflanzen, Eschen mit nur ein- oder dreifach gegliederten Blättern (Einblattesche) sowie Kakteen mit auftretenden Blättern.

Bei Bakterien, Pilzen und eukaryotischen Einzellern

Grundsätzlich sollten atavistische Formen auch bei Bakterien, Pilzen und Einzellern auftreten. Allerdings sind sie aufgrund der starken Variabilität dieser Lebewesen und teilweise nicht vollständig geklärter Abstammungsverhältnisse schwieriger eindeutig zu identifizieren und von Neubildungen zu unterscheiden.

Ursachen von Atavismen

Die Bildung von Atavismen kann folgende Ursachen haben:[11]

  • Hemmungsmissbildungen (paratypischer Atavismus): die arttypische Ausdifferenzierung vorübergehend vom Embryo durchlaufener Organbildungsstadien mit Rekapitulation früherer Merkmale bricht durch exogene Störung ab;
  • mutativer Atavismus: durch Mutation bestimmter Gene oder Änderungen der Genregulation mit erneuter Aktivierung reprimierter (latenter) Gene entsteht phänotypisch Ähnlichkeit zu einer Ahnenform;
  • Hybrid-Atavismus (Kombinationsatavismus): Aus einer Stammform entstanden phänotypisch deutlich unterschiedliche Genotypen von Abkömmlingen. Durch deren Kreuzung (Bastardisierung) kommt es zu einer Genkonstellation, die dem Genotyp der Stammform sehr ähnelt und auch eine phänotypische Ähnlichkeit bewirkt.

Verhaltensatavismus

Bei Verhaltensatavismen handelt es sich um angeborene Verhaltensweisen, die im Verlauf der Stammesgeschichte abgelegt wurden. Beispielsweise bauen einzelne Haussperlinge gelegentlich ihre Nester nicht wie üblich, sondern errichten stattdessen Kugelnester, wie sie für ursprüngliche Webervögel charakteristisch sind. Diese atavistischen Kugelnester entstehen nicht durch Nachahmung eines Vorbildes, sondern die Formgebung seines Nistplatzes ist angeboren, der Vogel handelt also rein instinktgesteuert.

Auch das Fight-or-flight-Syndrom des Menschen kann als Verhaltensatavismus gelten, denn dabei treten seine artspezifischen kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten in den Hintergrund zugunsten instinktgesteuerter häufig irrationaler Reaktionen.

Literatur

  • Martin Brandt: Über 2 Fälle von abnormen Ursprung und Verlauf der Art. subclavia dextra, zugleich ein Beitrag zur Frage des sekundären Atavismus. Aus dem Pathologische Institt der Universität Breslau. Breslau 1921, DNB 570018307 (Medizinische Dissertation Universität Breslau 1921, 2 Blätter, 8).
  • Ulrich Kutschera: Evolutionsbiologie. 3. Auflage, Ulmer, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8252-8318-6.
  • Christian Köppel, Axel Steiner: Ein geflügeltes Weibchen von Operophtera brumata (Lin NAEUS, 1758): Ein Fall von Atavismus. In: Atalanta. Band 25, Nr. 3/4, Dezember 1994, ISSN 0171-0079, S. 567–569 (zobodat.at [PDF; 811 kB]).
  • Reinhard Junker: Rudimentäre Organe und Atavismen. Konstruktionsfehler des Lebens? (= Studium integrale: Biologie.) Zeitjournal Verlag, Berlin 1989, ISBN 3-927390-03-8.

Weblinks

Wiktionary: Atavismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Illustrationen von Atavismen beim Menschen:

Illustrationen von Atavismen bei Tieren:

Einzelnachweise

  1. a b Ulrich Lehmann: Paläontologisches Wörterbuch. 4. Auflage. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1996, S. 23.
  2. Jimmy Shad, Rakesh Biswas: An infant with caudal appendage. In: BMJ Case Reports. bcr1120115160, 2012, ISSN 1757-790X, doi:10.1136/bcr.11.2011.5160, PMID 22604513, PMC 3339178 (freier Volltext).
  3. a b c d e Jan Zrzavý, David Storch, Stanislav Mihulka: Evolution Ein Lese-Lehrbuch. Springer, Berlin Heidelberg 2009, ISBN 978-3-642-39695-3.
  4. Peter Altmeyer u. a.: Dermatologische Differenzialdiagnose: Der Weg zur klinischen Diagnose. Springer Science & Business Media, Berlin 2011, ISBN 978-3-540-39001-5, S. 594.
  5. Zuhair Bani-Ismail, Jan F. Hawkins, Jeffrey J. Siems: Surgical correction of polydactyly in a camel (Camelus dromedarius). In: Journal of Zoo and Wildlife Medicine. Band 30, Nr. 2, Juni 1999, ISSN 1042-7260, S. 301–304, PMID 10484151, JSTOR:20095863.
  6. Ch. Stanek, Edith Hantak: Bilateral atavistic polydactyly in a colt and its dam. In: Equine Veterinary Journal. Band 18, Nr. 1, 1986, ISSN 0425-1644, S. 76–79, doi:10.1111/j.2042-3306.1986.tb03546.x, PMID 3948838.
  7. Spencer M. Barber: Unusual polydactylism in a foal. A case report. In: Veterinary surgery: VS. Band 19, Nr. 3, Mai 1990, ISSN 0161-3499, S. 203–207, doi:10.1111/j.1532-950X.1990.tb01169.x, PMID 2349776.
  8. F. K. Al-Ani, N. Q. Hailat, M. A. Fathalla: Polydactyly in Shami breed goats in Jordan. In: Small Ruminant Research. Band 26, Nr. 1, Dezember 1997, ISSN 0921-4488, S. 177–179, doi:10.1016/S0921-4488(96)00955-8.
  9. Christian Köppel, Axel Steiner: Ein geflügeltes Weibchen von Operophtera brumata (Lin NAEUS, 1758): Ein Fall von Atavismus. In: Atalanta. Band 25, Nr. 3/4, Dezember 1994, ISSN 0171-0079, S. 567–569 (zobodat.at [PDF; 811 kB; abgerufen am 27. Februar 2022]).
  10. Konstantin Freiherr von Ettingshausen, Franz Krasan: Beiträge zur Erforschung der atavistischen Formen an lebenden Pflanzen und ihrer Beziehungen zu den Arten ihrer Gattung. 3 Teile (1888–1889). K.&K. Hof- und Staatsdruckerei, Wien. (zobodat.at [PDF; 1,7 MB; abgerufen am 27. Februar 2022], II. Folge: zobodat.at [PDF], III. Folge und Schluss: zobodat.at [PDF])
  11. Atavismus. In: Lexikonredaktion des Bibliographischen Instituts (Hrsg.): Meyers Großes Taschenlexikon. Band 2. Anh – Bahn. Mannheim / Wien / Zürich 1983, ISBN 3-411-02102-0, S. 210.

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