Atavismus (Soziologie)

Mitunter wurden Schiffbrüchige zu Kannibalen. Das Gemälde Das Floß der Medusa (1819) von Théodore Géricault behandelt diesen Atavismus.

Ein Atavismus (von lateinisch atavus ‚Urahn‘) im soziologischen,[1] kulturgeschichtlichen[2] oder gesellschaftswissenschaftlichen Sinn ist ein kultureller Rückfall in angenommene urtümliche, primitive oder überwunden geglaubte Zustände menschlicher Gesellschaften.[3] Der Begriff leitet sich vom biologischen Atavismus ab. Er ist negativ besetzt und kennzeichnet Entwicklungen, die als zivilisatorischer oder gesellschaftlicher Rückschritt empfunden werden.

In der Geschichtsauffassung bezeichnen Atavismen gesellschaftliche Zusammenhänge und Sachverhalte, die als Rückfall in archaische Zeiten der Menschheitsgeschichte erscheinen. Ebenso bezeichnet man überholte Regierungsformen, die formal Merkmale vergangener Entwicklungsetappen aufweisen, als Atavismen.

In Bezug auf eine Einzelperson kennzeichnet der Atavismus eine Auffassung oder ein Verhalten, das einem veralteten Weltbild entspricht.

Beispiel

Der Roman Herr der Fliegen von William Golding aus dem Jahre 1954 bietet die literarische Darstellung eines kulturellen Atavismus. Nach einem Flugzeugabsturz finden sich die von der Kultur und Zivilisation des 20. Jahrhunderts geprägten 6- bis 12-jährigen Jungen ohne den Einfluss von Erwachsenen auf einer Insel wieder. Das Verhalten der Kinder verroht mehr und mehr, Konflikte werden gewalttätig gelöst, und schließlich kommt es zu Folter, Blutrache und Götzenverehrung.[4]

Literatur

  • Veit Loers, Gregor Jansen: Avatar und Atavismus, Outside der Avantgarde. Kunsthalle Düsseldorf (Übersetzung: Anthony DePasquale), Kehrer, Heidelberg / Berlin 2015, ISBN 978-3-86828-664-9.
  • Sibylle Tönnies: Die Feier des Konkreten: linker Salonatavismus. Steidel, Göttingen 1996, ISBN 3-88243-392-2.
  • Stephanie Nestawal: Monstrosität, Malformation, Mutation: von Mythologie zu Pathologie. Lang, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / Bruxelles / New York, NY / Oxford Wien 2010, ISBN 978-3-631-59932-7 (Dissertation Universität Wien 2008, 313 Seiten, 21 cm, unter dem Titel: (T)er(r)ata – vom Wunder zum Irrtum).

Weblinks

Wiktionary: Atavismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Werner Fuchs-Heinritz und andere (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. 5. Auflage. Springer, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-531-19670-1, S. 62 („Umgangssprachlich hat sich hieraus [aus dem evolutionsbiologischen Begriff] in der Soziologie entwickelt: Rückfall von Einzelnen oder sozialen Einheiten in angenommene früh- oder vormenschliche Verhaltensweisen oder Vorstellungen.“).
  2. Vgl. Friedrich von Hellwald: Culturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart. Zweite neu bearbeitete und sehr vermehrte Auflage. Band 1. Augsburg 1876, S. 28 f. Von da hat ihn Friedrich Nietzsche übernommen, siehe Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner = Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Hrsg.: Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Band 6/2. Berlin/Boston 2013, S. 374 f.
  3. Der Neue Brockhaus. Fünfte, völlig neubearbeitete Auflage. Erster Band A–EIC. F. A. Brockhaus, Wiesbaden 1973, S. 144.
  4. Böse Parabel. Reprise: „Herr der Fliegen“. In: Zeit Online. 22. Juli 1983, abgerufen am 23. April 2015.

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