Arbeitserziehungslager Hirzenhain
Das Arbeitserziehungslager Hirzenhain war eine der Maßnahmen zur Beschaffung von Arbeitskräften in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges zwischen Mitte 1943 und Kriegsende 1945 für die Rüstungsindustrie der auf Kriegsökonomie ausgerichteten Deutschen Volkswirtschaft.
Das Arbeitserziehungslager war eine Außenstelle des von der Gestapo betriebenen Arbeitserziehungslagers Heddernheim. Das Arbeitslager versorgte die Breuer-Werke AG, eine Tochter der Buderus AG aus Wetzlar, mit Strafgefangenen und Zwangsarbeitern als Arbeitssklaven.
Entstehung
Die damals 600 Einwohner zählende, dem Landkreis Büdingen angehörigen Gemeinde Hirzenhain liegt am Niddertal am Rande des Vogelsberges. Hirzenhain als Standort der Buderusschen Fabrikanlagen schien den Rüstungskommandos und Betriebsdirektoren der Breuer-Werke in Frankfurt-Höchst aufgrund seiner in einem engen Tal zwischen zwei bewaldeten Hügeln geschützten Lage und der vorhandenen Infrastruktur eine geeignete Ausweichstätte, um der ständigen Gefahr der Luftangriffe auf das Rhein-Main-Gebiet auszuweichen. Bis dato stellte das Werk eiserne Öfen und Badewannen her.
Zum 30. Juni 1943 stellte die Buderusschen Eisenwerke GmbH ihren Betrieb offiziell ein, die Breuer-Werke meldeten sich zum 1. Juli 1943 als Wehrrüstungsbetrieb in Hirzenhain an. Die vorhandenen Werksanlagen wurden grundlegend modernisiert und auf die besonderen Verhältnisse der Zwangsarbeit umgestellt. Das Werksgelände vergrößerte sich um die Barackenlager der Zwangsarbeiter. Die Einwohnerzahl Hirzenhains verdoppelte sich durch Breuer und Evakuierte so bis Kriegsende. Hinzu kamen hunderte Fremdarbeiter, Strafgefangene und Schutzhäftlinge.
Rekrutierung der Zwangsarbeiter
Im Jahr 1942 wurde der nationalsozialistischen Führung Deutschlands zunehmend klar, dass der materialintensive Zweifrontenkrieg die weitere Erschließung von Produktionskapazitäten für die Rüstungsindustrie erforderte. Zu diesem Zweck wurden weite Teile der deutschen Volkswirtschaft unter staatlicher Führung und Aufsicht auf Kriegsökonomie umgestellt. Mit der Dauer des Krieges wurde es zunehmend schwierig, die im Kriegseinsatz befindlichen deutschen Männer in allen Bereichen der Wirtschaft zu ersetzen. Zu diesem Zweck griff der Staat auf Zwangsarbeiter vor allem aus der besetzten Sowjetunion sowie Teilen Polens zurück. Verantwortlich zeichnete das Reichsarbeitsministerium unter der Leitung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) Fritz Sauckel. Zudem waren die Zwangsarbeiter für die Unternehmen billiger und der Staat konnte Einnahmen aus Verleihgebühren und „Ausländersonderabgaben“ erzielen, ein für beide Seiten vorteilhaftes Geschäft.
Die geplanten Produktionslinien der Breuer-Werke waren insbesondere für den ab 1942 in Serie gehenden Panzerkampfwagen VI Tiger vorgesehen und damit von besonderem staatlichen Interesse.
Die Sklavenarbeiter der Breuer-Werke in Hirzenhain wurden aus drei unterschiedlichen Quellen requiriert und in getrennten Lagerbereichen untergebracht, die sich nördlich an das Werk anschlossen.
Rodgaulager für Kriegsgefangene ab 1943
Das Strafgefangenenlager Rodgau-Dieburg (Stammlager I) existierte seit 1938 und diente ausdrücklich zur Arbeitskraftverwertung von Strafgefangenen, die von Oberlandesgerichten deutscher Ostgebiete und den ins Deutsche Reich eingegliederten Teilen des besetzten Polens verurteilt und dem Generalstaatsanwalt in Darmstadt zugewiesen worden waren. Untergebracht waren dort nur außenarbeitsfähige Gefangene. Deren Zahl betrug Ende März 1942 2611 Häftlinge. Am 30. April 1942 fand in dem der Staatsanwaltschaft Darmstadt unterstehenden Lager eine Besprechung über die zukünftige Verwendung der Häftlinge in der Rüstungsproduktion statt. Im Dezember 1942 schlossen der Vorstand des Gefangenenlagers und die Breuer-Werke in Frankfurt-Höchst einen Vertrag über die Zurverfügungstellung von 320 weiblichen polnischen Strafgefangenen für deren Außenstelle in Hirzenhain ab. Die Polinnen waren in einem abgegrenzten und geschlossenen Barackenbereich untergebracht. Die Zahlen erhöhten sich weiter, so dass am 11. November 1943 239 und am 30. Oktober 1944 391 Gefangene im Lager Hirzenhain untergebracht waren.
Lager für ausländische Zwangsarbeiter ab 1944
Im Arbeitseinsatz in den Breuer-Werken befanden sich ab 1944 auch viele Zwangsarbeiter, die aus ihrer Heimat als Ersatz für die im Krieg befindlichen deutschen Männer geworben oder verschleppt wurden. Im Gegensatz zu den anderen Arbeitern in den Lagern konnten die Zwangsarbeiter das Lager verlassen und sich vereinzelt in der Gemeinde Hirzenhain ein Zubrot verdienen. Das Lager wurde durch Breuer selbst betrieben. Im Januar 1944 kamen dort 236 Personen zum Einsatz, davon 181 russische und polnische Frauen. Bis 1944 war die Zahl der Zwangsarbeiter auf 467 angewachsen, davon 72 Polen, 382 Ostarbeiter, fünf Niederländer, 26 Flamen, ein Italiener, und vier Staatenlose. Im Januar 1945 war das Lager mit 938 Personen belegt, davon 564 Ostarbeiter, 166 Italiener, 127 Ukrainer, 53 Polen, 17 Belgier und zehn Niederländer.
Arbeitserziehungslager für Frauen ab 1944
Das Arbeitserziehungslager für Frauen wurde im Sommer 1944 als eigenständiges Frauenarbeitserziehungslager eingerichtet und unterstand der Gestapo Frankfurt. Das Lager war für 250 bis 300 Frauen vorgesehen. Im Lager waren mehr als 100 polnische Frauen untergebracht, die nach Abgeltung ihrer Haftstrafe den Breuer-Werken als eingearbeitete Kräfte erhalten bleiben sollten. Arbeitserziehungslager Heddernheim
Produktion
Die Breuer-Werke produzierten während ihres Bestehens in Hirzenhain
- Zylinderguss – Kurbelgehäuse, Zylinderköpfe, Saugrohre, Zylinderguss für den eigenen Motorenbau,
- Stromerzeugungsaggregate – für das Funkmess-Programm sowie die Panzertruppe, schnelle Truppen und für Träger-Frequenz,
- Sternpumpen für hydraulische Steuerungen der Panzer „Tiger“ und „Panther“.[1]
Massenmord an den Gefangenen 1945
Am 23. März 1945 standen Truppen der 3. US-Armee vor Wiesbaden und Mainz. Am 24. März erreichten sie Darmstadt und am 25. März die südlichen Stadtteile Frankfurts. Seit Anfang März wurden die Rückzugspläne für den sogenannten Alarmfall vorbereitet, nach denen sich der Befehlshaber der Sipo und des SD-Rheinland-Westmark in Wiesbaden, der SS-Oberführer und Oberst der Polizei, Hans Trummler, mit seinem 50–60 Personen umfassenden Stab in das Arbeitserziehungslager Hirzenhain zurückziehen sollten.
Ein 13 bis 16 Mann starkes Vorauskommando unter Befehl des SS-Hauptscharführers Emil Fritsch traf am 15. März im Lager Hirzenhain ein. Das Lager war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geräumt. Am 19. März gab die vorgesetzte Dienststelle der Gestapo in Frankfurt am Main dem Lagerleiter, SS-Hauptsturmführer und Polizei-Inspektor Karl-Ludwig Weimar, den Befehl zur Teilräumung. Sogenannte leichte Fälle, insbesondere deutsche Frauen, wurden daraufhin entlassen. Die aufgrund eines Schutzhaftbefehls des Reichssicherheitshauptamtes für die Einweisung in ein KZ vorgesehenen Frauen wurden in einem Evakuierungsmarsch nach Harmerz bei Fulda verschleppt.
Am 22. März erhielt der Chef der Frankfurter Gestapo, Reinhard Breder, von SS-Oberführer Hans Trummler den Befehl, das Lager innerhalb von 24 Stunden zu räumen, damit er es mit seinem Stab belegen konnte. Trummlers Adjutant, SS-Hauptsturmführer und Kriminalkommissar Anton Wrede, reiste am 23. März abends in Hirzenhain an und übernahm das Kommando des ehemaligen Arbeitserziehungslagers.
In der Nacht vom 23. auf den 24. März wurden 49 weibliche Gestapo-Häftlinge aus Frankfurt mit der Bahn nach Hirzenhain transportiert, wo sie noch in der Nacht ankamen. Es handelte sich um namentlich bekannte Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich, Luxemburg und Deutschland. Während des Transportes flohen fünf der Frauen trotz der Aufsicht zweier Polizeibeamter. Das Lager war längst nicht mehr für die Aufnahme von Häftlingen vorgesehen, so dass es am Abend des 24. März zwischen Anton Wrede und dem vorübergehend anwesenden Reinhard Breder zu einer Entscheidung über den Verbleib der Neuankömmlinge und der noch im Lager befindlichen Frauen gekommen sein muss.
Am Nachmittag des 25. März wählten Wrede aus den 49 Frankfurter Häftlingen und die Lagerleitung des Gestapolagers nach Aktenlage aus den verbliebenen AEL-Häftlingen zwei Gruppen aus, die angeblich am nächsten Morgen dem Arbeitsamt Büdingen überstellt werden sollten. Am gleichen Nachmittag hob eine Gruppe männlicher Häftlinge unter Aufsicht der SS-Männer des Vorauskommandos etwa 800 m vom Lager entfernt eine Grube aus. Auf Nachfrage einer Aufseherin über die Größe der Grube erklärte SS-Hauptscharführer Fritsch: „Das wird ein Benzinlager.“ Auch den sonst von den Aufseherinnen begleiteten Entlassungstransport nach Büdingen werde er mit seinen Männern erledigen. Die Arbeiten blieben der Bevölkerung nicht verborgen.
Die zwei Gruppen, die Frauen aus dem Frankfurter Gestapolager zuerst und nach fünf Uhr die aus dem Lager ausgewählten Häftlinge, vermutlich marschunfähige, wurden aus dem Lager von SS-Männern in Richtung Glashütten geführt. Die Gruppen warteten im Wald, während jeweils zwei Häftlinge aus dem Wald gezerrt und in die nachmittags eigens dafür ausgehobene Grube gestoßen wurden. Dort schossen Emil Fritsch und junge volksdeutsche SS-Männer mit Maschinenpistolen auf die Häftlinge. Wrede meldete später seinem Vorgesetzten Trummler bei dessen Eintreffen: „Die Angelegenheit mit den Russenweibern ist erledigt.“ Ermordet wurden 81 Frauen und sechs Männer.
Entschädigung
Im Jahre 2000 trat die Buderus AG der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern bei, die mit 10 Milliarden Deutsche Mark die Hälfte der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ finanzierte, um ehemalige Zwangsarbeiter des NS-Regimes zu entschädigen.
Literatur
- Michael Keller: »Das mit den Russenweibern ist erledigt« – Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit, Gestapo-KZ, Massenmord einer SS-Kampfgruppe und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit am Tatort in Hirzenhain wie auf dem Kriegsgräberfriedhof im Kloster Arnsburg. 1943-1996. 2. durchges. und stark erw. Aufl. Bindernagel, Friedberg 2000, ISBN 3-87076-087-7 (= Wetterauer Geschichtsblätter 47).
- Klaus D. Rack, Monica Kingreen, Dirk Richhardt: Fern der Heimat unter Zwang : der „Einsatz fremdländischer Arbeitskräfte“ während des Zweiten Weltkriegs in der Wetterau. Geschichtsverein für Butzbach und Umgebung, Butzbach 2004, ISBN 3-9802328-8-3, S. 112–114.
- LG Gießen, 1. März 1951. In: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. VIII, bearbeitet von Adelheid L. Rüter-Ehlermann, H. H. Fuchs, C. F. Rüter. Amsterdam : University Press, 1972, Nr. 268, S. 219–245 Erschiessung von 81 weiblichen und 6 männlichen Häftlingen des AEL und des 'Erweiterten Frauengefängnisses' Hirzenhain bei der Räumung des Lagers unmittelbar vor Einmarsch der Amerikaner
Einzelnachweise
- So weit nicht anders belegt aus Keller, Michael: „Das mit den Russenweibern ist erledigt“ – siehe Literatur
- ↑ Schreiben des Chefs des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes der SS anlässlich eines Besuchs am 31. Januar 1944, Buderus-Werksarchiv 179.2-51
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Autor/Urheber: Sven Teschke, Lizenz: GFDL 1.2
Die Sandsteinkreuz in Hirzenhain für die dort von der SS ermordeten 87 Häftlinge. Die Inschrift der ersten Tafel lautet:
An dieser Stelle wurden in den Morgenstunden des 26. März 1945 81 Frauen und 6 Männer aus rassistischen Gründen von einem SS-Kommando ermordet.
Die 87 ermordeten - Deutsche, Russinnen, Französinnen, Polinnen, eine Luxemburgerin und viele für immer Unbekannte - waren Gefangene eines einen Kilometer von hier gelegenen sogenannten "Arbeitserziehungslagers" der Gestapo, einer Vorstufe der Nationalsozialistischen Vernichtungslager.
Als Häftlinge der Gestapo fertigten sie - ausgebeutet und erniedrigt - in der angrenzenden Fabrik Panzerteile.
Die Inschrift der zweiten Tafel lautet:
Dieses Sandsteinkreuz war ursprünglich Teil der 1945 errichteten Gedächtnis- und Begräbnisstätte für die 87 ermordeten mitten in Hirzenhain.
Geöffnetes Massengrab beim Arbeitserziehungslager Hirzenhain.
Geöffnetes Massengrab beim Arbeitserziehungslager Hirzenhain.
The tank is Tiger captured by Allied Forces in WWII near Tunis North Africa. MG Bennett commanded the ordinance intelligence unit, which arranged for its shipment to Aberdeen Proving Grounds, Maryland, where it resides in a museum.