Arbeiterkolonie

Der Ausdruck Arbeiterkolonie bezeichnet die Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen sozialen Einrichtungen für arme Wanderarbeiter und Obdachlose. In verwandtem Sinn wurden die Bezeichnungen Wanderhof, Wanderarbeitsstätte oder Herberge zur Heimat gebraucht.[1]

Die Industrialisierung und die nach dem Boom der Gründerzeit einsetzende Wirtschaftskrise trieb viele arbeitsuchende Männer auf die Straße. Die Arbeits- und Obdachlosen erhielten zu dieser Zeit keinerlei staatliche Unterstützung. Die ersten Arbeiterkolonien wurden von der protestantischen Kirche aus dem Motiv der Inneren Mission heraus als Herbergen zur Heimat gegründet. Die von Adolph Kolping geschaffenen katholischen Gesellenvereine hatten eine ähnliche Zielsetzung.

Hintergrund und Zielsetzung

Mitgliedskarte des Schwesternshauses in Hannover im Verein gegen Hausbettelei, 1880

Als Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre die Wanderbettelei in Deutschland einen so erheblichen Umfang erreicht hatte, dass man sie vielerorts als Landplage empfand, begann man nach wirksamen Gegenmaßnahmen zu suchen. Man wollte sich vor den angeblichen Gefahren der gewerbsmäßigen Landstreicherei schützen, zugleich aber auch den hilfsbedürftigen und wegen der Arbeitslosigkeit auf die Straße gewiesenen Wanderern in zweckmäßiger Weise Unterstützung gewähren. Zwar hatte die protestantische und die katholische Kirche in dieser Hinsicht bereits Maßnahmen ergriffen und die Vereine gegen Hausbettelei stellten mancherorts kleine Geldgeschenke oder eine Anweisung auf Beköstigung und Nachtlager zur Verfügung, doch reichten diese Einzelmaßnahmen nicht aus. Die Erfolge waren dürftig, weil es an einer festen Organisation der Hilfstätigkeiten für ganze Länder fehlte oder weil man eben bloß die äußere Erscheinung der Wanderbettelei bekämpfte, nicht aber deren Ursachen.

Als Ursache für die herrschenden Missstände sah die Kirche die Abkehr weg von der kirchlich dominierten festen Weltordnung hin zu einer diesseits orientierten liberalistischen Gesellschaft (arbeitsunwillige „zuchtlose“ Arbeiter auf der einen – und rein profitorientierte Unternehmer auf der anderen Seite).

Pastor Friedrich von Bodelschwingh in Bethel entschloss sich, „arbeitslosen Menschen Arbeit zu geben und durch christliche Zucht und Ordnung haltlosen gescheiterten Menschen den Rücken zu stärken und ihnen den Glauben an sich selbst und an Gott nahe zu bringen“.

Ursprüngliche Ziele waren also die Wiedergewöhnung an ein geregeltes Leben mit dem Ziel der Vermittlung in ein festes Arbeitsverhältnis. Dies schien durch einen stationären Aufenthalt leichter erreichbar.

Die Entscheidung, für drei bis sechs Monate in eine Arbeiterkolonie zu gehen, war im Prinzip zunächst freiwillig. Aufgenommen wurden entsprechend der dahinterstehenden Idee mehr oder weniger arbeitsfähige Personen. Die erteilte Erlaubnis zur Unterkunft in einer Arbeiterkolonie erfolgte mit der Auflage der Arbeitspflicht, meist in einfacheren Aufgaben, jedoch oft körperlich schwerer Tätigkeit, z. B. in der Landwirtschaft, Moorkultivierung usw. Oft gab es autoritäre Führungsstrukturen und äußerst strenge Verhaltensregeln mit harter Bestrafung. Es gab nur einen geringen Arbeitslohn, ein Teilbetrag davon wurde zudem für Unterkunftskosten und Sozialversicherung einbehalten. Viele Insassen zogen bald wieder die Freiheit vor und entflohen, auch war die Selbsttötungsrate hoch.

Geschichte der Arbeiterkolonien

Im Jahr 1879 erfuhr Pastor Bodelschwingh, dass in Belgien bereits Arbeiterkolonien („fermes hospices“) existierten, und befand, das Modell könnte auch für die Verhältnisse im Deutschen Reich sinnvoll sein.

Am 22. März 1882 gründete er in Wilhelmsdorf die erste deutsche Arbeiterkolonie.[2] Aus ihr entwickelte sich später die Teilanstalt Eckardtsheim der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Zunächst fand seine Idee nur zögerlich Verbreitung, so dass er selbst weitere Kolonien in Freistatt (Landkreis Diepholz) und der Nähe von Berlin (Hoffnungstal, Lobetal und Gnadental) gründete. 1884 existierten dann aber bereits 20 Arbeiterkolonien in Deutschland. Insgesamt wurden im Deutschen Reich 33 Arbeiterkolonien eingerichtet.

Im September 1886 eröffnete in Düring bei Loxstedt unter dem Namen Friedrich Wilhelmsdorf mit 12 Kolonisten die erste Heimatkolonie. In den sogenannten Heimatkolonien sollten „denjenigen, welche sich in den Arbeitskolonien als brauchbar erwiesen haben, die Möglichkeit geboten werden, durch eigene (landwirtschaftliche) Arbeit sich seßhaft zu machen.“[3]

Mit Einführung der Arbeitsämter (1927), der Arbeitslosenversicherung (1927) und von Tarifverträgen sank die Zahl der Wanderarbeiter in den Zwanziger Jahren rapide. Viele Arbeiterkolonien (bzw. ihre Betreiber) bangten regelrecht um ihre Existenz und suchten daher eine erweiterte bzw. geänderte Aufgabenstellung. Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 stiegen die Zahlen wieder an.

Im Dritten Reich wurde der ursprüngliche Gedanke geändert. Die Kolonien dienten dazu, diese sozialen Randschichten systematisch unter Kontrolle zu halten und Bettler, „Arbeitsscheue“ und andere „Asoziale“ vom Kontakt mit der bürgerlichen Welt abzuschneiden.[4] Das „Fahrende Volk“ sollte entsprechend dem nationalsozialistischen Weltbild von der Bindung des Volkes an die Scholle („Blut und Boden“) zwangsweise sesshaft gemacht werden.

Es wurden Landesverbände für „Wander- und Heimatdienst“ gegründet, viele Wanderarbeiter wurden nun zwangsweise mit polizeilichen Mitteln in die Arbeiterkolonien verfrachtet. Viele Insassen wurden in Konzentrationslager überwiesen und kamen dort ums Leben.

Nach Einführung des Reichsarbeitsdienstes in den 1930er Jahren nahm die Zahl der Aufnahmesuchenden meist ab.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das ursprüngliche Aufgabenspektrum häufig erweitert und in betreute gemeinschaftliche Wohnformen für psychisch Kranke, Suchtkranke, Behinderte, verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, sowie pflegebedürftige ältere Menschen umgewandelt.

Liste der Arbeiterkolonien

Deutschland und ehemaliges Deutsches Reich

NameOrtGründungAnmerkungen
Arbeiterkolonie Wilhelmsdorfin der Bielefelder Senne22. März 1882[3]auch Senne und später Eckardtsheim genannt (zu Bethel)
Arbeiterkolonie RicklingFlintbek, Schleswig-Holstein10. Oktober 1883[3]Ab 1939 „Heidehof“.
Arbeiterkolonie Kästorfbei Gifhorn24. Juni 1883[3]Heute „Diakonie Kästorf“.[5]
Arbeiterkolonie FriedrichswilleProvinz Brandenburg13. November 1883[3]
Arbeiterkolonie Dornahofbei Altshausen15. November 1883[3]
Arbeiterkolonie SeydaSeyda, Landkreis Wittenberg14. Dezember 1883[3]
Arbeiterkolonie Dauelsbergbei Delmenhorst8. Februar 1884[3]
Arbeiterkolonie WunschaProvinz Schlesien14. Juli 1884[3]
Arbeiterkolonie Meiereiheute Kalina, Provinz Pommern25. Juli 1884[3]
Arbeiterkolonie CarlshofProvinz Ostpreußen15. Oktober 1884[3]
Arbeiterkolonie AnkenbuckBad Dürrheim26. Februar 1885[3]für Jugendliche, später Konzentrationslager-Außenstelle
Arbeiterkolonie Neu-UlrichsteinHessen1. Juli 1885[3]
Arbeiterkolonie LühlerheimSchermbeck15. Februar 1886[3]
Arbeiterkolonie SchneckengrünRosenbach/Vogtl., Königreich Sachsen22. Februar 1886[3]
Katholische Arbeiterkolonie St. JosefElkenroth20. Oktober 1886[3]
Arbeiterkolonie Simonshofin der Rhön, bei Bad Neustadt an der Saale1. Mai 1888[3]dann „Wanderhof Simonshof“
Arbeiterkolonie Haus Maria-VeenReken1. Oktober 1888[3]
Arbeiterkolonie Alt-LatzigPosen (heute zu Polen)26. Oktober 1888[3]
Arbeitskolonie GeilsdorfGeilsdorf, Stadtilm, Thüringen28. Juli 1889[3]
Arbeiterkolonie ErlachSulzbach an der Murr, Königreich Württemberg1. April 1891[3]heute „Diakonie Erlacher Höhe“.[6]
Arbeiterkolonie HohenhofProvinz Schlesien2. Januar 1892[3]
Arbeiterkolonie HilmarsdorfKonitz, Provinz Westpreußen (heute Chojnice, Polen)17. Januar 1892[3]auch: Provinzial-Besserungsanstalt
Arbeiterkolonie HerzogsägmühlePeiting1. August 1894im Dritten Reich: Zentralwanderhof
Arbeiterkolonie FreistattSamtgemeinde Kirchdorf1899Bethel. 1899 gegründet zunächst als „Betheler Zweiganstalt im Wietingsmoor“.
Arbeiterkolonie, dann Wanderhof Bischofsriedbei Dießen am Ammersee
Arbeiterkolonie BodenheimBodenheim
Arbeiterkolonie Czyzeminek (Czyżeminek)bei Pabianice, Nähe Łódź, Polen
Arbeiterkolonie Eremitagein Bretzenheim
Arbeiterinnen-Kolonie Frauenheim (auch: Mägde- und Frauenhort)Groß-Salze (heute Wieliczka, Polen)
Arbeiterinnen-Kolonie GeorgenriedWaakirchen
Arbeiterkolonien Hoffnungstal, Lobetal, Gnadental, (heute: Hoffnungstaler Stiftung Lobetal)Bernau bei Berlin1905im Verbund mit von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel/Bielefeld; bis 2010 in Träger: Verein Hoffnungstal e. V., seit 2011 Träger: Hoffnungstaler Stiftung Lobetal
Arbeiterkolonie „Hilf mir“Idar-Oberstein1928auch: Niederreidenbacher Hof
Arbeiterkolonie und Verpflegungsstation MagdeburgMagdeburg
Arbeiterkolonie Marburg (Haus „Männer V“, „Abteilung für chronische Kranke“, bei der damaligen Irrenheilanstalt)Marburg
Arbeiterkolonie Neu-KrenzlinSchwerin, Mecklenburg-Vorpommern
Arbeiterkolonie Reinickendorfer StraßeBerlin
Hamburger Arbeiterkolonie SchäferhofAppen, Kreis Pinneberg1898Keimzelle ist die Hamburger Arbeiterkolonie am Neustädter Neuerweg in Hamburg, die 1891 gegründet wurde.
Arbeiterkolonie SchernauMaertinshöhe[7]
Arbeiterkolonie SegenbornKöln
Arbeiterkolonie St. Antoniusheim VredenVreden1908
Katholische Arbeiterkolonie St. Petrusheimbei Weeze
Arbeiterkolonie Silbermühlebei Nürnbergdann: Wanderhof Silbermühle
Katholische Arbeiterkolonie VellerhofBlankenheim (Ahr)
Jüdische Arbeiterkolonie Weißensee1902[8]Selbsthilfeprojekt, gegründet von Martin Philippson, Berlin.
Israelitische Arbeiterkolonie in der Gemeinde Neu-Weißenseesie entstand mit der Einrichtung des Weißenseer Jüdischen Friedhofs im aufstrebenden nördlichen Vorort der preußischen Hauptstadt Berlin. Im Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie aufgelöst.


Ausland

Die aus Belgien stammende, dann in Deutschland stark verbreitete, Idee der Arbeiterkolonien wirkte auch ins Ausland zurück, wenn auch die (teils stark abgewandelte) Umsetzung nicht immer erfolgreich war. Der Leiter der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen und Publizist Friedrich Fabri (1824–1891), aktiv in der Kolonialbewegung des späten 19. Jahrhunderts, schlug eine Verschiffung von resozialisierten Insassen nach Übersee vor, die sich dann in dort ebenfalls zu errichtenden Arbeiterkolonien eine neue Existenz (und der deutschen Exportindustrie einen Absatzmarkt) aufbauen sollten.

Unabhängig davon entstanden:

  • Deutsche Arbeiterkolonie London, Großbritannien
  • Dietisberg, Läufelfingen, Kanton Basel-Land, Schweiz
  • Herdern, bei Frauenfeld, Schweiz
  • Libury Hall, bei Ware (Nähe Hertford), Großbritannien (Teil einer deutschen Arbeitersiedlung, “almost served as a German workhouse for the indoor relief of paupers”[9])

Literatur

  • Annette Eberle (Verf.) / Herzogsägmühle (Innere Mission München – Diakonie in München und Oberbayern e. V.)(Hrsg.): Die Arbeiterkolonie Herzogsägmühle. Beiträge zur Geschichte der bayerischen Obdachlosenhilfe. Peiting 1994.
  • Matthias Benad, Hans-Walter Schmuhl: Bethel-Eckardtsheim: Von der Gründung der ersten deutschen Arbeiterkolonie bis zur Auflösung als Teilanstalt (1882–2001). Kohlhammer, Stuttgart 2005?, ISBN 3-17-019018-0.
  • Zentralverband Deutscher Arbeiterkolonien (Hrsg.), Hannes Kiebel, Heinz Oelhoff (Red. u. Gestaltung): Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien. „Arbeit statt Almosen“ – Hilfe für obdachlose Wanderarme 1884-1984. VSH-Verlag Soziale Hilfe, Bielefeld 1984, ISBN 3-923074-01-8.
  • Manfred Klaar: Nichtseßhaftigkeit in der BRD und das System der Nichtseßhaftenhilfe: eine Darstellung unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterkolonie. Diplomarbeit. FH Kiel, FB Sozialwesen, 1987.
  • Wolfgang Spellmeyer: Ressourcenorientierte Sozialtherapie im stationären Hilfesystem von wohnungslosen Männern am Beispiel des Haus Bruderhilfe. Was wirkt in der Sozialtherapie aus Sicht der Klienten und Professionellen? Logos Verlag Berlin GmbH, 2012, Seiten 33 bis 40 zur Situation der Arbeiterkolonien.
  • 100 Jahre Katholische Arbeiterkolonien im Rheinland. Rheinischer Verein für Katholische Arbeiterkolonien. Aachen, 1986
  • Arbeiterkolonien. In: Meyers Konversationslexikon, 1905
  • Jürgen Scheffler (Hrsg.): Bürger & Bettler. Materialien und Dokumente zur Geschichte der Nichtseßhaftenhilfe in der Diakonie. Bd. 1: 1854 bis 1954. Bielefeld 1987.
  • Roland Paul, Nikolaus Götz, Dieter Müller: Die Schernau. Von der Arbeiterkolonie zu den Alten- Pflege- und Übergangsheimen. Martinshöhe 1999.
  • Fermes-hospices des deux Flandres, in: Bulletin de la Commission centrale de statistique, Bd. IV, Ed. Ducpétiaux, Brüssel 1851, S. 123–145.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Zu den Begriffen vgl. Wolfgang Ayaß: „Vagabunden, Wanderer, Obdachlose und Nichtsesshafte“. Eine kleine Begriffsgeschichte der Hilfe für Wohnungslose, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 43 (2013), Heft 1, S. 90–102.
  2. Vgl. Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, II. Abteilung: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890), 7. Band: Kommunale Armenpflege, bearbeitet von Wilfried Rudloff, Darmstadt 2015, Nr. 20.
  3. a b c d e f g h i j k l m n o p q r s t u v w Christian Aschoff: retro|bib - Seite aus Brockhaus Konversationslexikon: Arbeitermarseillaise - Arbeiterschutzgesetze. Abgerufen am 18. Juni 2018.
  4. Vgl. Wolfgang Ayaß: Die Verfolgung der Nichtseßhaften im Dritten Reich. Der ZVAK im Dritten Reich 1933-1945, in: Zentralverband Deutscher Arbeiterkolonien (Hrsg.), Ein Jahrhundert Arbeiterkolonien, Bielefeld 1984, S. 87–101.
  5. Stiftung Diakonie Kästorf. Abgerufen am 18. Juni 2018 (deutsch).
  6. Erlacher Höhe: Erlacher Höhe. Abgerufen am 18. Juni 2018.
  7. Die Schernau | Die Schernau. Abgerufen am 18. Juni 2018 (deutsch).
  8. Ursula Röper, Carola Jüllig: Die Macht der Nächstenliebe: einhundertfünfzig Jahre innere Mission und Diakonie 1848-1998. 2007, S. 107
  9. Panikos Panayi: The Settlement of Germans in Britain. (PDF; 468 kB) In: IMIS-Beiträge. Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, Juni 2000, S. 40, archiviert vom Original am 9. Juni 2007; abgerufen am 28. Juli 2017.

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