Anna Haag (Politikerin)

Anna Haag (* 10. Juli 1888 in Althütte als Anna Pauline Wilhelmine Schaich; † 20. Januar 1982 in Hoffeld (Stuttgart)) war eine deutsche Schriftstellerin, Pazifistin, Politikerin (SPD) und Frauenrechtlerin.

Leben

Herkunft

Anna Haag wuchs mit fünf weiteren Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf; der Vater war Lehrer. Ihr Onkel Ottmar Mergenthaler erfand die Linotype-Setzmaschine. Die Familie zog 1901 nach Dettingen an der Erms und wohnte bis 1913 im „Schlössle“, dem heutigen Rathaus. Nach der Volksschule und einiger Zeit an der höheren Töchterschule in Backnang und der Frauenarbeitsschule in Reutlingen arbeitete Anna Haag im elterlichen Haushalt mit.[1]

Heirat, Auswanderung

Sie heiratete 1909 den späteren Professor der Mathematik und Philosophie Albert Haag aus Künzelsau. Das Ehepaar ging zunächst nach Lähn in Schlesien und dann nach Treptow an der Rega in Pommern, wo Albert Haag als Lehrer tätig war. 1910 wurde ihre Tochter Isolde geboren.[2] 1912 zogen sie nach Bukarest, wo Anna Haag begann, für deutsche Zeitungen zu schreiben.

Im Jahr 1915 wurde ihre Tochter Sigrid geboren.

1916 leitete Anna Haag während der Internierung ihres Mannes in Bukarest eine Flüchtlingsunterkunft, später ein Wohnheim für deutsche Arbeiterinnen.[1]

Rückkehr nach Deutschland

Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte die Familie zurück nach Nürtingen in Württemberg. Dort fing Haag an, Romane zu schreiben, während ihr Mann wieder als Mathematiklehrer unterrichtete. 1922 wurde ihr Sohn Rudolf geboren. Anna Haag begann, in mehreren deutschsprachigen Zeitungen das Tagebuch einer Mutter zu veröffentlichen.[3] 1926 zog die Familie nach Stuttgart. Ihr autobiografischer Roman Die vier Roserkinder erschien.

Zeit des Nationalsozialismus

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde Albert Haag wegen pazifistischer Äußerungen strafversetzt.[4][5] Zu einem etwaigen Publikationsverbot während des Nationalsozialismus gibt es sich widersprechende Aussagen. Laut Knut von Harbou erhielt Anna Haag wegen ihres Engagements für die 1933 verbotene Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit Publikationsverbot.[6] Günter Randecker hingegen widerspricht dieser Darstellung und nennt mehrere Texte sowie einen Auszug aus ihrem Roman Die vier Roserkinder, die 1939/40 im Jahrbuch Wir Mädel des Bund Deutscher Mädel veröffentlicht worden seien.[7]

Nachkriegszeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahm Anna Haag Vortragsreisen in die USA, um dem negativen Deutschlandbild dort etwas entgegenzusetzen. In Stuttgart gründete sie den Deutsch-Amerikanischen Frauenclub mit. Haag engagierte sich in Stuttgart im Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Verein Haus für Neurosekranke und war beteiligt an der Gründung der Psychotherapeutischen Klinik in Stuttgart-Sonnenberg.

Tod, Beisetzung

Nach ihrem Tod 1982 wurde sie auf dem Birkacher Friedhof beigesetzt.

Geheime Tagebücher

Haag schrieb von 1940 bis zum 22. April 1945 etwa „zwanzig Bände voll hellsichtiger Notizen zum Leben im ‚Dritten Reich‘“.[8] Diese versteckte Haag zuerst in ihrem Keller, später vergrub sie sie im Garten. Nach dem Krieg überführte sie die Tagebücher in ein 500-seitiges Typoskript, fand jedoch keinen Verlag dafür. 1968 erschienen Teile davon in ihrer Autobiografie Das Glück zu leben. Ihre Tochter übergab den gesamten Nachlass 1981 dem Stadtarchiv Stuttgart.[9] 2003 brachte ihr Sohn weitere Auszüge der Aufzeichnungen heraus.[10] 2016 wurden Teile der Tagebücher vom ehemaligen Direktor des „Centre for German-Jewish Studies“, Edward Timms, in seiner Studie Anna Haag and her Secret Diary of the Second World War. A Democratic German Feminist’s Response to the Catastrophe of National Socialism veröffentlicht. Drei Jahre später erschien Timms Buch auf Deutsch.[11] 2021 wurde das gesamte Typoskript unter dem Titel „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“. Tagebuch 1940–1945 erstmals vollständig veröffentlicht.[12] In den Tagebüchern wird deutlich, dass Haag eine entschiedene Gegnerin des Nationalsozialismus war; sie sah in diesem die Verneinung jeglicher menschlicher Werte.[13]

Politische Tätigkeit

Anna Haag trat bereits zur Zeit der Weimarer Republik der SPD bei, da sie überzeugt war, dass die SPD am ehesten ein demokratisches Deutschland erreichen könne. Aufgrund ihrer Erlebnisse im Ersten Weltkrieg setzte sie sich vehement für den Frieden ein und hoffte, dies auch innerhalb der SPD tun zu können. Außerdem trat sie 1925 der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit bei, die 1915 gegründet worden war und ab 1919 auch eine deutsche Sektion hatte. 1945 rief sie den württembergischen Ableger der Frauenliga wieder ins Leben und übernahm dessen Vorsitz.

Sie engagierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den Wiederaufbau Stuttgarts und setzte sich für die politische Bildung von Frauen ein. 1949 gab Anna Haag die Zeitschrift Die Weltbürgerin heraus mit dem Ziel, die Frauen von ihrer politischen Mitverantwortung zu überzeugen. Anna Haag war unter anderem Mitglied des Städtischen Beirats der Stadt Stuttgart und Mitbegründerin der Arbeitsgemeinschaft Stuttgarter Frauen. 1951 gründete sie die Wohn- und Arbeitsstätte für junge Frauen, das heutige Anna-Haag-Haus in Bad Cannstatt.

1946 wurde Anna Haag für die SPD in die Verfassunggebende Landesversammlung und anschließend in den ersten Landtag von Württemberg-Baden berufen. Unter anderem setzte sie sich für die einstweilige Aussetzung von Strafverfahren im Zusammenhang mit § 218 ein. Landtagsmitglied blieb sie bis 1950, sie wollte sich danach verstärkt auf ihre soziale und schriftstellerische Arbeit konzentrieren.[14]

Anna Haag engagierte sich für die Anerkennung der Hausfrauenarbeit als vollgültige Arbeit und begründete den Hausfrauenverband mit. Und sie setzte sich für die Ablehnung der Pflicht zum Kriegsdienst mit der Waffe ein. Der Satz „Niemand darf zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ aus dem von ihr eingebrachten Gesetz Nr. 1007[15] des Landes Württemberg-Baden wurde 1949 in eingeschränkter Form in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“, Art. 4 Abs. 3 GG).

Ehrungen und Auszeichnungen

Mehrere Straßen sind nach ihr benannt:

  • Anna-Haag-Ring in Mühlacker
  • Anna-Haag-Straße in Schwaikheim
  • Anna-Haag-Weg, ein Fußweg ohne Häuser in unmittelbarer Nähe ihres Grabs am Friedhof Stuttgart-Birkach.[18]
  • Am Anna-Haag-Platz in Stuttgart-Sillenbuch liegen Gedenkplatten.[5]

Zwei Grundschulen wurden nach ihr benannt, eine in ihrer Geburtsgemeinde Althütte[19] und eine in Nürtingen-Neckarhausen.[20]

Außerdem tragen ihren Namen die Hauswirtschaftliche Schule in Backnang,[21] das Anna-Haag-Mehrgenerationenhaus in Bad Cannstatt und das Trau- und Fraktionszimmer im Dettinger Rathaus „Schlössle“.

Werke

  • Die vier Roserkinder. Geschichten aus einem Waldschulhaus. Salzer, Heilbronn 1926.
  • Renate und Brigitte. Otto Uhlmann Verlag, Berlin 1937 (zuvor als Serie im Stuttgarter Neues Tageblatt 1932 erschienener Roman).
  • Ursula macht Inventur (ab dem 20. März 1935 als Serie in der Leipziger Abendpost, Abendausgabe der Leipziger Neueste Nachrichten, erschienener Roman); keine Buchausgabe.
  • Paul fliegt raus! (Kindergeschichte für Jungen, als Serie in der Kinderbeilage der Basler National-Zeitung erschienen im Herbst 1937).
  • … und wir Frauen? Hrsg. von der „Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit“, Gruppe Württemberg. Liga gegen den Faschismus, Stuttgart 1945.
  • Frau und Politik. Volk und Zeit, Karlsruhe 1946 (Rede vor einer Gruppe SPD-Frauen, vorgetragen in Karlsruhe am 24. März 1946).
  • Die Weltbürgerin. Anna Haag (Hrsg.), erstes Heft Februar 1949.
  • Ich reise nach Amerika. Klett, Stuttgart 1950.
  • Zum Mitnehmen: Ein bißchen Heiterkeit. Bonz, Stuttgart 1967.
  • Das Glück zu leben: Erinnerungen an bewegte Jahre. Bonz, Stuttgart 1968.
  • Gesucht: Fräulein mit Engelsgeduld; ein vergnüglicher Roman. Bonz, Stuttgart 1969.
  • Der vergessene Liebesbrief und andere Weihnachts- und Silvestergeschichten. Bonz, Stuttgart 1969.
  • Zu meiner Zeit. Stieglitz-Verlag Händle, Mühlacker 1978, ISBN 3-7987-0175-X (Erinnerungen).
  • Für einen Nachmittag. Stieglitz-Verlag Händle, Mühlacker 1980, ISBN 3-7987-0187-3 (Reflexionen und Erinnerungen).
  • Leben und gelebt werden: Erinnerungen und Betrachtungen. Hrsg. von Rudolf Haag. Silberburg, Tübingen 2003, ISBN 978-3-87407-562-6.
  • „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“. Tagebuch 1940–1945. Hrsg. und Nachw. von Jennifer Holleis, Reclam, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-15-011313-4.

Literatur

  • Sigrid Emmert, Petra Garski-Hoffmann: Literarischer Aufbruch hinter schwäbischen Gardinen: Anna Haag. In: „Ohne Kunst hätte ich nicht leben können“: Nürtinger Künstlerinnen. Petra Garski-Hoffmann (Hrsg.). Frickenhausen, Nürtingen 2005, S. 111–127.
  • Christa Gallasch: Anna Haag (1888–1982). Pazifistin und Weltbürgerin. In: Birgit Knorr, Rosemarie Wehling (Hrsg.): Frauen im deutschen Südwesten. Stuttgart 1993, S. 217–221.
  • Christa Gallasch: Anna Haag: Schriftstellerin, Frauenrechtlerin, Politikerin und Pazifistin. In: Schwäbische Heimat. 41 (1990), S. 342–352.
  • Ina Hochreuther: Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Parlamentarierinnen von 1919 bis heute. Stuttgart 2002, ISBN 3-923476-15-9, S. 113 ff.
  • Regine Kuntz: Anna Haag: Schriftstellerin und Politikerin. Ein Lebensbild. Teil I. In: Geschichte und Geschichten aus unserer Heimat Weissacher Tal. 2 (1987), S. 91–120, und Ein Lebensbild. Teil II. In: Geschichte und Geschichten aus unserer Heimat Weissacher Tal. 3 (1988), Auenwald, S. 11–59.
  • Birgit Meyer: Denkt daran, wir Frauen müssen es machen! In: Dies: Frauen im Männerbund. Politikerinnen in Führungspositionen von der Nachkriegszeit bis heute. Campus, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-593-35889-1, S. 279–294.
  • Maja Riepl-Schmidt: Die Friedensfrau: Anna Haag, geborene Schaich. In: „Wider das verkochte und verbügelte Leben“: Frauenemanzipation in Stuttgart seit 1800. Silberburg, Stuttgart 1990, S. 247–254.
  • Maja Riepl-Schmidt: „Ich werde die blaue Frühlingsluft in mich trinken.“ Anna Haag und ihre Sillenbucher Zeit. In: Christian Glass (Hrsg.): Sillenbuch und Riedenberg. Zwei Stadt-Dörfer erzählen aus ihrer Geschichte. Stuttgart 1995, S. 158–161.
  • Britta Schwenkreis: Politik und Alltag im Zweiten Weltkrieg: Das „Kriegstagebuch“ der Anna Haag. Teil 1. In: Backnanger Jahrbuch. Band 13 (2005), S. 170–200 und Teil 2, Band 14 (2006), S. 191–216.
  • Edward Timms: Anna Haag and her Secret Diary of the Second World War. A Democratic German Feminist’s Response to the Catastrophe of National Socialism. P. Lang, Oxford u. a. 2016, ISBN 978-3-0343-1818-1. (= Women in German Literature. 20.)[22]
    • Edward Timms: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. Eine Feministin im Nationalsozialismus. Scoventa Verlag, Bad Vilbel 2019, ISBN 978-3-942073-17-2.
  • Marianne Zepp: Redefining Germany. Reeducation, Staatsbürgerschaft und Frauenpolitik im US-amerikanisch besetzten Nachkriegsdeutschland. V & R Unipress, Göttingen 2007, ISBN 978-3-89971-382-4, S. 116, besonders Fn. 251, und öfter.
  • Jennifer Holleis: „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“ – Tagebuch 1940–1945. Reclam-Verlag, Ditzingen 2021, ISBN 978-3-15011313-4.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Edward Timms: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. S. 284.
  2. Edward Timms: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. S. 283 f.
  3. Edward Timms: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. S. 285.
  4. Edward Timms: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. S. 83.
  5. a b Ursula Ott: Denken endlich wieder erlaubt! In: chrismon, das evangelische Magazin, 03.2019, S. 44.
  6. Knud von Harbou: NS-Zeit: Analyse der Tagebücher von Anna Haag. In: Süddeutsche Zeitung. 22. März 2021.
  7. Günter Randecker: Metamorphose eines Kriegstagebuchs. In: Kontext: Wochenzeitung. 8. Mai 2021.
  8. Nein, ich möchte nicht mehr „deutsch“ sein! Aus den geheimen Tagebüchern der Feministin Anna Haag während des Nationalsozialismus. (PDF) In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 1. März 2019, abgerufen am 21. Februar 2020.
  9. Liste der Verzeichnungseinheiten des Bestandes 2022 – Nachlass Anna Haag. In: Stadtarchiv Stuttgart. Abgerufen am 22. März 2021.
  10. Manfred Kriener: „Unfassbar: Wir leben!“ In: Zeit Online. 10. März 2021, abgerufen am 22. März 2021.
  11. Matthias Bertsch: Edward Timms – „Die geheimen Tagebücher der Anna Haag“. In: Deutschlandfunk-Sendung „Andruck – Das Magazin für Politische Literatur“. 6. Mai 2019, abgerufen am 22. März 2021.
  12. Anna Haag: „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“. Tagebuch 1940–1945. Hrsg. und Nachw. von Jennifer Holleis. Reclam, Stuttgart, 2021.
  13. Christa Gallasch: Anna Haag (1888–1982). Pazifistin und Weltbürgerin. In: Birgit Knorr, Rosemarie Wehling (Hrsg.): Frauen im deutschen Südwesten. Stuttgart 1993, S. 218.
  14. Edward Timms: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. S. 289.
  15. Gesetz Nr. 1007 des Landes Württemberg-Baden
  16. Bundespräsidialamt
  17. Liste der Ordensträger 1975–2022. (PDF; 394 kB) Staatsministerium Baden-Württemberg, 30. April 2022
  18. Straßenbenennungen: Stadtbezirk Stuttgart-Birkach. In: Stuttgart.de. 1. Dezember 2020, abgerufen am 8. April 2021.
  19. Anna-Haag-Grundschule. In: wanderwalter.de. Abgerufen am 8. April 2021.
  20. Anna-Haag-Schule Grundschule Neckarhausen. Abgerufen am 8. April 2021.
  21. Anna-Haag-Schule Backnang. Abgerufen am 8. April 2021.
  22. Anna Haag and her Secret Diary of the Second World War. In: peterlang.com. 29. Januar 2016, abgerufen am 8. April 2021 (englisch, Zusammenfassung).