Andreas oder Die Vereinigten

Hugo von Hofmannsthal, 1910
Foto: Nicola Perscheid

Andreas oder Die Vereinigten ist der einzige Roman Hugo von Hofmannsthals. Das Werk entstand zwischen 1907 und 1927 und blieb Fragment. Ein Vorabdruck des Texts erschien 1930 in der Zweimonatsschrift Corona.[1] 1932 brachte der S. Fischer Verlag das Werk als Buch heraus.

Inhalt

Der 22-jährige Andreas von Ferschengelder,[2] dem Wiener Bagatelladel zugehörig, kommt am 7. September 1778 in Venedig an. Auf Vermittlung eines Einheimischen, der den Ankömmling hofiert, findet er im Haus des verarmten Grafen Prampero Unterkunft. Dessen baufälliger Palazzo liegt gegenüber dem Theater Sankt Samuel, wo der Graf als Lichtputzer und seine Frau als Logenschließerin arbeiten. Die ältere Tochter Nina war dort früher Schauspielerin. Zustina, die jüngere Tochter, erregt Andreas’ Aufmerksamkeit in Verbindung mit einer in Vorbereitung befindlichen Lotterie. Andreas fragt nicht nach, was verlost wird, da er andere Sorgen hat. Seine Eltern in Wien müssten brieflich von seiner Ankunft in Venedig ins Bild gesetzt werden. Andreas will in dem Schreiben in einem günstigen Licht erscheinen – zum Beispiel als sparsamer Kulturreisender, der preisgünstig logiert. Doch er verkneift sich solches Selbstlob. Ist er doch in Kärnten Opfer des Betrügers Gotthelff geworden. Die Hälfte des Reisegeldes ist fort. Andreas denkt nicht gern an die unerfreuliche Episode. Doch sie hatte auch ihr Gutes. Gotthelff hatte seinen neuen Herrn Andreas hinter Villach in ein abgelegenes Kärntner Seitental gelockt. Dort auf dem Hof des Bauern Finazzer hatte er die Liebe dessen Tochter Romana errungen. Die Eltern des Mädchens lieben sich und ihre Kinder. Solche Leute wie aus dem Geschlecht der Finazzer, von altem Adel noch dazu, sind Andreas in Wien nicht begegnet. Mit Eltern und Respektspersonen hatte er bisher einen gezwungeneren, von Ängstlichkeit geprägten Umgang. Zwar erlebt Andreas seinen ersten Kuss mit dem jungen Mädchen, doch einer Liebesnacht weicht er im letzten Moment aus. Der Verbrecher Gotthelff bringt Andreas bei dem gastfreundlichen Bauer Finazzer in die Bredouille. Er vergiftet des Nachts den Hofhund, vergeht sich an einer Magd, fesselt und knebelt sie und flüchtet mit einem der beiden Reitpferde und einem Teil des Geldes. Finazzer bleibt gelassen und verzeiht Andreas.

Als Andreas auf die Weiterreise mit einem Fuhrmann wartet, hat er einen Traum. Als er erwacht, durchfährt ihn ein „Glück bis in die letzte Ader. Romanas ganzes Wesen hatte sich ihm angekündigt mit einem Leben, das über der Wirklichkeit war. Alles Schwere war weggeblasen. In ihm oder außer ihm, er konnte sie nicht verlieren. Er hatte das Wissen, noch mehr, er hatte den Glauben, daß sie für ihn lebte. Er trat in die Welt zurück wie ein Seliger.“[3] Romanas Mund küsst den seinen. Es ist alles Wirklichkeit. Andreas aber fährt mit dem Fuhrwerk weiter in Richtung Venedig, anstatt bei dem Bauer Finazzer um Romana zu werben.

Venedig erscheint gegen die Kärntner Berge als ein Sumpf.[4] Die Ziehung der Lotterie findet eine Woche nach Mariä Geburt statt. Hauptgewinn ist die Entjungferung der noch nicht einmal 16-jährigen, Das Mädchen ist jetzt an der Reihe, die Familie über Wasser zu halten. Andreas ist als Fremder vom Loskauf ausgeschlossen. Allerdings läge der Weiterverkauf eines bereits erstandenen Loses von einem Subskribenten im Bereich des Möglichen. Die Lotterie steht unter der Ägide des Patriziers Herrn Sacramozo, der zuletzt Gouverneur von Korfu war. Dieser Ritter, ein Malteser, gilt als Ehrenmann. Hier bricht der Roman ab.

Zitat

„… ein Zaunschlüpfer oder Rotkehlchen glitt aus dem grünen Dunkel hervor, überschlug sich mit einem süßen Laut in der webend leuchtenden Luft. Das Schönste waren Romanas Lippen, die waren von leuchtendem durchsichtigem Purpurrot, und ihre eifrig arglosen Reden kamen dazwischen heraus wie eine Feuerluft, in der ihre Seele hervorschlug, zugleich aus den braunen Augen ein Aufleuchten bei jedem Wort.“[5]

Entstehungs- und Publikationsgeschichte

Hofmannsthal hat zwischen 1907 und 1927 an seinem Roman gearbeitet. Der Andreas betreffende Nachlass umfasst etwa 500 Manuskriptseiten, davon rund 100 Seiten des relativ geschlossenen Entwurfs von 1912/13, der 1930 postum unter dem Titel Andreas oder die Vereinigten erstmals veröffentlicht wurde.[6] Eine Fülle von Notizen zur Fortführung des Romans finden sich hauptsächlich in den Texten

  • Venezianisches Reisetagebuch des Herrn von N. 1779[7]
  • Das venezianische Erlebnis des Herrn von N.[8]
  • Die Dame mit dem Hündchen (um 1912)[9]

Nach der in der Hofmannsthal-Forschung dominierenden Meinung, lassen sich die nachgelassenen Fragmente nicht zu einem geschlossenen Werk ergänzen, da das Romanprojekt, das Hofmannsthal selbst entweder als Erzählung oder auch als Roman bezeichnet hat, im Lauf von 20 Jahren erhebliche Modifizierungen erfahren habe, die es schwierig machten, eine durchgängige Grundidee zu erkennen. Diese mangelnde Kontinuität wird besonders deutlich seit 1925, als die Erzählung von der Zeit Maria Theresias in die Ära Metternich verlagert wird, neue Figuren hinzukommen und der Nahe Osten zu einem weiteren Schauplatz wird.[6]

Rezeption

Die Hofmannsthal-Forschung hat sich mit unterschiedlichen Aspekten des Andreas-Fragments auseinandergesetzt. Richard Alewyn sieht das venezianische Abenteuer nur als Rahmen um das große Thema: die Liebe Andreas’ zu Romana.[10] und Peter Sprengel spielt auf den Titel an, wenn er behauptet, Andreas ersehne eine Vereinigung mit Romana.[11] Hermann Broch schreibt 1951 in Hugo Hofmannsthals Prosaschriften, mit Andreas habe Hofmannsthal seinem erzählerischen Schaffen einen Gipfel gesetzt, dessen Höhe er unterschätzt habe. Le Rider hingegen sieht den Abbruch der Arbeit am Manuskript durch Selbstzensur verursacht.[12]

Wie Richard Alewyn schreibt, ist der Andreas ein Entwicklungsroman, weil der Titelheld mit der Welt übereinkomme.[10] Jacques Le Rider sagt, nach dem Ersten Weltkrieg habe der Autor vom Bildungsroman Abschied genommen. Der ausgeführte Text trage autobiographische Züge. In Venedig dissoziiere Andreas’ Persönlichkeit. Nach der Interpreta Le Riders sei eine Ursache, dass die Eltern weder sich noch Andreas geliebt hätten. Überdies sei Andreas durch homosexuelle Attacken seines Katecheten traumatisiert. Le Rider stellt den teuflischen Bedienten Gotthelff als Alter Ego Andreas’ hin. Andreas versage sowohl gegenüber dem Gemeinen – verkörpert durch Gotthelff – als auch gegenüber dem Reinen – verkörpert durch Romana.[12] In Andreas’ Träumen auf dem Finazzer-Hof offenbare sich seine „Doppelnatur“. So gesehen erscheine der Verbrecher Gotthelff als Spiegelung des Andreas.[11]

Was die „Vorbilder“ des Romans betrifft, sieht Sprengel Einflüsse von Goethes Wilhelm Meisters theatralische Sendung und Schillers Geisterseher.[11] Mathias Mayer nennt unter anderem Mörikes Maler Nolten als einen Vorläufer des Andreas.[13] Das Doppelwesen Maria/Mariquita sei nach der Theorie „The dissociation of a personality“ des Bostoner Psychiaters Morton Prince (1854–1924).[12]

Literatur

  • Achim Aurnhammer: Hofmannsthals ›Andreas‹. Das Fragment als Erzählform zwischen Tradition und Moderne. in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne. Bd. 3. 1995. S. 275–296.
  • Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958. (Kleine Vandenhoeck-Reihe 57. Sonderband.)
  • Jacques Le Rider: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Aus dem Französischen von Leopold Federmair. Böhlau Verlag, Wien 1997. (Nachbarschaften. Humanwissenschaftliche Studien. 6.) ISBN 3-205-98501-X
  • Anke Junk: Andreas oder Die Vereinigten von Hugo von Hofmannsthal - eine kulturpsychoanalytische Untersuchung. Impr. Henner Junk, Hannover 2015, DNB 1100955305.
  • Werner Volke: Hugo von Hofmannsthal. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1967 (Aufl. 1997). (Rowohlts Monografien.) ISBN 3-499-50127-9
  • Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. München: Beck, 2004. ISBN 3-406-52178-9
  • Mathias Mayer: Die Grenzen des Textes. Zur Fragmentarik und Rezeption von Hofmannsthals ‚Andreas‘-Roman. In: Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Neue Wege der Forschung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, S. 62–83, ISBN 978-3-534-19032-4
  • Morton Prince: The dissociation of a personality. Longmans, Green and Co., London 1908 (Textarchiv – Internet Archive)
  • Katrin Scheffer: Schwebende, webende Bilder. Strukturbildende Motive und Blickstrategien in Hugo von Hofmannsthals Prosaschriften. Diss. Marburg 2007. Tectum Verlag, Marburg 2007, ISBN 978-3-8288-9424-2
  • Gotthart Wunberg (Hrsg.): Hofmannsthal im Urteil seiner Kritiker. Athenäum, Frankfurt am Main 1972.

Ausgaben

  • Andreas oder Die Vereinigten. Fragment eines Romans. Mit einem Nachwort von Jakob Wassermann. Umschlag und Titelvignette von Hans Meid. S. Fischer Berlin 1932.
  • Andreas oder Die Vereinigten. Fragmente eines Romans. Mit Orig.-Holzstichen von Imre Reiner. Zürich: Tellurium-Verlag 1944.
  • Andreas. Hrsg. Mathias Mayer. Stuttgart: Reclam 2000. (Reclams Universal-Bibliothek. 8800.) ISBN 978-3-15-008800-5
Zitierte Textausgabe
  • Hugo von Hofmannsthal: Andreas (1907–1927). S. 198–319 in: Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch: S. Fischer, Frankfurt a. M. 1949 (Aufl. anno 1986), Band Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. ISBN 3-10-031547-2

Weblinks

Einzelnachweise

Quelle meint die zitierte Textausgabe

  1. Andreas oder die Vereinigten, Teildruck in: Corona, Jg. 1. Heft 1.
  2. Ferschengelder ist ein sprechender Name: In mehr als einer brenzligen Situation gibt Andreas Fersengeld.
  3. Quelle, S. 235, 15. Z.v.u.
  4. Le Rider behauptet, bei genauerem Hinsehen erscheine auch der Finazzer-Hof morbid (Le Rider, S. 145, 13. Z.v.u.). Zum Beispiel sei die Verbindung von Romanas Eltern „fast“ inzestuös (Le Rider, S. 144, 6. Z.v.u.).
  5. Quelle, S. 218, 14. Z.v.u.
  6. a b Achim Auernhammer. Hofmannsthals ›Andreas‹. 1995.
  7. Volltext
  8. Volltext
  9. Volltext
  10. a b Richard Alewyn: Über Hugo von Hofmannsthal. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958. S. 125–133.
  11. a b c Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. München: Beck, 2004. S. 248.
  12. a b c Jacques Le Rider: Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende. Böhlau, Wien 1997.
  13. Mathias Mayer: Die Grenzen des Textes. Zur Fragmentarik und Rezeption von Hofmannsthals ‚Andreas‘-Roman. In: Elsbeth Dangel-Pelloquin (Hrsg.): Hugo von Hofmannsthal. Darmstadt 2007, S. 62–83

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