Anatoli Stepanowitsch Djatlow

Anatoli Stepanowitsch Djatlow (russisch Анатолий Степанович Дятлов; * 3. März 1931 in Atamanowo, heute Region Krasnojarsk, Sowjetunion; † 13. Dezember 1995) war ein sowjetischer Ingenieur. Er war stellvertretender Chefingenieur des Kernkraftwerkes Tschernobyl und Leiter des Versuchs, der zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl führte.

Frühes Leben

Anatoli Stepanowitsch Djatlow wurde 1931 in Atamanowo, 60 km nordöstlich von Krasnojarsk, geboren. Sein Vater war ein Kriegsinvalide aus dem Ersten Weltkrieg, der als Tonnenwart auf dem Jenissei arbeitete; seine Mutter war Hausfrau.[1]:3 Mit 14 Jahren riss er von zuhause aus. Zuerst ging er nach Norilsk auf die technische Fachschule für Bergbau und Metallurgie, Fachbereich Elektrotechnik, die er mit Auszeichnung abschloss. In Norilsk arbeitete er für drei Jahre bei einem Minsredmasch-Unternehmen, bevor er am MIFI weiterstudierte, dem Moskauer Institut für Technische Physik. Im Jahr 1959 schloss er sein Studium mit einer Spezialisierung auf Automatisierung und Elektronik ab, um daraufhin in einer Werft in Komsomolsk am Amur zu arbeiten. In der Werft war Djatlow im Labor 23 beschäftigt, wo Kernreaktoren in U-Boote eingebaut wurden.[2] Dabei kam es einmal zu einem Unfall, bei welchem er einer großen Strahlendosis ausgesetzt wurde. Es gab Hinweise, dass Djatlow für den Unfall verantwortlich war, was ihm jedoch nicht nachgewiesen werden konnte. Kurz darauf starb sein Sohn an Leukämie.

Arbeit in Tschernobyl

1973 zog Djatlow nach Prypjat, Ukraine, um seine neue Arbeit im Kernkraftwerk Tschernobyl aufzunehmen. In den 13 Jahren bis zur Reaktorkatastrophe stieg er vom stellvertretenden Leiter einer Reaktorhalle bis zum stellvertretenden Chefingenieur des Kraftwerks auf.[2] Am 26. April 1986 wurde im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl ein Test der Notstromversorgung durchgeführt. Der Schichtleiter Akimow lehnte die Durchführung des letztlich zum Unglück von Tschernobyl führenden Tests aufgrund des Zustands des Reaktors ab, wurde von Djatlow als Vorgesetztem mit der Drohung einer Kündigung aber zur Fortsetzung des Tests angehalten.[3] Djatlow wurde während des Unglücks einer Strahlendosis von 3,9 Sv ausgesetzt und entwickelte Symptome einer schweren Strahlenkrankheit. Bis Anfang November 1986 blieb er im Krankenhaus und wurde einen Monat nach seiner Entlassung verhaftet.[4]

Schuldfrage

Er bekannte sich des „kriminellen Leitens eines potenziell explosionsgefährlichen Versuchs“[5] schuldig und wurde im Juli 1987 zu zehn Jahren Haft verurteilt[6], aus der er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes 1990 frühzeitig entlassen wurde.[2] Djatlow schrieb in seinem Buch[1] sowie in einem Artikel in Nuclear Engineering International[7], dass nicht das Kraftwerks­personal, sondern die Konstruktionsweise des Reaktors für die Katastrophe verantwortlich gewesen sei. Der Bericht der International Nuclear Safety Advisory Group vom November 1992 stützt diese Sichtweise, bemängelt aber die fehlende Sicherheitskultur der sowjetischen Nuklearindustrie.[8]

1994 berichtete Djatlow in einem ausführlichen Video-Interview über den Tag des Unglücks und seine Handlungen nach der Explosion.[9][10]

Nachdem sich Djatlow zur medizinischen Behandlung unter anderem nach Deutschland begeben hatte, starb er am 13. Dezember 1995 mit 64 Jahren an Herzversagen.[2]

Ehrungen

Darstellungen in den Medien

Djatlow wurde 2004 im Dokumentarfilm Disaster at Chernobyl aus der Reihe Zero Hour von Igor Slawinski, 2006 in der BBC-Produktion Chernobyl Nuclear Disaster aus der Reihe Surviving Disaster von Roger Alborough und 2019 in der HBO-Miniserie Chernobyl von Paul Ritter dargestellt.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b A. S. Djatlow: Tschernobyl. Wie es war. 1995 (accidont.ru [PDF] russisch: Чернобыль. Как это было.).
  2. a b c d e Ksenia Subatschjowa: War Anatoli Djatlow wirklich der Hauptschuldige der Tschernobyl-Katastrophe? In: Russia Beyond. TV-Novosti, 17. Juni 2019, abgerufen am 6. August 2019 (deutsch).
  3. Will Mara: The Chernobyl Disaster: Legacy and Impact on the Future of Nuclear Energy. Marshall Cavendish, New York 2011, ISBN 978-0-7614-4984-3, S. 21–23.
  4. Interview aus dem Jahr 1994
  5. Wolfgang Wiedlich: 30 Jahre Tschernobyl: Um 1.24 Uhr explodiert das Experiment. In: General-Anzeiger Bonn. Rheinische Post Mediengruppe, 26. April 2016, abgerufen am 11. Januar 2020.
  6. Tschernobyl: Verurteilung der Verantwortlichen. In: tagesschau. ARD, 17. Dezember 2010, abgerufen am 11. Januar 2020.
  7. Anatoly Dyatlov: How it was: an operator's perspective. In: Nuclear Engineering International. Global Trade Media, November 1991, abgerufen am 10. Januar 2020.
  8. INSAG-7: The Chernobyl Accident: Updating of INSAG-1. In: Safety Report Series. IAEA, November 1992, S. 23, abgerufen am 11. Januar 2020: „The accident is now seen to have been the result of the concurrence of the following major factors: specific physical characteristics of the reactor; specific design features of the reactor control elements; and the fact that the reactor was brought to a state not specified by procedures or investigated by an independent safety body. Most importantly, the physical characteristics of the reactor made possible its unstable behaviour.“
  9. Чернобыльская авария А.С.Дятлов – воспоминания auf YouTube, abgerufen am 13. April 2021.
  10. Chernobyl Anatoly Dyatlov’s real interview (English) auf YouTube, abgerufen am 13. April 2021.