Am Turme
Das Gedicht Am Turme von Annette von Droste-Hülshoff aus dem Jahr 1842 ist dem Biedermeier bzw. der Romantik zuzuordnen.
Inhalt
Das Gedicht beginnt mit den folgenden Versen:
Ich steh' auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass' gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!
Und drunten seh' ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht' ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walroß, die lustige Beute!
Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht' ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen,
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöve streifen.
Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar,
Und lassen es flattern im Winde!
Das Gedicht behandelt die Sehnsucht einer jungen Frau, die sich nach dem abenteuerlichen Leben in der weiten Welt sehnt. Auf Grund der zu ihrer Zeit nicht vorhandenen Gleichberechtigung und Emanzipation der Frau bleibt dem lyrischen Ich in diesem Gedicht dieser Wunsch jedoch verwehrt. Besonders hervorzuheben ist der durchgängige Knittelvers mit doppeltem Kreuzreim. Weiterhin zeigt sich in jeder Strophe der konjunktivische Schreibstil der Autorin (Wäre ich ein Mann, Wäre ich ein Jäger). Das Gedicht besteht aus 4 Strophen, die wiederum aus 8 Versen bestehen; es wechseln sich männliche und weibliche Kadenzen ab. Strukturell kann man nach der dritten Strophe eine Zäsur erkennen, da die ersten drei Strophen miteinander verbunden sind: Die zweite und dritte Strophe beginnen jeweils mit einem „Und“ und schließen somit an die Vorhergehende an. Außerdem beginnt der fünfte Vers der ersten drei Strophen jeweils mit einem „O“; die vierte Strophe jedoch beginnt weder mit einem „Und“ noch ist in ihr das „O“ zu finden, welches die vorherigen Strophen miteinander verbindet. In dem Gedicht sind vielfach symbolische Handlungen zu finden, wie zum Beispiel das Lösen der Haare: Man hatte in der Zeit von Annette von Droste-Hülshoff eine strenge Vorstellung, wie die Frisur einer Frau auszusehen hatte – die Missachtung dieser Normen galt als etwas Rebellisches („Und darf nur heimlich lösen mein Haar / Und lassen es flattern im Winde“, 4, 7)