Altsächsische Sprache

Altsächsisch (Sahsisk)
Zeitraumfrühes 5. Jahrhundert bis 11. Jahrhundert

Ehemals gesprochen in

Nordwestdeutschland, Nordostniederlande
Linguistische
Klassifikation
Offizieller Status
Amtssprache in
Sprachcodes
ISO 639-1

ISO 639-2

gem (Germanische Sprachen)

ISO 639-3

osx

Die altsächsische Sprache (abgekürzt As.) oder die altniederdeutsche Sprache (abgekürzt And.) ist die älteste Sprachstufe des Niederdeutschen („Plattdeutschen“). Sie wurde vom frühen 5. bis 12. Jahrhundert im Siedlungsgebiet der Sachsen und der Angeln gesprochen, bildet die Vorläuferin des Mittelniederdeutschen und gehört zur Gruppe der westgermanischen Sprachen bzw. innerhalb dieser zur Gruppe der nordseegermanischen Sprachen.[1][2]

Begriffe

Der Begriff Altsächsisch bezieht sich auf das mittelalterliche Volk der Sachsen, vergleiche etwa Altalemannisch, Altbairisch, Altniederfränkisch, Altoberfränkisch, Angelsächsisch, während der Begriff Altniederdeutsch auf die frühmittelalterliche Sprachstufe des Niederdeutschen verweist. Altniederdeutsch wird aber teilweise auch als Sammelbegriff für das Altsächsische und das Altniederländische (Altniederfränkische) gebraucht, da letzteres mehr Ähnlichkeiten mit dem Althochdeutschen hat.[1] Die Bezeichnungen fügen sich in die auch bei anderen Sprachen übliche Reihung Alt-, Mittel-, Neu- plus Namen der Sprache ein, vgl. etwa Alt-, Mittel-, Neuhochdeutsch; Alt-, Mittel-, Neuniederländisch; Alt-, Mittel-, Neuenglisch.

Historisches

Bereits im 5. Jahrhundert hatte sich das Nordseegermanische in eine frühaltsächsische, eine urfriesische und eine angelsächsische Varietät gespalten, wobei sich letztere in England – durchaus in Kontakt mit dem sächsischen Festland – zum Altenglischen entwickelte. Die Sprache der Angeln und Sachsen in England wird daher nicht zum Altsächsischen hinzugerechnet. Die Entwicklung der niederdeutschen Sprachformen auf dem Boden des Ostfrankenreichs, später des Heiligen Römischen Reichs ist seit der Eroberung und Zwangsbekehrung Norddeutschlands durch Karl den Großen von den hochdeutschen Mundarten beeinflusst worden.[3]

Verwandte

Dem Altsächsischen besonders ähnlich sind das Altenglische und das Altfriesische. Diese drei Sprachformen und ihre Nachfolgesprachen werden unter dem Begriff nordseegermanische Sprachen zusammengefasst. Weitere verwandte westgermanische Sprachen des Frühmittelalters sind das Altniederländische (Altniederfränkische) und das Althochdeutsche.[4][5]

Verbreitung

Westniederdeutsches Sprachgebiet

Das Gebiet des Altsächsischen im 5. Jahrhundert ist nur schlecht belegt, umfasst aber im Wesentlichen das heutige Niedersachsen, Westfalen, Lippe, Engern und Ostfalen, einschließlich der heute zu Sachsen-Anhalt gehörenden, linkselbischen Gebiete (etwa von Halle bis Magdeburg).

Im Süden verlief der Übergangsbereich zu den althochdeutschen Dialekten Altthüringisch, Altrheinfränkisch und Altmittelfränkisch auf einer Linie südlich von Merseburg, Göttingen, nordwestlich Kassels, Korbach bis zum Sauerland und Ruhrgebiet. Somit gehört auch der nordwestliche Teil Hessens zum altsächsischen Sprachgebiet. Der östliche heutige Teil der Niederlande (ungefähr die Provinzen Overijssel, Drenthe und das nördliche Gelderland) gehörten ebenfalls zum altsächsischen Sprachgebiet. Südlich davon begann das altniederfränkische Sprachgebiet. Im Norden grenzte das Gebiet von Groningen bis nach Bremerhaven an das altfriesische Sprachgebiet sowie entlang der Eider ans altdänische und im Nordosten etwa auf einer Linie von Plön bis Lauenburg und ab dort weiter Elbe und Saale entlang ans westslawische Sprachgebiet. In der Altmark und im Wendland wurden sowohl Altsächsisch als auch Westslawisch gesprochen.

Eine dialektale Differenzierung des Altsächsischen ist zwar anzunehmen, aufgrund des beschränkten Quellenmaterials lassen sich jedoch keine klar umgrenzten Dialekte bestimmen. Die Anzahl und Ausprägung nordseegermanischer Merkmale im Altsächsischen nimmt von Osten nach Westen und von Norden nach Süden hin ab.[6]

Quellen und Dokumente

Die altsächsischen Sprachformen sind nur in wenigen Dokumenten überliefert, so in der nur bruchstückhaft überlieferten altsächsischen Genesis und vor allem in der größten Dichtung, dem Heliand, der als episches Werk nach dem Muster germanischer Heldensagas die Geschichte von Jesus Christus erzählt. Die wenigen anderen Quellen sind zumeist Übersetzungen aus dem Lateinischen und daher in der Lexik begrenzt.

Bei der Untersuchung der schriftlichen Quellen muss zudem bedacht werden, dass sie meist nicht von Sachsen, sondern von Franken oder Baiern aufgezeichnet wurden, die vermutlich der sächsischen Sprache nur begrenzt mächtig waren. Erheblich reichhaltiger ist die Quellenlage für den angelsächsischen Raum, beispielsweise das Beowulf-Epos.

Merkmale

Das Altsächsische zeigt zahlreiche ingwäonische Merkmale, wie das Nasal-Spirans-Gesetz. Dieses beschreibt, dass die urwestgermanischen Kombinationen von Vokal-Nasal-Spirans in späteren Sprachstufen, aber noch vor Beginn der Schriftlichkeit den Nasallaut unter Ersatzdehnung des Vokals verloren. Anders als das Englische und Friesische hat das Niedersächsische jedoch viele Nasale später neu aufgenommen:

SpracheHistorischer SprachstandModerner SprachstandHistorischer SprachstandModerner Sprachstand
Urgermanisch*uns*gans
Altfriesisch/Westfriesischūsúsgōsgoes
(Alt-)Englischūsusgōsgoose
Altsächsisch/NiederdeutschūsusgāsGoos (mundartlich auch Gaus)
Altfränkisch/Niederländischunsonsgansgans
(Alt-)HochdeutschunsunsgansGans

Grammatik

Verben

Bei den Verben wird zwischen einer starken (vokalischen) und einer schwachen Konjugation unterschieden. Neben diesen beiden Gruppen gibt es die Präteritopräsentien, Verben, welche mit ihrer ursprünglichen Präteritums­form eine Präsensbedeutung aufweisen.

Das Altsächsische weist im Gegensatz zum Althochdeutschen einen Einheitsplural auf, allerdings in zwei unterschiedlichen Formen, so lautet die Endung des Präsens Plural im Indikativ -ađ, und im Konjunktiv -en. In der späteren (mittelniederdeutschen) Sprachentwicklung sind Indikativ und Konjunktiv (Optativ) Präsens zusammengefallen, wobei die Formen des modernen Westniederdeutschen auf dem as. Indikativ (-et), die des modernen Ostniederdeutschen auf dem as. Konjunktiv (-en) beruhen (Wiesinger 1983, S. 824).[7]

Starke Verben

Bei den starken Verben kommt es im Altsächsischen zur Veränderung des Vokals im Grundmorphem, welches die lexikalische Bedeutung des Wortes trägt. Die Flexion (Beugung) der Wörter wird durch Flexionsmorpheme (Endungen) gekennzeichnet. Anstelle der reduplizierenden Verben ist im Altsächsischen eine neue, siebte Ablautreihe getreten.

Ablautreihen starker Verben
AblautreiheInfinitivPräsensPräteritumPrät. PluralPartizip
I.ī + Konsonantīêii
II.aio/ia + Konsonantiuôuo
bū + Konsonantū
III.ai + Nasal oder Konsonantiauu
be + Liquid oder Konsonanto
IV.e/i + Nasal oder Liquidiaāo
V.e + Konsonantiaāe
VI.a + Konsonantaōōa
VII.aa + l oder n und Konsonant[8]aeea
bā + Konsonantāēēā
cê + Konsonantêê
dô + Konsonant (außer w)ôio/iaio/iaô
eau + wauio/iaio/iaau
fō + Konsonantōio/iaio/iaō

Beispiele in rekonstruiertem und vereinheitlichtem Altsächsisch:

Ablautreihe I.
rīdan – rīdu – rêd – ridun – (gi)ridan (nhd. reiten, nnd. ryden)
Ablautreihe II.a.
biodan – biudu – bôd – budun – (gi)bodan (nhd. bieten, nnd. beden)
Ablautreihe II.b.
būgan – būgu – bôg – bugun – (gi)bogan (nhd. biegen, nnd. bugen)
Ablautreihe III.a.
bindan – bindu – band – bundun – (gi)bundan (nhd. binden, nnd. binden)
Ablautreihe III.b.
werpan – wirpu – warp – wurpun – (gi)worpan (nhd. werfen, nnd. wearpen)
Ablautreihe IV.
neman – nimu – nam – nāmun – (gi)noman (nhd. nehmen, nnd. neamen)
Ablautreihe V.
gevan – givu – gav – gāvun – (gi)gevan (nhd. geben, nnd. geaven)
Ablautreihe VI.
faran – faru – fōr – fōrun – (gi)faran (nhd. fahren, nnd. faren)
Ablautreihe VII.a.
waldan – waldu – weld – weldun – (gi)waldan (nhd. walten, nnd. walden)
Ablautreihe VII.b.
rādan – rādu – rēd – rēdun – (gi)rādan (nhd. raten, nnd. råden)
Ablautreihe VII.c.
hêtan – hêtu – hēt – hētun – (gi)hêtan (nhd. heißen, nnd. heyten)
Ablautreihe VII.d.
hlôfan – hlôfu – hliof – hliofun – (gi)hlôfan (nhd. laufen, nnd. loufen)
Ablautreihe VII.e.
hauwan – hauwu – hiow – hiowun – (gi)hauwan (nhd. hauen, nnd. hauen)
Ablautreihe VII.f.
hrōpan – hrōpu – hriop – hriopun – (gi)hrōpan (nhd. rufen, nnd. ropen)
Flexionsformen starker Verben am Beispiel werpan (Infinitiv)
ModusNumerusPersonPronomenPräsensPräteritum
IndikativSingular1.ikwirpuwarp
2.thūwirpiswurpi
3.hē, siu, itwirpidwarp
Pluralwī, gī, siawerpwurpun
KonjunktivSingular1.ikwerpewurpi
2.thūwerpeswurpis
3.hē, siu, itwerpewurpi
Pluralwī, gī, siawerpenwurpin
ImperativSingularwirp
Pluralwerp
Partizipwerpandi(gi)worpan

Schwache Verben

Die schwachen Verben des Altsächsischen lassen sich morphologisch und semantisch über ihre Endungen in drei Gruppen einteilen:

Formen schwacher Verben mit der Endung -jan mit kausativer Bedeutung und für denominative Bildungen am Beispiel urgerm. *taljaną → as. tėlljan ‚(auf-, er-, zu-)zählen, (aus-)sagen, sprechen‘.
ModusNumerusPersonPronomenPräsensPräteritum
IndikativSingular1.iktėlljutalda
2.thūtėlistaldos
3.hē, siu, ittėlidtalda
Pluralwī, gī, siatėlljađtaldun
KonjunktivSingular1.iktėlljetėlidi
2.thūtėlljestėlidis
3.hē, siu, ittėlljetėlidi
Pluralwī, gī, siatėlljentėlidin
ImperativSingulartėli
Pluraltėlljađ
Partiziptėlljandi(gi)tald
Formen schwacher Verben mit der Endung -on mit instrumentaler Bedeutung (etwas benutzen) am Beispiel makon ‚machen‘
ModusNumerusPersonPronomenPräsensPräteritum
IndikativSingular1.ikmakonmakoda
2.thūmakosmakodos
3.hē, siu, itmakodmakoda
Pluralwī, gī, siamak/makojađmakodun
KonjunktivSingular1.ikmako/makojemakodi
2.thūmakosmakodis
3.hē, siu, itmako/makojemakodi
Pluralwī, gī, siamakon/makojanmakodin
ImperativSingularmako
Pluralmak
Partizipmakondi(gi)makod
Formen schwacher Verben mit der Endung -jan mit durativer Bedeutung (vollziehen, werden) am Beispiel sėggjan ‚sagen‘
ModusNumerusPersonPronomenPräsensPräteritum
IndikativSingular1.iksėggjusagda
2.thūsagessagdos
3.hē, siu, itsagedsagda
Pluralwī, gī, siasėggjađsagdun
KonjunktivSingular1.iksėggjesėgidi
2.thūsėggjessėgidis
3.hē, siu, itsėggjesėgidi
Pluralwī, gī, siasėggjensėgidin
ImperativSingularsage
Pluralsėggjađ
Partizipsėggjendi(gi)sagd

Besondere Verben

Das altsächsische Verb sīn ‚sein‘ wird als Verbum substantivum bezeichnet, weil es für sich allein stehen kann und ein Dasein von etwas beschreibt. Es zählt zu den Wurzelverben, welche zwischen Stamm- und Flexionsmorphem keinen Bindevokal aufweisen. Diese Verben werden auch als athematisch (ohne Binde- oder Themavokal) bezeichnet. Das Besondere an sīn ist, dass sein Paradigma suppletiv ist, also aus verschiedenen Verbstämmen gebildet wird (idg. *h₁es- ‚existieren‘, *bʰueh₂- ‚wachsen, gedeihen‘ und *h₂ues- ‚verweilen, wohnen, übernachten‘). Im Konjunktiv Präsens besteht weiterhin das auf *h₁es- zurückgehende sīn (die mit b-anlautenden Indikativformen gehen hingegen auf *bʰeh₂u- zurück), im Präteritum wird es jedoch wie im Althochdeutschen durch das starke Verb wesan ersetzt, welches nach der fünften Ablautreihe gebildet wird.

Präsensformen des verbum substantivum: sīn ‚sein‘
NumerusPersonPronomenIndikativKonjunktiv
Singular1.ikbium
2.thūbist/bissīs
3.hē, siu, itis/ist
Pluralwī, gī, siasindsīn

Aussprache

Das Altsächsische hatte phonemisch mindestens sechs kurze und sieben lange Vokale, zusätzlich hatten drei Hinterzungenvokale eine nasalisierte Form. Sie kamen in betonten und unbetonten Silben vor. Darüber hinaus gab es sechs phonemische Diphthonge. Der i-Umlaut wird in der Schrift bis auf den Primärumlaut von /a/ nicht gekennzeichnet, es gilt jedoch als sicher, dass alle Umlaute des Mittelniederdeutschen bereits zu altsächsischer Zeit existierten. Diese umgelauteten Allophone finden sich bei allen Monophthongen und Diphthongen mit /a/, /e/, /o/ und /u/, wenn in der nachfolgenden Silbe ein /ī/, /i/ oder /j/ steht.

vornezentralhinten
ungerundetgerundet
kurzlangkurzlangkurzkurzlang
geschlosseni ⟨i⟩iː ⟨ī⟩(y) ⟨u⟩(yː) ⟨ū⟩u ⟨u⟩uː ⟨ū⟩
halbgeschlossene ⟨ė⟩eː ⟨ē⟩(ø) ⟨o⟩(øː) ⟨ō⟩(o) ⟨o⟩oː ⟨ō⟩
mittel(ə)
halboffenɛ ⟨e⟩ɛː ⟨ê⟩(œ) ⟨o⟩(œː) ⟨ô⟩ɔ ⟨o⟩ɔː ⟨ô⟩
offen(æ) ⟨a⟩(æː) ⟨ā⟩ɑ ⟨a⟩ɑː ⟨ā⟩
  1. Vokale sind grundsätzlich kurz zu lesen, es sei denn, sie sind durch einen Überstrich, z. B. ⟨ā⟩, oder Zirkumflex, z. B. ⟨ô⟩, als Langvokale gekennzeichnet. Erst im spätaltsächsischer Zeit werden Vokale in offenen Silben lang gesprochen. Teilweise bezeichnen Makra und Zirkumflexe unterschiedliche gedehnte Laute, so auch im Folgenden.
  2. Die Betonung liegt immer auf der Wurzelsilbe, selbst wenn eine der folgenden Silben einen Langvokal enthält.
  3. Die kurzen geschlossenen Vokale wurden möglicherweise wie im modernen Deutsch offener artikuliert als ihre langen Gegenstücke, z. B. /i/ als [ɪ].
  4. [e] ist der Primärumlaut von urgermanischem /a/ und der Umlaut von germ. /e/. Zur Unterscheidung der beiden kurzen e-Laute wird das durch i-Umlaut entstandene [e] teilweise mit /ė/ gekenzeichnet.
  5. [ɛː] setzt urgermanisches /ai/ fort, sofern es nicht vom i-Umlaut betroffen ist. Zur Unterscheidung vom germanisch ererbten /ē₂/ wird es auch mit einem Zirkumflex /ê/ gekennzeichnet.
  6. Germanisch ererbtes /ē₂/ hat den Lautwert [eː].
  7. [æ] ist der Sekundärumlaut von germanischem /a/, [æː] der Umlaut von germanischem /ē₁/ und /ā/. Möglicherweise wurden die beiden Laute auch etwas höher als vorderes, offenes [a] bzw. [aː] artikuliert.
  8. [iː] setzt urgermanisches /ī/ fort. Es hat ein nasales Allophon [ĩː] vor Frikativen, wenn es aus urgermanischem kurzem /i/ und einem Nasal hervorgeht.
  9. [uː] setzt urgermanisches /ū/ fort. Es hat ein nasales Allophon [ũː] vor Frikativen, wenn es aus urgermanischem kurzem /u/ und einem Nasal hervorgeht.
  10. [y] und [yː] sind Umlaute von /u/ und /uː/, [ø], [øː], [œ] und [œː] sind Umlaute von /o/, /oː/, /ɔ/ und /ɔː/.
  11. Urgermanisches /au/ (außer vor /w/) wird als [ɔː] realisiert. Zur Unterscheidung vom germanisch ererbten /ō/ wird es auch mit einem Zirkumflex /ô/ gekennzeichnet.
  12. [oː] setzt urgermanisches /ō/ fort. Urgermanisches /o/ ist meist [ɔ], vor Nasal jedoch geschlossenes [o]. Gleiches gilt für den i-Umlaut von /o/.
  13. [ɑː] setzt urgermanisches /ā/ und /ē₁/ fort und wurde entweder wie im Urgermanischen hinten gesprochen oder zentral, also [a̱ː] wie im heutigen Deutsch. Es hat ein nasales Allophon [ɑ̃ː] vor Frikativen, wenn es aus urgermanischem kurzem /a/ und einem Nasal hervorgeht.
  14. [ɑ] setzt urgermanisches /a/ fort und wurde entweder wie im Urgermanischen hinten gesprochen oder zentral, also [] wie im heutigen Deutsch. Vor Nasalen, einem /l/ mit folgendem Dental sowie zwischen /r/ und /w/ hatte /a/ wohl ein Allophon [ɒ].
  15. Endsilbenvokale werden ab dem 9. Jahrhundert zu [ə] abgeschwächt, welches graphisch mit ⟨e⟩ oder ⟨i⟩ wiedergegeben wird. Vielleicht existierte [ə] auch schon zu frühaltsächsischer Zeit in einigen Präfixen wie ir- (er-) oder als Fugenvokal. Bei kurzen Vokalen der Neben- und Endsilben kann man häufig von reduzierten Vokalen ausgehen, insbesondere wenn die überlieferten Vokalgrapheme oft variieren.

Das Altsächsische besaß sieben Diphthonge, die zunächst immer auf dem ersten Buchstaben betont werden:

  1. /auw/ im An- und Inlaut, /au/ im Auslaut (< urgermanisch /auw/, sofern nicht vom i-Umlaut betroffen)
  2. /euw/ im An- und Inlaut, /eu/ im Auslaut (< urgermanisch /euw/)
  3. /iuw/ im An- und Inlaut, /iu/ im Auslaut (< urgermanisch /iuw/)
  4. /io/ (frühaltsächsisch /eo/ < urgermanisch /eu/), später /ia/, /ie/
  5. /iu/ (< urgermanisch /eu/ vor einem /i/, /ī/ oder /j/ in der Folgesilbe)
  6. /ei/ (< urgermanisch /ai/ vor einem /i/, /ī/ oder /j/ in der Folgesilbe oder urgermanisch /aij/)
  7. /oi/ (< urgermanisch /auw/ vor einem /i/, /ī/ oder /j/ in der Folgesilbe)

Die Lautwerte dieser Diphthonge waren ungefähr [ɑu̯], [eu̯], [iu̯], [io̯] bzw. [iɒ̯], [iy̆], [eɪ̯] und [ɔɪ̯]. Möglicherweise wurden /e/, /i/, /u/ und /o/ in manchen Diphthongen auch wie im modernen Deutsch offener artikuliert, z. B. /au/ als [ɑʊ̯]. /iu/ wurde im Spätaltsächsischen schließlich zu [yː] monophthongiert, /au/ zu /ou/ [ɔʊ̯] gehoben.[9] Ferner werden /ia/ und /iuw/ zu steigenden Diphthongen, d. h. als /je/ [jɘ] oder /ju/ [ju] gesprochen.

Sprachprobe

Sprachprobe aus dem Heliand; der Abschnitt entspricht in episch nacherzählender Form den Anfangsversen des 2. Kapitels aus dem Evangelium nach Lukas:

Thō ward fon Rūmuburg rīkes mannes
obar alla thesa irminthiod Octaviānas
ban endi bodskepi obar thea is brêdon giwald
cuman fon them kêsure cuningo gihuilicun,
hêmsitteandiun sō wīdo sō is heritogon
obar al that landskepi liudio giweldun.
Hiet man that alla thea elilendiun man iro ōdil sōhtin,
helidos iro handmahal angegen iro hêrron bodon,
quāmi te them cnōsla gihue, thanan he cunneas was,
giboran fon them burgiun. That gibod ward gilêstid
obar thesa wīdon werold.

Da geschah von Rom aus, (dass) des herrschenden Mannes
über alle diese Menschheit, Octavians,
Bann’ und Botschaft an die, über die er breite Gewalt hatte,
gekommen (ist) von dem Kaiser, an jegliche Könige
Fürsten (und), soweit seine Herzöge
über alle diese Landschaft die Leute beherrschten.
(Darin hieß es), dass (alle) im Ausland (lebenden) Menschen ihre Heimat aufsuchen sollten,
die Helden ihren Stammsitz, ihrer Herren Boden entgegen,
ein jeder käme zu der Sippe, von der er Abstammung habe,
zu der Burg, von der er geboren sei. Das Gebot wurde befolgt
über diese weite Welt.

Literatur

  • Peter Anreiter: Rückläufiges Wörterbuch des Altsächsischen (= Veröffentlichungen der Kommission zur Computergestützten Erstellung Linguistischer Hilfsmittel. Bd. 1). Wagner, Innsbruck 1989, ISBN 3-7030-0212-3.
  • Otto Behaghel: Die Syntax des Heliand. Tempsky/Freytag, Wien/Prag/Leipzig 1897.
  • James E. Cathey: Old Saxon. LINCOM Europa, München 2000, ISBN 978-3-895865-14-5.
  • Gerhard Cordes: Altniederdeutsches Elementarbuch: Wort- u. Lautlehre. Winter, Heidelberg 1973, ISBN 978-3-533-02242-8.
  • Wolfram Euler: Das Westgermanische – von der Herausbildung im 3. bis zur Aufgliederung im 7. Jahrhundert – Analyse und Rekonstruktion. 2. Auflage. Inspiration Unlimited, Berlin 2022, ISBN 978-3-945127-41-4.
  • Ferdinand Holthausen: Altsächsisches Elementarbuch (= Germanische Bibliothek. Abteilung 1: Elementar- und Handbücher. Reihe 1: Grammatiken. 5, ZDB-ID 576882-2). Winter, Heidelberg 1899, (Digitalisat).
  • Ferdinand Holthausen: Altsächsisches Wörterbuch (= Niederdeutsche Studien. 1). Böhlau, Münster u. a. 1954, (2., unveränderte Auflage. Köln u. a., Böhlau 1967, Digitalisat).
  • Johan Hendrik Gallée: Altsächsische Grammatik. Mit Berichtigungen und Literaturnachträgen. Nach Wendelin Försters letzter Ausgabe in Auswahl bearbeitet und mit Einleitung und Glossar versehen. Mit Beiträgen von Johannes Lochner. Bearbeitet von Heinrich Tiefenbach (= Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. A: Hauptreihe, Band 6). Niemeyer, Tübingen 1993 (Digitalisat der 1. Auflage 1891).
  • Johan Hendrik Gallée: Altsächsische Sprachdenkmäler. Brill, Leiden 1894, (Digitalisat).
  • Johan Hendrik Gallée: Vorstudien zu einem altniederdeutschen Wörterbuche. Brill, Leiden 1903, ISBN 978-90-04-56894-5, (Digitalisat).
  • Steffen Krogh: Die Stellung des Altsächsischen im Rahmen der germanischen Sprachen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996.
  • Irmengard Rauch: The Old Saxon Language : grammar, epic narrative, linguistic interference. Peter Lang Publishing, New York 1992, ISBN 0-8204-1893-5.
  • Rudolf Schützeichel (Hrsg.): Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz. Bearbeitet unter Mitwirkung zahlreicher Wissenschaftler des In- wie Auslandes und im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 12 Bände, Tübingen 2004.
  • Edward Henry Sehrt: Vollständiges Wörterbuch zum Heliand und zur altsächsichen Genesis. 2. Auflage. Göttingen 1966.
  • Heinrich Tiefenbach: Altsächsisches Handwörterbuch. A Concise Old Saxon Dictionary. de Gruyter, Berlin 2010.
  • Elis Waldstein: Kleinere altsächsische sprachdenkmäler mit anmerkungen und glossar. Soltau, Norden/Leipzig 1899, (Digitalisat).
Wikisource: Altsächsische Texte – Quellen und Volltexte
Wiktionary: altsächsisch – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b Steffen Krogh: Die Stellung des Altsächsischen im Rahmen der germanischen Sprachen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996, ISBN 3-525-20344-6, S. 70, 83–84.
  2. Claus Jürgen Hutterer: Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. Akadémiai Kiadó Budapest 1975 bzw. C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1975, ISBN 3-406-05292-4, S. 244.
  3. Claus Jürgen Hutterer: Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. 2. Auflage. Drei-Lilien-Verlag, Wiesbaden 1987, ISBN 3-922383-52-1, Kap. IV.3.61, S. 243.
  4. Claus Jürgen Hutterer: Die germanischen Sprachen. Ihre Geschichte in Grundzügen. 2. Auflage. Drei-Lilien-Verlag, Wiesbaden 1987, ISBN 3-922383-52-1, Kap. IV.3.1, S. 195.
  5. Adolf Bach: Geschichte der deutschen Sprache. 9. Auflage. VMA-Verlag, Wiesbaden 1970, DNB 730244261, S. 78 ff., § 44.
  6. A. Versloot, E. Adamczyk: Geography and Dialects of Old Saxon: River basin communication networks and the distributional patterns of North Sea Germanic features in Old Saxon. WoodbridgeThe Boydell Press, 2017, ISBN 978-1-78327-179-5 (uva.nl [abgerufen am 26. September 2025]).
  7. WIESINGER, P. (1983). Areale Bereiche deutscher Dialekte im Überblick. BESCH, Werner/KNOOP, Ulrich/PUTSCHKE, Wolfgang/WIEGAND, Herbert Ernst (eds.), 789–900.
  8. auch mit nasalisiertem, gedehnten /ą̄/ anstelle von kurzem /a/
  9. Peter Wiesinger: Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Werner Besch, Ulrich Knoop, Wolfgang Putschke, Herbert Ernst Wiegand (Hrsg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung, 2. Halbband. De Gruyter, Berlin / New York 1983, ISBN 3-11-009571-8, S. 821.

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