Alice Lex-Nerlinger

Alice Lex-Nerlinger (geb. 29. Oktober 1893 als Alice Erna Hildegard Pfeffer[1] in Berlin; gest. 21. Juli 1975[2] in Ost-Berlin) war eine deutsche Malerin, Grafikerin, Illustratorin, Bühnenbildnerin und Fotografin. Sie gehörte zur künstlerisch-politischen Avantgarde proletarisch-revolutionärer Orientierung der Weimarer Republik. In ihrem Werk artikulierte sie Themen der politischen Linken und der Frauenbewegung. Ihr Bild Paragraph 218 von 1931, mit dem sie das damalige Abtreibungsverbot provokativ thematisierte, wurde von der Frauenbewegung der 1970er Jahre wieder aufgegriffen.

Biografie

Alice Pfeffer wurde als jüngstes von sechs Kindern des Lampenfabrikanten Heinrich Pfeffer und seiner Frau Natalia geb. Draeger in der elterlichen Wohnung in der Brandenburgstraße 75 (heute Lobeckstraße 75) in der Luisenstadt geboren[1]. Von 1911 bis 1916 ließ sie sich zur Malerin und Grafikerin an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums Berlin ausbilden. Sie fühlte sich den modernen Künstlern um Herwarth Walden in dessen Galerie „Der Sturm“ in Berlin verbunden. Nach der Heirat mit Oskar Nerlinger 1918 arbeitete sie an dessen Fotogrammen und Filmen mit. In den 1920er Jahren nahm sie zusätzlich den Künstlernamen Lex an. 1928 wurde sie Mitglied der KPD und fertigte zahlreiche Plakate an. Sie war wie auch ihr Ehemann seit etwa 1929 Mitglied der Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO). 1929 nahm sie an der „dem Neuen Sehen verpflichteten, bedeutenden“[3] Internationalen Ausstellung Film und Foto des Deutschen Werkbunds in Stuttgart und Berlin teil.[4]

Paragraph 218
Alice Lex-Nerlinger, 1931 ausgestellt

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In ihren Bildern ergriff sie Partei für die Arbeiterklasse, insbesondere auch für die Frauen aus dem Proletariat und stellte ihre solidarische Stärke dar. 1931 zeigte sie in der Großen Berliner Kunstausstellung ein mit Spritztechnik gefertigtes Bild, um gegen die Verhaftung der Ärzte Friedrich Wolf und Else Kienle zu protestieren, die wegen Abtreibung angeklagt waren: Aus der Silhouette einer gesichtslosen Schwangeren tritt eine Gruppe von Frauen, die sich gegen ein gigantisches schwarzes Kreuz stemmen, auf dem „Paragraph 218“ steht. Damit rief sie den Protest von Kirchenvertretern wie auch des SA-Führers August Wilhelm von Preußen hervor, die eine Beschlagnahme des Bildes durchsetzten. Von der feministischen Frauenbewegung der 1970er Jahre wurde es Jahrzehnte später wieder aufgegriffen.

1932 präsentierte sie in einer Ausstellung ein großformatiges Gemälde Feldgrau schafft Dividende, das einen toten Soldaten im Stacheldrahtverhau hängend zeigte, während im Hintergrund mit Kriegsmaterial beladene Waggons ein Rüstungsunternehmen verließen, und zog damit den Zorn der völkischen Presse auf sich. Wie John Heartfield nutzte auch sie die Möglichkeiten der Fotomontage.[5]

Nach der Machtübergabe an die NSDAP und ihre deutschnationalen Bündnispartner wurde sie kurzzeitig wegen des Verdachts des Hochverrats verhaftet. Es kam zu Hausdurchsuchungen, sie wurde aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen und erhielt Berufsverbot. Sie vernichtete einen Teil ihres Werks und stellte in der gesamten Zeit des Nationalsozialismus alle öffentlichen Tätigkeiten ein, arbeitete aber heimlich weiter. 1939 ging sie für längere Zeit nach Italien. Ihr Mann konnte weiterhin als Lehrer an einer Oberschule unterrichten und sich sogar an den Großen Deutschen Kunstausstellungen von 1939 bis 1944 mit Landschaftsaquarellen beteiligen.

Nach dem NS-Ende wurde Alice Lex-Nerlinger freischaffend wieder in Berlin tätig und unterrichtete Akt-Zeichnen und Landschaftsmalerei an der Volkshochschule Steglitz. 1945 gehörte sie mit ihrem Mann und anderen vormaligen ASSO-Mitgliedern zu den Begründern der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Künstler, der später im Schutzverband bildender Künstler aufging.[6] 1946 nahm sie gemeinsam mit anderen Künstlern aus der Tradition der proletarisch-revolutionären Kunst wie Oskar Nerlinger, Heinrich Ehmsen, Lea Grundig, Hermann Bruse, Otto Nagel, Horst Strempel, Magnus Zeller an der 1. Deutschen Kunstausstellung in Ostberlin teil.[7] Sie trat nun der SED bei.[8] Oskar Nerlinger gab von 1947 bis 1949 die Zeitschrift Bildende Kunst heraus, zu deren Redaktionsbeirat seine Frau gehörte und in der sie Artikel und Illustrationen publizierte. Im Rahmen des Konzepts Bitterfelder Weg ging Lex-Nerlinger in Industriebetriebe, porträtierte Lehrlinge und Arbeiter.

In einer großen Retrospektive zeigte die Akademie der Künste der DDR 1975 die Werke von Alice Lex-Nerlinger und Oskar Nerlinger mit frühesten Arbeiten, solchen der proletarisch-revolutionären Phase der 1920er und 1930er Jahre, nach der Machtübergabe Entstandenem und sozialistisch-realistischen Werken aus den Jahren der DDR. Die Ausstellung wurde von der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst anschließend auch in Westberlin gezeigt.[9]

Ausgezeichnet wurde sie für ihr Werk mit einer Ehrenpension (1960), die sie mit Unterstützung der Deutschen Akademie der Künste von der Regierung der DDR erhielt, obwohl sie selbst nicht Mitglied der Akademie war, und mit dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR (1974).[10]

Das Verborgene Museum in Berlin präsentierte auf Initiative der US-amerikanischen Kunsthistorikerin Rachel Epp Buller 2016 eine retrospektive Ausstellung.[11]

Ausstellungen (Auswahl)

Zeitschriftenpublikationen der Künstlerin (Auswahl)

  • Das Wandbild als Forderung unserer Zeit. In: In: Bildende Kunst. Zeitschrift für Malerei, Graphik, Plastik und Architektur. Berlin. 3. Jahrgang Heft 3/1949, S. 92/93

Literatur

  • Petra Jakoby: Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe. transcript, Bielefeld 2007 (Zugl.: Freiburg i. Br., Univ., Diss., 2005), ISBN 978-3-89942-627-4.
  • Irina Hiebert Grun: Alice Lex-Nerlinger: Feldgrau schafft Dividende. In: Dieter Scholz / Irina Hiebert Grun / JoachimJäger (Hrsg.): Die Kunst der Gesellschaft 1900–1945. Sammlung der Nationalgalerie. Staatliche Museen zu Berlin, Berlin 2021, ISBN 978-3-96912-025-5, S. 262f.
  • Maike Steinkamp: Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption „entarteter“ Kunst in Kunstkritik und Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR. Akademie-Verlag, Berlin 2008 (Schriften der Forschungsstelle „Entartete Kunst“; 2) (Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2007), ISBN 978-3-05-004450-7.
  • Alice Lex und Oskar Nerlinger. In: Lothar Lang: Begegnungen im Atelier. Henschelverlag, Berlin 1975, S. 23–29.
  • Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Otto-Nagel-Haus. Abteilung proletarisch-revolutionärer und antifaschistischer Kunst der Nationalgalerie. Führer durch die Ausstellung. Einführung: Friedegund Weidemann, Berlin (DDR) 1985.
  • Marion Beckers (Hrsg.): Alice Lex-Nerlinger 1893–1975. Fotomonteurin und Malerin, Lukas Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-86732-245-4. Katalog anlässlich der Ausstellung im Verborgenen Museum, Berlin.
  • Wolfgang Hütt: Deutsche Malerei und Graphik im 20. Jahrhundert. Henschelverlag, Berlin (DDR) 1969.
  • Dietmar Eisold (Hrsg.): Lexikon Künstler in der DDR. Verlag Neues Leben, Berlin 2010, ISBN 978-3-355-01761-9, S. 537/538.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b StA Berlin VI, Geburtsurkunde Nr. 2018/1893
  2. Biografie Alice Lex-Nerlinger, artefakt-berlin.de (pdf) (Memento vom 20. Juni 2016 im Internet Archive)
  3. Andres Janser/Arthur Rüegg, Hans Richter. Die neue Wohnung. Architektur, Film, Raum, Baden (Schweiz) 2001, S. 19.
  4. Cristina Fischer, Gegen Kirche und Staat. Das "Verborgene Museum" in Berlin zeigt eine Retrospektive der kommunistischen Künstlerin Alice Lex-Nerlinger (1893–1975), in: junge Welt, 17. Juni 2016, Nr. 139, S. 15.
  5. Wolfgang Hütt, Deutsche Malerei und Graphik im 20. Jahrhundert, Berlin (DDR) 1969, S. 284.
  6. Petra Jakoby, Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe, Bielefeld 2007, S. 122f.
  7. Maike Steinkamp, Das unerwünschte Erbe: Die Rezeption "entarteter" Kunst in Kunstkritik und Ausstellungen und Museen der SBZ und frühen DDR, Berlin 2008, S. 101.
  8. ZK der SED gratuliert, in: Neues Deutschland, 30. Oktober 1973, siehe: [1].
  9. Neue Gesellschaft für bildende Kunst, Alice Lex-Nerlinger/Oskar Nerlinger. Malerei, Grafik, Foto-Grafik, 1. Oktober 1975-18. November 1975, siehe: [2].
  10. Rosa von Schulenburg, Vorwort, in: Marion Beckers (Hrsg.), Alice Lex-Nerlinger 1893–1975. Fotomonteurin und Malerin, Berlin 2016, S. 7–8, hier: S. 7.
  11. Carolin Haentjes: Künstlerin Alice Lex-Nerlinger. Kunst für Snobs? Nein, fürs Volk. Der Tagesspiegel, 25. April 2016.

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