Alexander Wienerberger

Verhungernde Bauern am Straßenrand in Charkow 1933
(Foto: Alexander Wienerberger)

Alexander Wienerberger (* 8. Dezember 1891 in Wien; † 5. Januar 1955 in Salzburg) war ein österreichischer Chemieingenieur, der 19 Jahre bei Chemieunternehmen der UdSSR arbeitete. Während seiner Arbeit in Charkow 1932 bis 1933 dokumentierte er mit seiner Fotokamera die Hungersnot in der Ukraine und schuf damit Belege für den Holodomor.

Leben

Alexander Wienerberger wurde in Wien in einer Familie gemischter Herkunft geboren. Als Sohn eines jüdischen Vaters und einer tschechischen Mutter betrachtete er sich selbst laut seiner Tochter als Österreicher und Atheist.[1]

Von 1910 bis 1914 studierte er an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.

Während des Ersten Weltkriegs diente er in der österreichisch-ungarischen Armee, nahm an Kämpfen gegen die russische Armee teil und wurde 1915 gefangen genommen.

1917 durfte er nach Moskau ziehen, wo er mit Freunden ein chemisches Labor gründete. Im Herbst 1919 versuchte er, mit gefälschten Papieren aus Sowjetrussland über Estland nach Österreich zu fliehen. In Pskow wurde er von Tscheka verhaftet und wegen Spionage verurteilt. Nach einigen Wochen gelang ihm jedoch die Flucht. Er kehrte nach Moskau zurück und übernahm als Pächter eine Farben-Fabrik. Vom Herbst 1923 bis April 1924 war er noch einmal inhaftiert. Er wurde zum Ingenieur für die Herstellung von Lacken und Farben ernannt und arbeitete später in Fabriken für die Herstellung von Sprengstoffen.

1927 scheiterte seine Ehe mit Josefine Rönimois. Sie blieb nach der Scheidung zusammen mit den Kindern Annemarie und Alexander in Estland. (Annemarie zog später nach Österreich.)

1928 besuchte Wienerberger zum ersten Mal nach seiner Inhaftierung seine Verwandten in Wien und heiratete Lilly Zimmermann, die Tochter eines Herstellers aus Schwechat. Bei seiner Rückkehr nach Moskau wurden Beschränkungen aufgehoben, so dass seine Frau in die Sowjetunion ziehen konnte. 1931 durfte sie für kurze Zeit nach Wien zurückkehren, wo sie ihre Tochter Margot zur Welt brachte.

In den frühen 1930er Jahren lebte die Familie in Moskau, wo Wienerberger bei einer Chemiefabrik eingesetzt wurde. 1932 wurde er nach Ljubutschany (Oblast Moskau) versetzt, wo er technischer Direktor einer Kunststofffabrik war, und wenig später nach Charkow. Während seines Aufenthalts in Charkow wurde er Zeuge einer Hungersnot, die er auf Fotografien festhielt. 1933 war er wieder in Moskau und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Labor. 1934 kehrte er nach Österreich zurück.

Am 18. Mai 1938 beantragte Wienerberger die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai aufgenommen (Mitgliedsnummer 6.346.337).[2] Am 27. Februar 1942 wurde er vom Gaugericht aus der Partei wegen seiner jüdischen Vorfahren ausgeschlossen.[3] 1944 diente Wienerberger als Verbindungsoffizier der Wlassow-Armee. Nach dem Krieg gelang es ihm, die Auslieferung an sowjetische Truppen zu vermeiden – er wechselte in die amerikanischen Besatzungszone in Salzburg und war längere Zeit in Glasenbach interniert.[4]

1955 verstarb er und wurde am Kommunalfriedhof der Stadt Salzburg beigesetzt.

Fotografische Dokumentation der Hungersnot

Hungriges Mädchens in Charkow 1933 (Foto: Alexander Wienerberger)
Schild bei Charkow 1933 mit dem Text: „Der Aushub von Gräbern ist an dieser Stelle ausdrücklich verboten“ (Foto: Alexander Wienerberger)

Wienerberger lebte in den Jahren 1932–1933 in Charkow, der damaligen Hauptstadt der Ukrainischen SSR. Dort wurde er Zeuge des Holodomor und fotografierte die Szenen, die er auf den Straßen der Stadt sah, trotz der drohenden Verhaftung durch den NKWD. Er fertigte heimlich rund 100 Fotografien an. Sie zeigen Schlangen hungriger Menschen in Lebensmittelgeschäften, hungernde Kinder, Leichen von Menschen in den Straßen von Charkow und Massengräber von Hungeropfern. Der Ingenieur nahm die Fotos mit einer deutschen Leica-Kamera auf, die ihm wahrscheinlich ein Verwandter aus Deutschland geschickt hatte.[1]

Wienerberger reiste 1934 nach Österreich ab und sandte mit Hilfe der österreichischen Botschaft Negative per Diplomatenpost. Österreichische Diplomaten bestanden auf dieser Vorsichtsmaßnahme, da eine eventuelle Entdeckung von Fotografien bei der Grenzkontrolle sein Leben bedrohen könne. Nach seiner Rückkehr nach Wien übergab Wienerberger die Bilder an Kardinal Theodor Innitzer, der sie zusammen mit dem Generalsekretär des Internationalen Komitees nationaler Minderheiten Ewald Ammende dem Völkerbund überreichte.[1]

1934 veröffentlichte die Vaterländische Front in Österreich Wienerbergers Fotos in einer kleinen Broschüre mit dem Titel Rußland wie es wirklich ist!, jedoch ohne den Autor aus Sorge um seine Sicherheit zu erwähnen.[5]

1935 wurden Wienerbergers Fotografien in breiterem Rahmen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, dank der Veröffentlichung in dem Buch Muss Russland hungern? von Ewald Ammende.[6] In dem Buch wurde Wienerberger als Urheber der Fotografien aus Sicherheitsgründen ebenfalls nicht erwähnt.

1938 wies Wienerberger in einer Artikelserie im Salzburger Volksblatt voller Stolz darauf hin, dass seine Fotos in die Antikomintern-Ausstellung und die Ausstellung Der ewige Jude aufgenommen wurden.

1939 veröffentlichte Wienerberger in Österreich Erinnerungen an sein Leben in der Sowjetunion. In dem Buch, das auch antisemitische Ausfälle enthält,[4] sind zwei Kapitel dem Holodomor gewidmet.[7] Die Fotos wurden auch in seine 1942 veröffentlichten Memoiren aufgenommen.[8]

Wienerbergers Fotos wurden in vielen anderen Werken neu veröffentlicht. Sie sind im Kanadischen Museum für Menschenrechte in Winnipeg ausgestellt.

Wienerbergers Leica-Kamera kam 2012 in den Besitz einer Urenkelin, die in England Fotografie studierte. Wie sie in einem Blog zur britischen Fotografiegeschichte mitteilte, hatte ihr Großvater ihr die Kamera übergeben.[9] 2013 veröffentlichte sie ein Buch über ihren Urgroßvater und den Holodomor, das unter anderem Fotografien Wienerbergers aus dem Jahr 1933 und Erinnerungen seiner Tochter enthält.[10]

Einzelnachweise

  1. a b c "Це був геноцид": історія британської фотохудожниці, яка ширить пам'ять про Голодомор (englisch) BBC Україна. 23. November 2018. Abgerufen am 23. November 2018.
  2. Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/48521118
  3. Uwe Baur und Karin Gradwohl-Schlacher: Literatur in Österreich 1938–1945. Band 6: Salzburg. Böhlau, Wien 2021, S. 173-76 (library.oapen.org [PDF]).
  4. a b Wienerberger, Alexander Biografie im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
  5. Rußland wie es wirklich ist! Hrsg. von der Vaterländischen Front, für den Inhalt verantwortlich: Dr. Ferdinand Krawiec, Wien 1934, 16 S.
  6. Ewald Ammende: Muß Rußland hungern? Menschen- und Völkerschicksale in der Sowjetunion. Wien 1935, XXIII, 355 Seiten, mit 22 Abbildungen.
  7. Alexander Wienerberger: Hart auf hart. 15 Jahre Ingenieur in Sowjetrußland. Ein Tatsachenbericht. Salzburg 1939.
  8. Alexander Wienerberger: Um eine Fuhre Salz im GPU-Keller. Erlebnisse eines deutschen Ingenieurs in Sowjetrussland. Mit Zeichnungen von Günther Büsemeyer. Gütersloh [1942], 32 Seiten.
  9. Alexander Wienerberger British photographic history
  10. Samara Pearce: Masks of the Holodomor, 2013. Auszug (PDF; 121 kB) mit dem Kapitel Alexander Wienerberger: His Daughter’s Memories.

Weblinks

Commons: Photographs by Alexander Wienerberger – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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Famine Kharkov girl and goat 1933.jpg
Child with signs of starvation on the streets of Kharkiv, Diocesan Archive of Vienna.
In this place digging graves is strictely forbidden.jpg
Aus „Muss Russland Hungern?“, veröffentlicht von Wilhelm Braumüller, Wien, 1933. Bei Charkiw – Text auf dem Schild: „Der Aushub von Gräbern ist an dieser Stelle kategorisch verboten“ (Bild: Alexander Wienerberger). Originaltext der Veröffentlichung: „Daneben in blühender Landschaft die Aufschrift: 'Hier ist das Bestatten von Leichen kategorisch verboten!'“
GolodomorKharkiv.jpg
Die Opfer des Hungers. Fußgänger und Leichen verhungerter Bauern auf einer Straße in Charkow, 1933 (Bild: Alexander Wienerberger). Foto aus der Sammlung von Kardinal Theodor Innitzer (Archiv der Diözese Wien). Basil Marochko (Institut für Geschichte der Ukraine).