Aktionsbüro Mittelrhein
Das Aktionsbüro Mittelrhein (vormals Aktionsfront Mittelrhein) ist eines der überregionalen Koordinierungs- und Organisationsbüros beziehungsweise eine Vernetzungsplattform der militanten neonazistischen freien Kameradschaften gewesen. Seit 2012, mit Unterbrechung zwischen 2017 und 2018, liefen gegen vermeintliche 26 Mitglieder drei Hauptverfahren vor dem Landgericht Koblenz wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung, schweren Landfriedensbruchs und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Im September 2019 wurde das dritte Hauptverfahren eingestellt.[1][2][3]
Allgemeines und Geschichte
2004 trat die „Aktionsfront Mittelrhein“ erstmals öffentlich in Erscheinung.[4] Als sich abzeichnete, dass diese verboten werden könnte, gründete Christian Häger 2006 das „Aktionsbüro Mittelrhein“. Als Zentrale diente das sogenannte „Braune Haus“ – in Anlehnung an das gleichnamige Gebäude der Reichsparteizentrale der NSDAP in München – in Bad Neuenahr-Ahrweiler, das überregionale Bekanntheit erlangte.[5] Es wurde von drei Mietern ab Ende 2009, zeitweise ohne Mietvertrag,[6] bewohnt und bis zum 15. August 2012 zwangsgeräumt.[7]
Laut der 926 Seiten umfassenden Anklageschrift handelte das „Aktionsbüro“ faktisch wie eine freie Kameradschaft. Seine Mitglieder organisierten Demonstrationen, bekämpften die Antifa, nahmen an paramilitärischen Trainingscamps teil und gaben politische Schulungen. Außerdem versuchten sie Neonazis aus dem Raum Bad Neuenahr-Ahrweiler und Nordrhein-Westfalen zu vernetzen. Darum luden sie alle drei Monate befreundete Kameradschaftsführer zu einem Geheimtreffen, dem sogenannten „Führer-Thing“, ins „Braune Haus“ ein.[8] Das „Aktionsbüro“ strebte laut Anklageschrift „die Errichtung eines Staates nach nationalsozialistischem Vorbild“ und „die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ an.[5]
Ermittlungen
Mitte 2010 verdichteten sich die Hinweise, dass das „Aktionsbüro Mittelrhein“ eine kriminelle Vereinigung sei. Die daran anschließenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Koblenz gestalteten sich „langwierig und äußerst schwierig“,[9] weil die Mitglieder sich strikt nach außen abschotteten. Am Morgen des 13. März 2012 durchsuchten 300 Polizeibeamte, darunter ein Spezialeinsatzkommando, das „Braune Haus“ und weitere Wohnungen in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Thüringen und Baden-Württemberg. Zu diesem Zeitpunkt ermittelte die Staatsanwaltschaft Koblenz gegen insgesamt 33 Personen – viele mit Verbindungen zur NPD –, darunter insgesamt 24 Personen, gegen die vor den Durchsuchungen ein Haftbefehl erlassen worden war.[9] Bei den Durchsuchungen stellte die Polizei mehrere Baseballschläger, Zwillen mit Stahlkugeln, Kurzwaffen ohne scharfe Munition, Hakenkreuzflaggen und ähnliches Propagandamaterial sicher.[10][4]
Verfahren
Am 20. August 2012 wurde vor der 12. großen Strafkammer des Landgerichts Koblenz Anklage gegen insgesamt 26 Personen aus dem Umfeld des Aktionsbüros Mittelrhein erhoben. Ihnen wurde die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung, schwerer Landfriedensbruch und Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen vorgeworfen.[11] Am 22. November 2013 verurteilte das LG Koblenz zwei der Angeklagte zu Bewährungsstrafen von 21 bzw. 18 Monaten. Zwei weitere Angeklagte wurden ebenfalls schuldig gesprochen, allerdings sah das LG von einer Strafe ab. Alle vier legten ein Geständnis ab und distanzierten sich von der rechten Szene.[12] Anfang 2014 wurde das Verfahren gegen zwei Angeklagte eingestellt.
Während des Verfahrens kam es zu einer rigorosen Verzögerungsstrategie seitens der bis zu 52 Strafverteidiger sowie ihrer Mandanten durch etwa 500 Befangenheitsanträge, 240 Beweisanträge und 400 Anträge zum Verfahrensablauf. Bis zum Ende wurden die Verfahren von neun Angeklagten vom Hauptprozess getrennt, zwei Richter für befangen erklärt und ein weiterer pensioniert.[11] Am 29. Oktober 2013, 30. Januar und 13. März 2014 kam es zu Stink-Attacken im Sitzungssaal, beim ersten Mal mit abgelaufenem Knoblauchöl und beim dritten Mal vermutlich mit Buttersäure. In allen drei Fällen wurden die Ermittlungen eingestellt. Von der ersten Attacke wurde auch der Nürburgringprozess gegen den ehemaligen rheinland-pfälzischen Finanzminister Ingolf Deubel betroffen.[13] Weil der Vorsitzende Richter Ende Juni 2017 die Altersgrenze erreichte und bis dahin kein Urteil absehbar war, beschloss die 12. Große Strafkammer des LG Koblenz am 2. Mai 2017, das Verfahren aufgrund des Verfahrenshindernisses der überlangen Verfahrensdauer auf unbestimmte Zeit auszusetzen.[11]
Gegen diese Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Koblenz erfolgreich Beschwerde ein. Am 15. Oktober 2018 wurde das Verfahren gegen die verbliebenen 17 Angeklagten mit unveränderter Anklageschrift vor dem LG Koblenz wieder aufgenommen. Bereits zu Beginn wurden viele Anträge angekündigt.[11]
Am 21. November wurde das Verfahren erneut unterbrochen, nachdem einer Besetzungsrüge stattgegeben wurde. Die verhandelnde Strafkammer war als allgemeine Strafkammer besetzt, hätte aber als Staatsschutzkammer besetzt sein müssen. Dafür war nach dem Geschäftsverteilungsplan eine andere Strafkammer zuständig.[14] Das Verfahren wurde am 26. Februar 2019 vor der 12. Strafkammer des LG Koblenz erneut aufgenommen.[15][16]
Führende Funktionäre
Als Rädelsführer sind folgende Personen bekannt:[4]
- Christian Häger, Chef des "Braunen Hauses", Vorsitzender der NPD-Jugendorganisation Junge Nationalisten,
- Axel Reitz, Koordinator der Anti-Antifa-Arbeit, Anführer der Kameradschaft Walter Spangenberg,
- Sven Lobeck, Zeitsoldat, NPD-Landesvorstandsmitglied von Rheinland-Pfalz,
- Sven Skoda, Anführer einer Skinhead-Kameradschaft,
- Philipp „Phil“ Neumann, Sänger der rechtsextremen Band Flak, Liedermacher.
Durch personelle Überschneidungen werden auch die Verbindungen zur NPD öffentlich problematisiert. Beobachter gehen davon aus, dass das Verfahren auch wichtige Informationen für ein erneutes NPD-Verbotsverfahren liefern könnte.[5]
Einzelnachweise
- ↑ Acht Einstellungen, drei Urteile und ein Sterbefall - Hauptverfahren gegen "Aktionsbüro Mittelrhein" eingestellt SWR 4. September 2019
- ↑ „Aktionsbüro Mittelrhein“ Mammut-Prozess gegen Neonazis in Koblenz eingestellt – Rechtsextreme jubeln, von Kira Ayyadi, Belltower.News 6. September 2019
- ↑ Neonazi-Mammutprozess vor dem Ende, Blick nach Rechts 4. September 2019
- ↑ a b c Machte "Aktionsbüro" Jagd auf Linke? In: Rhein-Zeitung. 13. März 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ a b c Jörg Diehl: Mammutprozess gegen Rechtsextreme: Zwei Ankläger, 52 Verteidiger. In: Spiegel Online. 5. September 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Räumungsklage Braunes Haus. In: Rhein-Zeitung. 20. Juni 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Räumung: Braunes Haus ist wieder frei von Nazis. In: Rhein-Zeitung. 16. August 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Kameradschaften trafen sich zum "Führer-Thing" in der Weinbergstraße 17. In: Rhein-Zeitung. 3. August 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ a b Schlag gegen Rechts: Spezialeinsatzkommando stürmt "Braunes Haus" in Bad Neuenahr-Ahrweiler. In: General-Anzeiger. 13. März 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Bernd Dörries: Razzien in rechter Szene: Aktion gegen das Braune Haus. In: Süddeutsche Zeitung. 13. März 2012, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ a b c d Arno Frank: Koblenz: So beginnt der neue Prozess gegen das "Aktionsbüro Mittelrhein". In: Spiegel Online. 15. Oktober 2018, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Erste Urteile im Koblenzer Neonazi-Prozess: "Das war eine Lektion für mich." In: Rhein-Zeitung. 23. November 2013, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Stinkbombe in Koblenzer Neonazi-Prozess: Ermittlungen gegen 44-Jährigen eingestellt. In: Rhein-Zeitung. 9. November 2015, abgerufen am 23. Oktober 2018.
- ↑ Kerstin Rueber-Unkelbach: Aktionsbüro Mittelrhein 2.0 geplatzt. In: Strafverfahren – in Koblenz und anderswo. 21. November 2018, abgerufen am 21. November 2018.
- ↑ Kerstin Rueber-Unkelbach: Aktionsbüro Mittelrhein 3.0 Neustart Ende Februar 2019. In: Strafverfahren – in Koblenz und anderswo. 4. Dezember 2018, abgerufen am 4. Dezember 2018.
- ↑ Prozess gegen „Aktionsbüro Mittelrhein“ beginnt von vorn. Spiegel Online, 26. Februar 2019, abgerufen am selben Tage.