Akademie Waldschlösschen

Waldschlösschen

Die Akademie Waldschlösschen ist eine Bildungseinrichtung in der Nähe von Reinhausen in Niedersachsen, zwischen Göttingen und Heiligenstadt liegend.

Das Haus und seine Geschichte

Luftaufnahme der Akademie

Im Jahr 1981 wurde das 1904 als „Kurhotel Waldschlösschen“ errichtete, damals leerstehende Baudenkmal von den Gründern als Sitz der zunächst „Freies Tagungshaus Waldschlösschen“ benannten Bildungsstätte übernommen. 2000 erfolgte die Umbenennung in „Akademie Waldschlösschen“. Durch die Öffnung der innerdeutschen Grenze – fünf Kilometer südöstlich – rückte das Waldschlösschen geographisch ab 1989 in die Mitte Deutschlands. 1990 und 2008 wurde der Altbau um zwei weitere Seminar- und Unterkunftshäuser ergänzt. Ihr Träger ist seit 2003 die von ihren Gründern Rainer Marbach und Ulli Klaum errichtete gemeinnützige Stiftung Akademie Waldschlösschen. Seit dem Jahr 2000 ist die Einrichtung nach dem Niedersächsischen Erwachsenenbildungsgesetz staatlich anerkannt und verfügt – wie die anderen 22 niedersächsischen Heimvolkshochschulen – über ein Budget im Landeshaushalt.

Bedeutung

Lehrertreffen 2009

Wenn sich auch die Arbeit der Akademie Waldschlösschen von Anfang an nicht nur auf die Zielgruppe der Schwulen und Lesben beschränkte, so ist sie doch – entsprechend ihrer Entstehung aus der deutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre – vornehmlich als „schwule Volkshochschule“ gegründet worden. Seitdem hat sie sich zum bundesweiten Zentrum der Begegnung, Vernetzung und Qualifizierung emanzipativer LSBT*I-Arbeit entwickelt (z. B. von Lehrern, Juristen, Theologen, schwulen Vätern und schwulen, schwullesbischen und queeren AStA-Referaten der deutschen Hochschulen sowie Trans*Aktiv und in Zusammenarbeit mit Intersexuelle Menschen e.V.). Sie ist aus der Geschichte der deutschen Schwulenbewegung nicht wegzudenken.[1] Ralf König erwähnt das Waldschlösschen mehrfach in seinen Comics, etwa als Handlungsort in „Beach Boys“ (Rowohlt 1989, ISBN 3-499-13457-8).

Das „queere“, aus der Kritik der Heteronormativität gewachsene Selbstverständnis der Akademie ist von der Idee geprägt, „dass Identitäten, Normen und Werte nicht als selbstverständlich oder ‚natürlich‘, sondern als sozial bedingt, als ‚konstruiert‘ anzusehen und neu zu reflektieren und auszuhandeln sind.“[2] Die Arbeit der Akademie „wird getragen von

  • der Überzeugung, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und an der Verteilung von Einfluss und Gestaltungsmacht in der Gesellschaft partizipieren können,
  • dem Respekt für Vielfalt und Verschiedenheit von Lebensstilen und Sexualitäten,
  • der Solidarität mit Ausgegrenzten und Diskriminierten,
  • dem Hinterfragen der Herrschaft der Heteronormativität,
  • der Überzeugung vom hohen Wert von Selbstorganisation und Selbstverantwortung.“[2]
Denkraum Namen und Steine von Tom Fecht, Teil des Projektes Memoire nomade

Bedeutung hat die Akademie auch für die Aids-Arbeit in Deutschland. Den Herausforderungen der Aids-Krise der 1980er Jahre begegnete sie anfangs durch die bundesweite Vernetzung der Aids-Hilfen, die zur Gründung des Bundesverbandes der Deutschen AIDS-Hilfe führte, mit der sie seitdem als Bildungspartner zusammenarbeitet. Zudem entwickelte sie seit 1985 ein Fortbildungsprogramm für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter der AIDS-Hilfen und fördert die Begegnung, Fortbildung und Selbstorganisation von Menschen mit HIV und Aids aus allen Bevölkerungsgruppen. Die ehemalige Bundesgesundheitsministerin und Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sagte dazu: „Mir ist das Waldschlösschen wichtig, weil Aids-Betroffene hier lebenswichtige Unterstützung erfahren. Menschen begegnen Menschen, das trägt entscheidend zur positiven Lebensführung bei.“[3] Einen sichtbaren Ausdruck der Trauer um die vielen an Aids gestorbenen Menschen bildet das Denkraumprojekt Namen und Steine, eine Kunstinstallation in den Außenanlagen des Waldschlösschens mit den Namen von Menschen, die an den Folgen von Aids gestorben sind. Es wird jährlich ergänzt.

Die Bedeutung der Akademie Waldschlösschen als Tagungshaus der LSBTIQ*-Bewegung, als Schutzraum und als Ort der Vernetzung und auch der Selbstfindung wurde auch während der Corona-Pandemie in besonderer Weise deutlich. Wie viele Bildungseinrichtungen war die Akademie Waldschlösschen als Folge der Kontaktverbote und des Lockdowns gezwungen, den Betrieb und das Bildungsangebot vorübergehend einzustellen. Infolgedessen geriet das Haus durch die fehlenden Einnahmen und ausbleibende Teilförderungen aus Bundes- und Landesmitteln für die Bildungsangebote in finanzielle Schwierigkeiten. Durch einen vom Team des Hauses initiierten Spendenaufruf[4] kamen unter dem Motto „Waldschlösschen muss bleiben“ innerhalb weniger Tage mehr als 70.000 Euro zusammen. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Spenden bestand aus kleinen Beträgen von Privatpersonen.

Bildungsprogramm

Orchesterprobe

Das Seminarprogramm der Bildungseinrichtung richtet sich an Menschen aus allen Bevölkerungskreisen. Es verzeichnet Angebote zu den Arbeitsbereichen „Gesellschaftliches Engagement und Selbsthilfe“, „Lebensgestaltung und Gesundheit“, „Wissenschaft, Kunst und Sprache“ sowie „Weiterbildung im beruflichen Kontext“ und erhält sein „besonderes Profil durch Angebote

  • zu schwulen und lesbischen, zu bisexuellen, zu queeren Lebensweisen,
  • für Menschen mit HIV und AIDS und ihre Partnern und Partnerinnen,
  • zur Qualifizierung von ehrenamtlicher Arbeit, insbesondere für Menschen, die sich gegen Homophobie und in der AIDS-Hilfe-Arbeit engagieren,
  • zur Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen hinsichtlich der inhaltlichen Schwerpunkte der Akademie“.[2]

Die Akademie kooperiert in ihrer Bildungsarbeit mit Menschen, Gruppen und Netzwerken, die sich gegen Homo-, Trans*- und Interfeindlichkeit, Rassismus und Migrationsfeindlichkeit engagieren. Initiierung und Förderung von Selbsthilfe und Vernetzung zivilgesellschaftlicher Strukturen spielen dabei eine zentrale Rolle. Auch berufsbegleitende Fortbildung vor allem für Menschen in sozialen Berufen (wie z. B. Arbeit mit Behinderten, Schwulenfeindlichkeit im Sport, Sexualpädagogik der Vielfalt) weist das Programm auf.

„Die Akademie Waldschlösschen steht für Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und fördert in ihrer Bildungs- und Vernetzungsarbeit deren Sichtbarkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Ihre Bildungsarbeit mit intersektionalem Ansatz dient der Stärkung von Selbstbewusstsein, geschlechtlicher Selbstbestimmung und Identitäten und bietet einen offenen Raum der Reflexion ihrer historischen und gesellschaftlichen Bedingtheit, der Kritik an der herrschenden Heteronormativität und Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Mit dem seit 2015 bestehenden Modellprojekt «Akzeptanz für Vielfalt – gegen Homo-, Trans*- und Inter*feindlichkeit» im Bundesprogramm «Demokratie leben!» des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend strebt die Akademie ein gesamtgesellschaftliches Bündnis für Akzeptanz für Vielfalt an – flächendeckend zunächst vornehmlich in Niedersachsen.“[5]

Neben den eigenen Seminaren finden zahlreiche Gasttagungen statt, vornehmlich in Kooperation mit Hochschulen, Behörden und sozialen Einrichtungen. Jährlich besuchen rund 6.000 Teilnehmer mit 15.000 Übernachtungen in 300 Seminaren die Akademie.

Stiftungsgremien

Stiftungsrat 2004

Vorstandsmitglieder der Stiftung Akademie Waldschlösschen sind Rainer Marbach und Ulli Klaum.

Den Stiftungsrat der Akademie bilden Silke Eggers (Vorsitzende), Stefan Reiß (stellvertretender Vorsitzender), Michael Bochow, Monika Börding, Klaus Müller, Joachim Schulte, Klaus Stehling, Renate Steinhoff, Thomas Wilde, Carsten Schatz und als Vertreter der Deutschen AIDS-Hilfe Winfried Holz sowie als Gast Hans Hengelein.

Veröffentlichungen

Die Akademie bringt seit 1999 Publikationen in zwei Reihen heraus: Im Männerschwarm Verlag erscheinen Buchveröffentlichungen in der Edition Waldschlösschen (2021: 19 Bände). Im Waldschlösschen-Verlag gibt die Akademie in der Edition Waldschlösschen – Materialien Bücher und Broschüren heraus, die vornehmlich Dokumentationen und Materialien zu Veranstaltungen der Bildungsstätte bieten (2020: 20 Bände).

Auswahl von Büchern der Edition Waldschlösschen:

  • Jean Jacques Soukup (Hrsg.): Die DDR. Der Aufbruch. Die Schwulen. Versuch einer Bestandaufnahme. Verein für Soziale und Pädag. Arbeit, 1990, ISBN 3-9802426-0-9.
  • Michael Bochow, Rainer Marbach (Hrsg.): Islam und Homosexualität. Koran / Islamische Länder / Situation in Deutschland. MännerschwarmSkript-Verlag, 2003, ISBN 3-935596-24-3.
  • Lüder Tietz (Hrsg.): Homosexualität verstehen. Kritische Konzepte für die psychologische und pädagogische Praxis. MännerschwarmSkript-Verlag, 2004, ISBN 3-935596-59-6.
  • Michael Bochow: Ich bin doch schwul und will das immer bleiben. Schwule Männer im dritten Lebensalter. MännerschwarmSkript-Verlag, 2005, ISBN 3-935596-79-0.
  • Volker Weiß: … mit ärztlicher Hilfe zum richtigen Geschlecht? Zur Kritik der medizinischen Konstruktion der Transsexualität. MännerschwarmSkript-Verlag, 2009, ISBN 978-3-939542-37-7.
  • Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hrsg.): Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 1. Männerschwarm Verlag, 2010, ISBN 978-3-939542-81-0.
  • Michael Bochow, Andreas Pretzel (Hrsg.): Ich wollte es so normal wie andere auch. Walter Guttmann erzählt sein Leben. Männerschwarm Verlag, 2011, ISBN 978-3-86300-102-5.
  • Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hrsg.): Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 2. Männerschwarm Verlag, 2012, ISBN 978-3-86300-123-0.
  • Volker Weiß, Bodo Niendel (Hrsg.): Queer zur Norm. Leben jenseits einer schwulen oder lesbischen Identität. Männerschwarm Verlag, 2012, ISBN 978-3-863001-16-2.
  • Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Integration. Schwule Politik und Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 3. Männerschwarm Verlag, 2013, ISBN 978-3-86300-151-3.
  • Rainer Marbach, Volker Weiß (Hrsg.): Konformitäten und Konfrontationen. Homosexuelle in der DDR. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 4. Männerschwarm Verlag, 2017, ISBN 978-3-86300-182-7.
  • Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hrsg.): Politiken in Bewegung. Die Emanzipation Homosexueller im 20. Jahrhundert. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 5. Männerschwarm Verlag, 2017, ISBN 978-3-86300-203-9.
  • Carolin Küppers, Rainer Marbach (Hrsg.): Communities, Camp und Camouflage. Bewegung in Kunst und Kultur. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 6. Männerschwarm Verlag, 2017, ISBN 978-3-86300-236-7.
  • Carolin Küppers, Martin Schneider (Hrsg.): Orte der Begegnung, Orte des Widerstands. Zur Geschichte homosexueller, trans*geschlechtlicher und queerer Räume. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Band 7. Männerschwarm Verlag, 2018, ISBN 978-3-86300-256-5.
  • Ines Pohlkamp, Kevin Rosenberger. Akzeptanz für Vielfalt von klein auf! Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Kinderbüchern. Ein Rezensionsband für pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten. Materialien, Heft 18. Waldschlösschen Verlag, 2018.
  • Carolin Vierneisel (Hrsg.). Queeres Lehren und Lernen an lehramtsbildenden Hochschulen. Verortungen und Impulse im Rahmen der Arbeit der Forschungs- und Netzwerkstelle Vielfalt Lehren! Materialien, Heft 19. Waldschlösschen Verlag, 2019.
  • Karsten Nietzschmann u. a. Vielfalts*bezogenene Perspektiven und Erfahrungen von Dozierenden im Lehramtsstudium in Sachsen und Oldenburg. Bericht zu den Ergebnissen der Forschungs- und Netzwerkstelle Vielfalt Lehren! Materialien, Heft 20. Waldschlösschen Verlag, 2019.
  • Carolin Küppers, Martin Schneider (Hrsg.): Zwischen Annäherung und Abgrenzung. Religion und LSBTIQ* in gesellschaftlicher Debatte und persönlichem Erleben. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Bd. 8. Männerschwarm Verlag, 2021, ISBN 978-3-86300-288-6.
  • Stephan Baglikow, Kim Alexandra Trau (Hrsg.): Wurzeln – Bande – Flügel. Familie als Ort der Sozialisation, Kontrolle und Emanzipation. Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Bd. 9. Männerschwarm Verlag, 2021, ISBN 978-3-86300-313-5.

Literatur

  • Rainer Marbach (Hrsg.): Waldschlösschen mittendrin. Ein Lesebuch. MännerschwarmSkript-Verlag, 2006, ISBN 3-935596-45-6.
  • Georg Etscheit: Mitten in der Provinz. Die Akademie Waldschlösschen ist die einzige staatlich anerkannte Bildungsstätte für Schwule und Lesben. In: Die Zeit. Nr. 1, 28. Dezember 2006, S. 69.

Weblinks

Commons: Akademie Waldschlösschen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Rainer Marbach: Das „Freie Tagungshaus Waldschlösschen“ 1980–1999. In: Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.): Zwischen Autonomie und Integration. Schwule Politik und Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren. Hamburg 2013, S. 34–65.
  2. a b c Leitbild (online).
  3. Zitat Rita Süssmuth auf einem Flyer auf der Website der Stiftung Akademie Waldschlösschen (Memento vom 30. Dezember 2014 im Internet Archive)
  4. Akademie Waldschlösschen muss bleiben! • #AWSmussbleiben! Abgerufen am 10. Juli 2020.
  5. Webseite Akzeptanz für Vielfalt

Koordinaten: 51° 27′ 36,3″ N, 10° 1′ 7,1″ O

Auf dieser Seite verwendete Medien

Denkraum.jpg
Autor/Urheber: James Steakley, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Denkraum "Namen und Steine" von Tom Fecht, Teil des Projektes "Memoire nomade"
Waldschlösschen Luftbild 2010.jpg
Autor/Urheber: James Steakley, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Aerial photograph
Waldschlösschen Lehrertreffen.jpg
Autor/Urheber: James Steakley, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Waldschlösschen
Waldschlösschen Orchester.jpg
Autor/Urheber: James Steakley, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Waldschlösschen
Waldschlösschen Sommer.jpg
Autor/Urheber: James Steakley, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Akademie Waldschlösschen.
Waldschlösschen Stiftungsrat.jpg
Autor/Urheber: James Steakley, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Der zuerst berufene Stiftungsrat der Akademie Waldschlösschen 2004. Von links nach rechts oben: Rainer Marbach, Monika Börding, Thomas Wilde, Michael Bochow, Joachim Schulte, Ulli Klaum, Klaus Müller, Klaus Stehling. Von links nach rechts unten: Renate Steinhoff, Hans Hengelein, Silke Eggers.