Agnotologie

Agnotologie[1] (nach der lateinisierten Form des griechischen ἀγνωστικισμός, a-gnōstikismós von altgriechisch ἀγνῶσις, a-gnō̂sis, „ohne Wissen“, „ohne Erkenntnis“, vgl. Agnostizismus; englisch agnotology) bezeichnet eine Forschungsrichtung, welche die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen untersucht. Ihr Erkenntnisgegenstand ist, wie Unwissen durch Manipulation, irreführende, falsche oder unterdrückte Informationen, Zensur oder andere Formen absichtlicher oder versehentlicher kulturpolitischer Selektivität geschaffen oder gesichert werden kann.

Beschreibung

Der Begriff wurde im Umfeld der US-amerikanischen Stanford University eingeführt. Dort fand im Oktober 2005 ein Workshop unter dem Titel Agnotology: The Cultural Production of Ignorance statt, der von den Wissenschaftshistorikern Londa Schiebinger und Robert N. Proctor organisiert wurde. In einer wissenschaftlichen Arbeit Schiebingers von 2004 nennt diese Proctor als Wortschöpfer und beschreibt Agnotologie als Gegengewicht (englisch counterweight) zur Epistemologie.[2] Unwissen sei oft nicht das Fehlen von Wissen, sondern das Resultat politischer, kultureller und kommerzieller Kämpfe.

Die Wissenschaftshistoriker Bonneuil (CNRS & EHESS, Paris), Choquet (Sciences Po, Paris) & Franta (Stanford University) definieren Agnotologie 2021 als "das Studium kulturell herbeigeführter Unwissenheit oder Zweifel".[3]

Beispielsweise können Unternehmen im „agnotologischen“ Sinn Unwissen schaffen bzw. vorhandenes, ihrem Geschäftsinteresse abträgliches Wissen relativieren oder tilgen, indem sie Gegengutachten anfertigen lassen (als Beispiel siehe Muskie-Anhörung zum verbleiten Benzin), manipulierte wissenschaftliche Studien veröffentlichen (siehe Geschichte des Tabakkonsums) oder Bewegungen gründen, welche die bereits gewonnenen Erkenntnisse gezielt in Frage stellen sollen. Die sogenannte Filibuster-Forschung, die nicht zum Abschluss kommt und aus der daher keine Handlungsempfehlungen ableitbar sind wie z. B. die stärkere Regulierung gesundheitsgefährdender Stoffe, verzögert die Etablierung des wissenschaftlichen Konsenses.[4]

Proctor hat diese Vorgehensweise zur Verschleierung von wissenschaftlichen Ergebnissen anhand von Untersuchungen über die Schädlichkeit des Zigarettenrauchens demonstriert. Die Tabak-Industrie hat zudem jahrzehntelang darauf verwiesen, dass es gerade die Nationalsozialisten gewesen seien, die Kampagnen gegen das Rauchen betrieben hätten.[5] Auch im Kontext Klimawandel und Klimawandelleugnung befasste sich die Agnotologie mit Angriffen von Wirtschaftsunternehmen und Verbänden z. B. der Erdölindustrie auf den wissenschaftlichen Konsens zum Klimawandel, organisierten Lobbykampagnen und rhetorischen Strategien, um gesellschaftliches Unwissen über den Stand der Forschung zu schaffen.[3]

In einem gemeinsam mit Londa Schiebinger herausgegebenen Aufsatzband wurden ähnliche Prozesse bei der Geheimhaltungspraxis der Regierung der Vereinigten Staaten, der Klimaforschung und der Debatte über gentechnisch veränderte Organismen geschildert.[6]

Beispiele

  • Clair Patterson und Robert Kehoes Paradigma „Zeig mir die Daten“ zur Umweltvergiftung durch Blei[7]
  • „Zweifel ist unser Produkt“ & „Wahrheit ist unsere Botschaft“, Strategie zur Verschleierung der Gesundheitsgefahren des Rauchens[8]
  • Risiken des Zuckerkonsums (Fettleibigkeit, Herzerkrankungen) wurden durch Betonung fettarmer Ernährung vergessen gemacht.[9]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Mechthild Bereswill, Michael Meuser, Sylka Scholz: Dimensionen der Kategorie Geschlecht: der Fall Männlichkeit. S. 147
  2. Londa Schiebinger: Feminist History of Colonial Science. In: Hypatia 19, 1 (2004), S. 233–254, doi:10.2979/HYP.2004.19.1.233.
  3. a b Christophe Bonneuil, Pierre-Louis Choquet & Benjamin Franta: Early warnings and emerging accountability: Total’s responses to global warming, 1971–2021. In: Global Environmental Change. 2021, doi:10.1016/j.gloenvcha.2021.102386.
  4. Eduard Kaeser: In der Ignoranzfabrik. WOZ Die Wochenzeitung, 8. April 2010, abgerufen am 26. Februar 2021: „Damit verband sich eine andere bewährte Taktik, die «Filibuster-Forschung». Filibustieren bedeutet endloses Reden im Parlament, um Abstimmungen zu verhindern und Zeit zu schinden. Den Tabakherstellern war natürlich daran gelegen, die Frage nach der Gesundheitsgefährdung mit «mehr Forschung» offen zu halten, um damit offizielle Massnahmen als nicht gerechtfertigt erscheinen zu lassen.“
  5. Belege fehlen
  6. Frank Uekötter: Die Wahrheit ist auf dem Feld – Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2010, ISBN 978-3-525-31705-1, S. 438 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche): „Andere Beiträge in einem Ausatzband über "Agnotologie", den Protor gemeinsam mit Londa Schiebinger herausgab, diskutierten ähnliche Prozesse einer interessensgeleiteten Produktion von Unwissen wie etwa in der Geheimhaltungspraxis der US-Regierung, der Klimaforschung und der Debatte über gentechnisch veränderte Organismen.“
  7. Jerome O. Nriagu: Clair Patterson and Robert Kehoe's Paradigm of “Show Me the Data” on Environmental Lead Poisoning. In: Environmental Research. Band 78, Nr. 2, August 1998, ISSN 0013-9351, S. 71–78, doi:10.1006/enrs.1997.3808.
  8. Brown & Williamson: Smoking and Health Proposal. In: Minnesota Documents. Industry Documents Library, UCSF, 1969, S. 4f, abgerufen am 28. Februar 2021: „Doubt is our product since it is the best means of competing with the "body of fact" that exists in the mind of the general public. It is also the means of establishing a controversy. [..] Truth is our message because of its power to withstand a conflict and sustain a controversy.“
  9. Frank Wittig: Wissenschaftsbetrug: Wie die Zuckerlobby die Welt täuschte. (Nicht mehr online verfügbar.) In: W wie Wissen. Das Erste, 7. Januar 2017, archiviert vom Original am 27. Januar 2021; abgerufen am 28. Februar 2021: „Vor allem Hersteller von Süßigkeiten und Getränken sahen ihren Profit massiv in Gefahr. In den jetzt teilweise veröffentlichten Gesprächsprotokollen ist nachzulesen, dass John Hickson, ein Top-Zuckerlobbyist und Präsident der Sugar Research Foundation erklärte, man müsse mit eigener Forschung, Informationskampagnen und Gesetzen gegen diese Erkenntnisse anarbeiten.“  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.daserste.de