Absurdes Theater
Das absurde Theater, auch Theater des Absurden genannt, ist eine Richtung des Theaters des 20. Jahrhunderts, die die Sinnfreiheit der Welt und den darin orientierungslosen Menschen darstellen will.
Grundzüge des absurden Theaters
Der Begriff des Theaters des Absurden (frz. théâtre de l’absurde) bildete sich in den 1950er Jahren als Sammelbegriff für eine vorwiegend in Frankreich aufkommende Art von Dramen mit grotesk-komischen sowie irrealen Szenen; spätestens seit der gleichnamigen Monographie von Martin Esslin (New York, 1961) ist der Begriff des „absurden Theaters“ etabliert. Nach Seipel (1961) lassen sich frühe experimentelle Stücke von späteren Werken unterscheiden.
Frühe experimentelle Dramen
Das erste Drama mit absurden Zügen und bewusster Abwendung vom klassischen Theater ist König Ubu (französisch Ubu Roi) von Alfred Jarry, welches bereits 1896 einen Skandal verursachte. Jarry wie auch später andere Autoren (Artaud, Guillaume Apollinaire, Jean Cocteau, Gheorghe Ciprian) spielen mit sprachlichen Gemeinplätzen und bringen sie konkret auf die Bühne. Ihre Stücke haben antibürgerliche und propagandistische Intentionen und ähneln teilweise Fabeln. Insgesamt bleibt bei diesen Werken der Eindruck, dass ihre Andersartigkeit über nur wenig mehr als ein spielerisches Experiment hinausgeht. Dies mag der Grund dafür sein, warum mit Ausnahme von König Ubu die Dramen der frühen experimentellen Phase heute so gut wie nicht mehr in den Spielplänen zu finden sind.
Spätes experimentelles, absurdes Theater
Konsequenter und radikaler in der Verwerfung der klassischen Theaterstrukturen sind Autoren wie Eugène Ionesco und Samuel Beckett, deren Werke man typischerweise mit dem „Theater des Absurden“ oder sogar mit dem Begriff „Antitheater“ assoziiert. Die Dramen Becketts, vor allem sein berühmtestes Werk Warten auf Godot (frz. En attendant Godot), gehören heute zur Weltliteratur.
In den Stücken der „absurden Dramatiker“ lösen sich die vom klassischen Theater geforderten Einheiten der Zeit, der Handlung und des Ortes auf. An ihre Stelle treten unlogische Szenarien, absurde Handlungen und wahllos verknüpft erscheinende Dialogreihen, so dass schließlich nicht mehr vom klassischen Theater im aristotelischen Sinne, das auf die Regeln der Poetik zurückgeht, gesprochen werden kann.
Die Stücke der Dramatiker Arthur Adamov, Samuel Beckett, Eugène Ionesco, Jean Genet, Michel de Ghelderode und Georges Schehadé können als eine moderne Form des Mythentheaters bezeichnet und in Zusammenhang mit den Themen- und Fragestellungen der Psychoanalyse betrachtet werden (Blüher, 1982). Zweifel an den herkömmlichen rationalistischen Kultur- und Denksystemen gelten als Auslöser für die Entstehung dieser neuen Ausdrucksform und somit als Fortführung der Bestrebungen des Surrealismus (Seipel, 1961/1982). Besonders deutlich wird dieser Aspekt in den Arbeiten Ionescos, der seine Stücke selbst als dramaturgische Gestaltung der obsessionellen Gegensätze seines eigenen Unbewussten beschreibt.
Umstritten ist, ob es sich bei dem absurden Theater um „absurde Darstellungen“ oder um die „Darstellung des Absurden“, d. h. der Absurdität der Welt, handelt. Laut Wolfgang Hildesheimer sympathisieren viele Zuschauer mit der erstgenannten Annahme. Da sie sich weigerten, sich selbst und ihr Leben für absurd zu halten, lehnten sie, so Hildesheimer, das absurde Theater ab. Insbesondere Aufführungen von Beckett-Stücken seien dafür bekannt, dass ein Großteil des Publikums bereits zur Pause das Theater verlasse.
Die meisten Theoretiker sympathisieren mit der zweitgenannten Annahme, der zufolge das absurde Theater als Ausdruck einer Weltsicht des Absurden begriffen werden könne. Berührungspunkte gibt es hier mit der existentialistischen Philosophie, die in Frankreich in den dreißiger und vierziger Jahren durch die Arbeiten von Jean-Paul Sartre (1905–1980) und die absurde existentialistische Philosophie eines Albert Camus (1913–1960) populär wurde. Beide Strömungen thematisieren mit unterschiedlichen Mitteln die Konsequenz über die Erkenntnis der Lebensabsurdität. Sie sind im Kontext der Krisensituation Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zu betrachten.
Ängsten und Obsessionen wird in den Werken der Avantgarde in Form eines semiotischen Theaters Ausdruck verliehen. Beeinflusst von den Forderungen Antonin Artauds (Le Théâtre et son double, 1938) sind die Dramatiker bestrebt, Gestik, Dekor und Bühnenelementen eine dem Dialog gleichgestellte Rolle zuzuweisen. Sprache wird als formelhaftes, sinnentleertes Kommunikationsmittel entlarvt.
Das Vermischen von tragischen und komischen Elementen ist ebenfalls kennzeichnend für das Neue Theater. Beckett versieht En attendant Godot mit dem Untertitel Une tragi-comédie und spielt damit auf die seit dem 17. Jahrhundert diskutierte Trennbarkeit der klassischen Genres an. Absurde Handlungen und Dialoge gipfeln in seinen Stücken nicht selten in Situationskomik, die – eingebettet in die tragische Lage der Charaktere – die tragische Wirkung der Stücke verstärkt. Bezüge bestehen zu den Stummfilmen von Charlie Chaplin, der Commedia dell’arte und der Music Hall.
Bekannte Stücke
- König Ubu von Alfred Jarry
- Warten auf Godot und Endspiel von Samuel Beckett
- Die Stühle, Die Nashörner, Die kahle Sängerin, Der neue Mieter, Die Unterrichtsstunde und Das große Massakerspiel von Eugène Ionesco
- Das Gartenfest[1] von Václav Havel
- Der Schalter von Jean Tardieu
Autoren des absurden Theaters
Frühes experimentelles Theater
- Luigi Pirandello (1867–1936)
- Alfred Jarry (1873–1907)
- Jean Cocteau (1889–1963)
- Antonin Artaud (1896–1948)
Pioniere
- Michel de Ghelderode (1898–1962)
- Georges Schehadé (1905–1989)
- Jean Tardieu (1903–1995)
- Samuel Beckett (1906–1989)
- Arthur Adamov (1908–1970)
- Eugène Ionesco (1909–1994)
- Jean Genet (1910–1986)
Nachfolger
- N. F. Simpson (1919–2011)
- Joan Brossa (1919–1998)
- Harold Pinter (1930–2008)
- Edward Albee (1928–2016)
- Sławomir Mrożek (1930–2013)
- Boris Vian (1920–1959)
- Fernando Arrabal (* 1932)
- Václav Havel (1936–2011)
Deutschsprachige „Verwandte“
- Max Frisch (1911–1991)
- Friedrich Dürrenmatt (1921–1990)
- Wolfgang Hildesheimer (1916–1991)
- Thomas Bernhard (1931–1989)
- George Tabori (1914–2007)
- Franz Xaver Kroetz (* 1946)
- Christoph Schlingensief (1960–2010)
Literatur
- Jean-Pierre Sarrazac und Gérard Schneilin: Eintrag Absurdes Theater, S. 46–49 in: Manfred Brauneck, Gérard Schneilin (Hrsg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek 1992, 1138 Seiten, ISBN 3-499-55465-8.
- Hildegard Seipel: Untersuchungen zum experimentellen Theater von Beckett und Ionesco. Dissertation, Universität Bonn 1963 (sowie als Auszug daraus Realität und Surrealität in den Dramen Ionescos, Darmstadt 1982).
- Martin Esslin: Drame Absurde. Penguin 1965.
- Emmanuel Jacquart: Le théâtre de dérision. Gallimard 1974.
- Karl Alfred Blüher (Hrsg.): Modernes französisches Theater. Adamov – Beckett – Ionesco. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, ISBN 3-534-07599-4.
- Martin Esslin: Das Theater des Absurden. Von Beckett bis Pinter. 79.–81. Tausend. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55414-3 (dt. Übersetzung der Originalausgabe, New York 1964).
- Henri Béhar: Le théâtre dada et surréaliste. Gallimard 1979.
- Wolfgang Hildesheimer: Über das absurde Theater. Eine Rede. Suhrkamp 1985, ISBN 3-518-36862-1.