Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870

Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 (Adolph von Menzel)
Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870
Adolph von Menzel, 1871
Öl auf Leinwand
65 × 78 cm
Alte Nationalgalerie, Berlin
Vorlage:Infobox Gemälde/Wartung/Museum

Die Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 ist ein Gemälde von Adolph von Menzel aus dem Jahr 1871. Es stellt die Prachtstraße Unter den Linden in Berlin dar, auf der eine Menschenmenge dem in einer Kutsche vorbeifahrenden preußischen König Wilhelm I. anlässlich des Beginns des Deutsch-Französischen Krieges zujubelt. Das Bild gehört seit 1881 zum Bestand der Berliner Alten Nationalgalerie.

Beschreibung

Das Gemälde hat die Maße 65 × 78 cm, ist in der Technik Öl auf Leinwand ausgeführt und trägt in der rechten unteren Ecke die Signatur Ad. Menzel Berlin 1871. Die Inventarnummer der Nationalgalerie lautet A I 323.

Es handelt sich um ein Auftragsbild des Bankiers Magnus Herrmann, eines Freundes Menzels, der es allerdings bald an den Kunsthändler Hermann Pächter, den Inhaber der Galerie R. Wagner, verkaufte. Schon vor 1877 bekundete die Nationalgalerie unter dem Direktor Max Jordan ihr Interesse, scheiterte jedoch an der zu hohen Preisforderung. Erst durch Pächters Vermittlung und Entgegenkommen gelang 1881 der Ankauf.

Menzel zeigt in seinem Bild in stark perspektivischer Komposition den Berliner Boulevard Unter den Linden. Eine unübersehbare Menschenmenge jubelt dem preußischen König Wilhelm I. zu, der neben seiner Frau in einer Kalesche sitzt und Richtung Brandenburger Tor fährt, um den Berlin Potsdamer Bahnhof zu erreichen. Wilhelm reiste als Oberbefehlshaber zu den Armeen des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Staaten, deren Aufmarsch jenseits des Rheins nahezu abgeschlossen war, auf den kommenden Kriegsschauplatz. Im Hintergrund des Gemäldes befindet sich das Berliner Schloss, aber es ist nur schemenhaft zu erkennen, die anderen königlichen Bauten, wie die Königliche Oper erscheinen gar nicht. Der Turm des gerade fertig gestellten Roten Rathauses ist hingegen deutlicher gemalt, was auf die steigende Bedeutung des Bürgertums nach dem gewonnenen Krieg (das Gemälde stellte Menzel 1871 nach dem Krieg fertig), die der Künstler erkannt hatte, hinweist. Sowohl das schemenhafte Schloss als auch das Rathaus sind die einzigen Gebäude, die eindeutig zu identifizieren sind. Die bürgerlichen Fassaden am rechten Bildrand sind hingegen fiktiv und wirken auf Grund der starken Untersicht übergroß in ihrer fast senkrechten perspektivischen Gesimslinie. Mit ihrem neubarocken Zierrat, im Vordergrund könnte ein Hotel stehen, stellen diese Gebäudefassaden den Wohlstand des sich selbst feiernden Bürgertums in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs dar.

Detailausschnitt des Königspaares

Offenbar weht eine heftige Windbö durch die Straße und verwirbelt den patriotischen Flaggenschmuck (die französischen Impressionisten haben die französische Trikolore nie so unkenntlich dargestellt wie Menzel das Schwarz-Weiß-Rot des Norddeutschen Bundes). Die Beflaggung des Linden-Boulevards präsentiert neben den stark verschlungenen Flaggen des Bundes auch die schwarz-weißen Preußens, einmal samt Adler, diese allerdings kaum verwirbelt. Eine Besonderheit ist die gut erkennbare Flagge des Roten Kreuzes, die sich fast im perspektivischen Fluchtpunkt des Gemäldes befindet.[1] Menzel weist hier auf die Opfer von Kriegen hin, die ihm immer wichtig waren. Einige seiner Zeichnungen und Aquarelle befassen sich mit ihnen (Zwei gefallene Soldaten auf Stroh gelagert; Drei gefallene Soldaten in einer Scheune; Sterbender Soldat, alle in Bezug zum Deutschen Krieg von 1866).

Mit dem kleinen vom König abgewandten Mann mit weißem Hut soll sich Adolph Menzel selbst porträtiert haben

Inmitten der devoten Huldigungen, der Hurra-Rufe und jubelnden Gesten der Menge wirkt die weiß ausgeschlagene Kutsche des Monarchen als starker Kontrast, der den Blick des Betrachters anzieht. Der König grüßt mit der rechten Hand an der Pickelhaube, in Wahrheit trug er eine einfache „Reisemütze“, während seine Frau Augusta mit den Tränen kämpft und sich ein Taschentuch vor das Gesicht hält. Einige Figuren in dem Bild wenden sich vom König ab und beschäftigen sich mit anderen Dingen, andere sind eindeutig identifizierbar. Auf dem hinteren Balkon soll sich der Käufer des Bildes, der Bankier und Freund Menzels, Magnus Herrmann mit seiner Frau befinden. Ähnliche Zeichnungen der beiden befinden sich im Berliner Kupferstichkabinett.[2] Außerdem sind vorn rechts Herrmanns Tochter Clara mit ihrem Mann, dem Maler Albert Hertel zu erkennen.[3] Der Mann im Vordergrund, der dem Geschehen den Rücken zuwendet, einen auffallend hellen Hut trägt, und etwas auf ein Blatt Papier zu zeichnen scheint, wird von der Historikerin Susanne Drexler als ein Selbstbildnis Menzels interpretiert.[4] Menzels historische Gemälde enthalten oft eine humorige genrehafte Komponente, die auch Theodor Fontane bemerkt hatte und in seinen Kunstkritiken erwähnte. In diesem Bild ist es der Zeitungsjunge, der dem Hund die Zähne zeigt.

Geschichte und Hintergrund

Menzel befand sich im Sommer 1870 in der Sächsischen Schweiz im Urlaub, den er nach dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges abbrach. In Berlin saß er der Überlieferung zufolge am 31. Juli 1870 in einem Restaurant im ersten Stock der Linden und wurde so Zeuge der Abreise des Königs zum Heer.[5] Menzel schrieb, dass er das Bild mit der linken Hand gemalt habe, wie beispielsweise auch Bilder aus der Serie über Friedrich II. Bedeutend daran ist, dass Menzel, ursprünglich Linkshänder, die Fähigkeit erlernt hatte, mit beiden Händen gleich gut zu arbeiten. Für die Abreise wählte er aus Gründen der Lichtführung in der Komposition für die Vorzeichnung die rechte Hand und für den malerischen Teil die linke.[6] Max Jordan vermutete den Standpunkt des Malers auf der Südseite der Linden in der Nähe der russischen Botschaft, nicht weit vom Brandenburger Tor. Doch die neubarocken Fassaden rechts passen nicht dazu. Diese damals moderne Art überladener Architektur war gerade in der Friedrichstraße im Bau. Unter den Linden herrschte zu jener Zeit ein spätklassizistischer Stil vor.[7] An anderer Stelle heißt es, Menzel habe berichtet, „er sei am 31. Juli 1870 auf dem Weg zum Friseur gewesen, als er Unter den Linden plötzlich die Kutsche des Königs erblickt habe. Das Abschiedswinken und verschiedene Rufe hätten ihm deutlich gemacht, dass Wilhelm im Begriff war, die Hauptstadt zu verlassen, um zu den am Rhein aufmarschierten Truppen zu reisen. […]“[8]

Menzel fertigte mehrere Skizzen zu diesem Bild, die sich in unterschiedlichen Museen befinden.[9] Der Titel des Bildes lautete zunächst Unter den Linden in Berlin am Nachmittage des 31. Juli 1870 oder Die Linden Berlins am Nachmittag des 31. Juli 1870, unter dem es sich in den ersten Ausstellungen befand, später wurde dieser Titel nicht mehr verwendet.[10]

Rezeption

Menzels Bild wurde vorwiegend positiv aufgenommen, alte Rivalitäten machten sich aber auch in manchem Kommentar bemerkbar. Nicht ohne Seitenhiebe besprach der Hegelianer Max Schasler in seiner Zeitschrift Die Dioskuren das Bild und witterte überall sozialistische Umtriebe. Er erkannte die „staunenswerte Virtuosität“, aber ebenfalls „das Gewöhnliche der Physiognomien“. Er geht auf das „Schnupftuch“ ein, das sich die Königin vors Gesicht hält, und schreibt, dass dies Menzels „Besorgniß“ entspringe, weil er in „seiner derben Naturwüchsigkeit“ den entsprechenden Ausdruck im Gesicht der Königin „nicht treffen könne“.[11] Anton von Werner, Direktor der Königlichen Akademie der Künste, sprach 1905 anlässlich von Menzels Tod, dass der Maler in jenem Bild „aus dem Herzen heraus zum Herzen seines Volkes gesprochen“ habe, was der Kunsthistoriker Claude Keisch als „verharmlosend“ bezeichnet. In seinem Essay-Roman Die Ästhetik des Widerstands lässt Peter Weiss seinen Ich-Erzähler über dieses Gemälde als Bestandteil eines Triptychons über die neuere deutschen Geschichte sagen: „…es hieß, der Herzschlag der Nation käme darin zum Ausdruck […] begeisterte Begrüßung des Krieges, die Erziehung zum Bückling, zum Speichellecken.“[12]

Ausstellungen (Auswahl)

  • 1996/1997: Menzel (1815–1905): la névrose du vrai im Musée d’Orsay in Paris (15. April bis 28. Juli 1996);[13] Adolph Menzel (1815–1905): Between Romanticism and Impressionism in der National Gallery of Art in Washington (15. September 1996 bis 5. Januar 1997);[14] Adolph von Menzel 1815–1905 – Das Labyrinth der Wirklichkeit. in der Alten Nationalgalerie in Berlin (7. Februar bis 11. Mai 1997)
  • April bis 30. Juli 2017: Ausstellung zum Krieg von 1870/71, Musée de l’Armée, Hôtel des Invalides, Paris.Bernhard Schulz: Das doppelte Trauma der Franzosen. In: Der Tagesspiegel. 17. April 2017 (tagesspiegel.de).

Literatur

  • Gustav Kirstein: Das Leben Adolph Menzels. E.A. Seemann, Leipzig 1919, S. 78–79 (Textarchiv – Internet Archive).
  • Dieter Wellershoff: Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870, Berlin Unter den Linden. In: Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum. 1. Auflage. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, ISBN 978-3-462-04555-0, S. 104 ff.

Weblinks

Commons: Abreise König Wilhelms I. Zur Armee am 31. Juli 1870 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Christiane Zangs: Die künstlerische Entwicklung und das Werk Menzels im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. (Dissertation 1987), Aachen / Mainz 1992, S. 211.
  2. Kupferstichkabinett: SZ Menzel, N 1650, Zeichnung.
  3. Claude Keisch in: Adolph von Menzel 1815–1905 – Das Labyrinth der Wirklichkeit. Ausstellungskatalog, DuMont, Berlin / Köln 1996, ISBN 3-7701-3960-7, S. 254 ff.
  4. Susanne Drexler: Künstler sehen die Masse. 2016, 5. Identifikation mit der Menge – Selbstporträts von Künstlern., S. 196, urn:nbn:de:bvb:19-234518 (edoc.ub.uni-muenchen.de [PDF; 21,0 MB] Dissertation an der Universität München).
  5. Gustav Kirstein: Das Leben Adolph Menzels. Leipzig 1919, S. 78 (Textarchiv – Internet Archive).
  6. Menzel in einem Brief an einen ungenannten Kunsthändler, September 1876, aus: Claude Keisch, Marie Riemann-Reyher (Hrsg.): Briefe Adolph von Menzel. Band 2: 1856 bis 1880. Deutscher Kunstverlag 2009.
  7. Claude Keisch in: Adolph von Menzel 1815–1905 – Das Labyrinth der Wirklichkeit. Ausstellungskatalog, DuMont, Berlin / Köln 1996, ISBN 3-7701-3960-7, S. 256.
  8. Gerhard Paul: Visual History: ein Studienbuch; Einführung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, ISBN 3-525-36289-7, S. 122–125 (books.google.de).
  9. Zwei Zuschauer für das Gemälde „Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870“. Digitale Sammlung Staedelmuseum, abgerufen am 16. November 2019.
  10. Adolph Menzel, Abreise König Wilhelms I. zur Armee am 31. Juli 1870 (1871). Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern.
  11. Kunstkritik – Berliner Kunstschau. In: Die Dioskuren: deutsche Kunstzeitung. Band 16, Heft 29, 16. Juli 1871, S. 230 (uni-heidelberg.de – Hier „Auszug des Königs zum Kriege gegen Frankreich“ als Titel des Bildes).
  12. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. 1. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, ISBN 3-518-04417-6, S. 356 (Roman).
  13. Menzel (1815–1905) la névrose du vrai. Musée d’Orsay, 1996, abgerufen am 17. November 2019.
  14. Adolph Menzel (1815–1905). nga.gov, 1997, abgerufen am 17. November 2019.

Auf dieser Seite verwendete Medien

Menzel selbst im Bild.jpg
Ausschnitt aus dem Gemälde Abreise König Wilhelms I. Zur Armee am 31. Juli 1870, der vermutlich den Künstler selbst zeigt