Rotkäppchen in den 'Münchner Neuesten Nachrichten' 1937


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Anonymus
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Beschreibung:
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Das Rotkäppchen

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren in Deutschland ein Wald, den der Arbeitsdienst noch nicht gerodet hatte, und in diesem Wald lebte ein Wolf. An einem schönen Sonntag nun, es war gerade Erntedankfest, da ging ein kleines BDM-Mädel durch den Wald. Es hatte ein rotes Käppchen auf und wollte seine arische Großmutter besuchen die in einem Mütterheim der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] untergebracht war. In der Hand trug es ein Körbchen mit einer Pfundspende und einer Flasche Patenwein.

Da begegnete ihm der böse Wolf. Er hatte ein ganz braunes Fell, damit niemand gleich von Anbeginn seine rassefremden Absichten merken sollte. Rotkäppchen dachte auch nichts Böses, weil es ja wußte, daß alle Volksschädlinge im Konzentrationslager saßen, und glaubte, einen ganz gewöhnlichen bürgerlichen Hund vor sich zu haben.

„Heil, Rotkäppchen!“, sagte der Wolf. „Wo gehst du denn hin?“ Rotkäppchen antwortete: „Ich gehe zu meiner Oma ins Mütterheim.“ „So“, sagte der Wolf. „Aber dann bring ihr doch ein paar Blumen mit, mit denen das Amt für Schönheit der Holzarbeit den Wald geschmückt hat!“ Sogleich machte sich Rotkäppchen daran, ein Erntesträußchen zu pflücken. Der Wolf aber eilte zum Mütterheim, fraß die Großmutter auf, schlüpfte in ihre Kleider, steckte sich das Frauenschaftsabzeichen an und legte sich ins Bett.

Da kam auch Rotkäppchen schon zur Tür herein und fragte: „Nun, liebe Oma, wie geht es dir?“ Der Wolf versuchte, die volksnahe Stimme der Oma nachzumachen und antwortete: „Gut, mein liebes Kind!“ Rotkäppchen fragte: „Warum sprichst du heute so andersartig zu mir?“ Der Wolf antwortete: „Die Rednerausbildung am Vormittag hat mich zu sehr beansprucht.“ - „Aber Oma, was hast du für große Ohren?“ - „Damit ich das Geflüster der Meckerer besser hören kann!“ - „Was hast du denn für große Augen?“ - „Damit ich die Wühlmäuschen besser sehen kann!“ - „Was hast du denn für einen großen Mund?“ - „Du weißt doch, daß ich in der Kulturgemeinde bin!“ Und mit diesen Worten fraß er das arme Rotkäppchen, legte sich ins Bett und schlief in seiner verantwortungslosen Art sofort ein und schnarchte.

Da ging draußen der Kreisjägermeister vorbei. Er hörte ihn und dachte: „Wie kann eine arische Großmutter so rassefremd schnarchen?“ Und als er nachsah, da fand er den Wolf; und er schoß ihn, obwohl er keinen Jagdschein für Wölfe hatte, auf eigene Verantwortung hin tot. Dann schlitzte er ihm den Bauch auf und fand Großmutter und Kind noch lebend. War das eine Freude! Der Wolf wurde dem Reichsnährstand zugewiesen und zu Fleisch im eigenen Saft verarbeitet. Der Kreisjägermeister durfte an der Uniform einen goldgestickten Wolf tragen, Rotkäppchen wurde zur Unterführerin im BDM befördert, und die Großmutter durfte auf einem funkelnagelneuen KdF-Dampfer eine Erholungsreise nach Madeira machen.
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Public domain
Credit:
Münchener Neueste Nachrichten 1937
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Weitere Informationen zur Lizenz des Bildes finden Sie hier. Letzte Aktualisierung: Tue, 26 Mar 2024 11:18:57 GMT

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