Reichstagswahlen im Ruhrgebiet 1871 bis 1912

Wahlkreise

Die Wahlkreise für die Reichstagswahlen im Deutschen Kaiserreich wurden bereits zu den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag 1867 festgelegt und deckten sich nicht mit den heutigen Verwaltungsgrenzen. Die 1867 festgelegten Wahlkreisgrenzen wurden bis zum Ende des Kaiserreiches nicht mehr verändert, so dass auf Grund der Bevölkerungszunahme in den industrialisierten Wahlkreisen des Ruhrgebietes der Anteil der Wahlberechtigten stark anstieg.

Das zentrale Ruhrgebiet umfasste folgende Wahlkreise mit den damaligen Verwaltungseinheiten, jeweils angegeben sind Städte und Gemeinden mit mehr als 2000 Einwohnern (Stand 1900):[1]

  • Arnsberg 4: Hagen – Schwelm = Hagen, Haspe, Eckesey, Wetter, Boele, Herdecke, Bommern, Breckerfeld, Ende, Vorhalle, Dahl, Delstern, Wengern, Schwelm, Gevelsberg, Langerfeld, Vörde, Mühlinghausen, Haßlinghausen, Niedersprockhövel, Nächstebreck, Öklinghausen, Gennebreck

1910 umfasste der Wahlkreis folgende Kreise: Stadtkreis Hagen, Landkreis Hagen und Kreis Schwelm.

1880 lag der Anteil der städtischen Bevölkerung im Wahlkreis bei 82,2 %. Der evangelische Bevölkerungsanteil lag 1880 bei 82,7 %, er sank bis 1890 auf 80,3 %, betrug 1905 75,8 % und 1910 74,2 %. Bei allen Reichstagswahlen lag der Anteil der protestantischen Bevölkerung bei über 70 %.

Anzahl der Wahlberechtigten und Wahlbeteiligung im Wahlkreis Arnsberg 4: Hagen-Schwelm von 1871 bis 1912
1871187418771878188118841887189018931898190319071912
Wahlberechtigte19.85624.71925.02626.06726.32327.19329.36530.62834.40640.50245.71951.08058.214
Wahlbeteiligung (in %)35,943,362,574,971,772,778,971,675,774,780,483,586,5
  • Arnsberg 5: Bochum – Gelsenkirchen – Hattingen – Witten = Bochum, Witten, Herne, Langendreer, Weitmar, Hamme, Wiemelhausen, Werne, Baukau, Holstede, Altenbochum, Laer, Riemke, Hordel, Harpen, Horsthausen, Grumme, Stockum, Gerthe, Querenbeurg, Gelsenkirchen, Schalke, Wanne, Eickel, Ückendorf, Bismarck, Wattenscheid, Bulmke, Röhlinghausen, Holsterhausen, Hüllen, Heßler, Höntrop, Gümigfeld, Westenfeld, Eppendorf, Dahlhausen, Hattingen, Linden, Heven, Stiepel, Freisenbruch, Horst, Königsteele, Altendorf, Welper, Westherbede

Der Anteil der städtischen Bevölkerung betrug 1880 84,4 %. Der Anteil der protestantischen Bevölkerung, der 1880 53,5 % betragen hatte, blieb bis 1900 stabil (53,4 %) und sank bis 1910 auf 51,2 %. Während aller Reichstagswahlen hatte der Wahlkreis eine evangelische Bevölkerungsmehrheit.

  • Arnsberg 6: Dortmund – Hörde = Dortmund, Lütgendortmund, Eving, Kastrop, Marken, Lünen, Dorstfeld, Brackel, Asseln, Huckarde, Kirchlinde, Mengede, Rauxel, Giesenberg-Sodingen, Oberkastrop, Wickede, Öspel, Altenderne-Oberbecker, Habinghorst, Kirchderne, Liundenhorst, Hörde, Schwerte, Kirchhörde, Annen-Wulfen, Aplerbeck, Berghofen, Holzwickede, Sölde, Schüren, Hacheney, Barop, Rüdinghausen, Menglinghausen, Eichlinghofen, Lücklemberg, Westhofen

Der Anteil der städtischen Bevölkerung stieg von 1880 = 77,8 % auf 1900 = 89,4 %. Das Gebiet gehörte in Mittelalter und früher Neuzeit zur Reichsstadt Dortmund und zur Grafschaft Mark, beides waren protestantische Territorien. Betrug 1880 der Anteil der protestantischen Bevölkerung 62,4 %, so sank dieser Anteil bis 1900 auf 55,7 %, 1910 lag der Anteil bei 53,3 %. Bei allen Wahlen verfügte der Wahlkreis über eine deutliche Mehrheit von Wählern protestantischer Konfession.

  • Düsseldorf 5: Essen – Werden = Essen, Altendorf, Borbeck, Altenessen, Rotthausen, Katernberg, Rüttenscheid, Steele, Werden, Kray, Kupferdreh, Stoppenberg, Rellinghausen, Schonnebeck, Kettwig, Zweihonnschaften, Siebenhonnschaften, Karnap, Überruhr, Heisingen, Huttrop, Byfang

Der Anteil der städtischen Bevölkerung lag 1900 bei 82,9 %. Die Bevölkerung des Wahlkreises war überwiegend katholisch, da das Gebiet seit dem Mittelalter zum Reichsstift Essen bzw. zum Reichsstift Werden gehörte. Im Verlaufe der Industrialisierung ging der Anteil der katholischen Bevölkerung leicht zurück, 1880 = 69,5 %, 1900 = 60,7 %, 1910 = 58,6 %. Der Wahlkreis Essen verfügte bei allen Wahlen über eine deutliche Mehrheit an Wahlberechtigten katholischer Konfession.

  • Düsseldorf 6: Duisburg – Mülheim an der Ruhr – Ruhrort – Oberhausen = Duisburg, Oberhausen, Mülheim an der Ruhr, Alstaden, Styrum, Dümpten, Heißen, Broich, Speldorf, Saarn, Holthausen, Meiderich, Hamborn, Beeck, Sterkrade, Ruhrort, Hiesfeld, Buschhausen, Dinslaken, Walsum, Spellen, Holten

Der Wahlkreis hatte – trotz der eher ländlich strukturierten Gebiete im Norden des Wahlkreises – bereits früh ein relativ hohes Maß an Urbanität entwickelt, so betrug 1880 der Anteil der städtischen Bevölkerung 91,6 % und stieg bis 1900 auf 97,6 %. Der Wahlkreis war gemischtkonfessionell mit einer leichten protestantischen Mehrheit: 1880 = 55,7 %, 1890 = 53,0 %. Auf Grund der Zuwanderung veränderte sich das Verhältnis: 1900 = 48,1 % Protestanten zu 50,7 % Katholiken. In den Folgejahren stieg der Anteil der Katholiken weiter von 1905 = 53,1 % auf 1910 = 54,5 %.

Reichstagsabgeordnete

Abkürzungen der Parteien: F = Deutsche Fortschrittspartei, FrVp = Freisinnige Volkspartei, NL = Nationalliberale Partei, LB = Gruppe Loewe-Berger, RP = Deutsche Reichspartei, SPD = Sozialdemokraten, Z = Zentrumspartei

Die Reichstagsabgeordneten in den Wahlkreisen Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund und Hagen 1871 bis 1912
JahrDuisburgEssenBochumDortmundHagen
1871Richard Wilhelm Dove (NL)Joseph Krebs (Z)Wilhelm Loewe (F)Hermann Heinrich Becker (F)Friedrich Harkort (F)
1874Johann Friedrich von Schulte (NL)Christoph Ernst Friedrich von Forcade de Biaix (Z)Wilhelm Loewe (LB)Louis Constanz Berger (LB)Eugen Richter (F)
1877Johann Friedrich von Schulte (NL)Gerhard Stötzel (Z)Wilhelm Loewe (LB)Louis Constanz Berger (LB)Eugen Richter (F)
1878Johann Friedrich von Schulte (NL) – Ersatzwahl 1879: August Servaes (NL)Gerhard Stötzel (Z)Wilhelm Loewe (LB)Louis Constanz Berger (LB)Eugen Richter (F)
1881Friedrich Hammacher (NL)Gerhard Stötzel (Z)Burghard von Schorlemer-Alst (Z)Julius Lenzmann (F)Eugen Richter (F)
1884Friedrich Hammacher (NL)Gerhard Stötzel (Z)Gustav Haarmann (NL)Julius Lenzmann (F)Eugen Richter (F)
1887Friedrich Hammacher (NL)Gerhard Stötzel (Z)Gustav Haarmann (F)Eduard Kleine (NL)Eugen Richter (F)
1890Friedrich Hammacher (NL)Gerhard Stötzel (Z)Burghard von Schorlemer-Alst (Z) Ersatzwahl 1890: Hermann Müllensiefen (NL)Theodor Möller (NL)Eugen Richter (F)
1893Friedrich Hammacher (NL)Friedrich Alfred Krupp (Hospitant in der Fraktion der RP)Eduard Fuchs (Z)Theodor Möller (NL) – Ersatzwahl 1895: Franz Lütgenau (SPD)Eugen Richter (F)
1898Theodor Möller (NL) – Ersatzwahl 1901: Wilhelm Beumer (NL)Gerhard Stötzel (Z)Hermann Franken (NL)Alexander Hilbck (NL)Eugen Richter (FrVp)
1903Wilhelm Beumer (NL)Gerhard Stötzel (Z)Otto Hue (SPD)Theodor Bömelburg (SPD)Eugen Richter (FrVp)
1907Klemens Hengsbach (SPD)Johannes Giesberts (Z)Otto Hue (SPD)Theodor Bömelburg (SPD)Willi Cuno (FrVp)
1912Hugo Böttger (NL)Johannes Giesberts (Z)Karl Heckmann (NL)August Erdmann (SPD)Max König (SPD)

Anmerkungen

  1. Fritz Specht, Paul Schwabe: Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1903. Eine Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien und einem Verzeichnis der gewählten Abgeordneten. 2. Auflage. Verlag Carl Heymann, Berlin 1904, S. 142–144, S. 166f.

Literatur

  • Fritz Specht, Paul Schwabe: Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1907. Eine Statistik der Reichstagswahlen nebst den Programmen der Parteien und einem Verzeichnis der gewählten Abgeordneten. 2., durch einen Anhang ergänzte Auflage. Nachtrag. Die Reichstagswahl von 1907 (12. Legislaturperiode). Verlag Carl Heymann, Berlin 1908.
  • A. Phillips (Hrsg.): Die Reichstagswahlen von 1867 bis 1883. Statistik der Wahlen zum Konstituierenden und Norddeutschen Reichstage, zum Zollparlament, sowie zu den fünf ersten Legislatur-Perioden des Deutschen Reichstages. Verlag Louis Gerschel, Berlin 1883.
  • Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.): Zur Statistik der Wahlen für die zweite Legislaturperiode des Deutschen Reichstags. In: Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen Reichs für das Jahr 1874. (= Statistik des Deutschen Reichs. Band 8). Heft II, Verlag des Königlichen Statistischen Bureaus, Berlin 1875, S. 73–111. (Bemerkung: Darin auch die Ergebnisse der Reichstagswahl 1871 in Übersicht II auf den Seiten 102 bis 110)
  • Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.): Statistik der Reichstagswahlen von 1907. Verlag von Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin 1907. (Sonderveröffentlichung zu den Vierteljahresheften zur Statistik des Deutschen Reiches)
  • Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.): Die Reichstagswahlen von 1912. (= Statistik des Deutschen Reichs. Band 250). Heft 1–3, Verlag von Puttkammer & Mühlbrecht, Berlin 1913.
  • Wolfgang Jäger: Bergarbeitermilieus und Parteien im Ruhrgebiet. Zum Wahlverhalten des katholischen Bergarbeitermilieus bis 1933. Beck, München 1996.
  • Karl Rohe: Konfession, Klasse und lokale Gesellschaft als Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens. Überlegungen und Problematisierungen am Beispiel des historischen Ruhrgebiets. In: Lothar Albertin, Werner Link (Hrsg.): Politische Parteien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Entwicklungslinien bis zur Gegenwart. Droste Verlag, Düsseldorf 1981, S. 109–126.
  • Karl Rohe: Die „verspätete“ Region. Thesen und Hypothesen zur Wahlentwicklung im Ruhrgebiet vor 1914. In: Peter Steinbach (Hrsg.): Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozess. (= Geschichte und Theorie der Politik. Band, Unterreihe A, Geschichte 5). Klett-Cotta, Stuttgart 1982, ISBN 3-12-912230-3, S. 231–252.
  • Carl-Wilhelm Reibel: Handbuch der Reichstagswahlen 1890–1918. Bündnisse, Ergebnisse, Kandidaten (= Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Band 15). Halbband 1, Droste, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-7700-5284-4.