Parlamentswahl in der Türkei November 2015

Juni 2015Wahl November 20152018
amtliches Endergebnis
 %
50
40
30
20
10
0
49,5
25,3
11,9
10,8
0,7
0,6
0,1
1,1
Gewinne und Verluste
im Vergleich zu Juni 2015
 %p
 10
   8
   6
   4
   2
   0
  -2
  -4
  -6
+8,6
+0,3
−4,4
−2,3
−1,4
+0,6
−1,0
−0,4
Sitzverteilung
Insgesamt 550 Sitze

Die vorgezogene Wahl zur 26. Großen Nationalversammlung der Türkei fand am 1. November 2015 statt. Gewählt wurden die 550 Abgeordneten des nationalen Parlaments. Die AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“), die seit der letzten Wahl im Juni des Jahres eine Minderheitsregierung stellte, gewann deutlich an Stimmenanteilen hinzu und erlangte eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Die kemalistisch-sozialdemokratische CHP (Republikanische Volkspartei) wurde zweitstärkste Kraft, die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und die HDP (Demokratische Partei der Völker) verloren Wähler.

Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarates kritisierten insbesondere die Gewalt vor der Abstimmung, warfen dem staatlichen Sender TRT eine parteiische Berichterstattung vor und stuften den Wahlkampf in der Türkei als unfair ein. Gelobt wurde die hohe Wahlbeteiligung von 88,2 %.[1]

Hintergrund und unmittelbare Vorgeschichte

Regulär hätte die Wahl gemäß Artikel 77 der Verfassung der Türkei erst im Juni 2019 stattfinden sollen. Eine vorgezogene Wahl war nötig geworden, weil die regierende AKP bei der vorigen Wahl im Juni 2015 ihre absolute Mehrheit verlor und innerhalb der vorgeschriebenen 45-Tage-Frist keinen Koalitionspartner finden konnte. Staatspräsident Erdoğan löste deshalb am 21. August 2015 das Parlament vorzeitig auf und setzte eine Neuwahl an.[2][3]

Die Regierungsbildung nach der Wahl im Juni wurde von politischen Beobachtern als schwierig eingeschätzt, da die im Parlament vertretenen vier Parteien (AKP, CHP, MHP und HDP) miteinander verfeindet oder ideologisch zu gegensätzlich sind, als dass eine stabile Koalition hätte gebildet werden können. Viele Kommentatoren äußerten auch die Ansicht, Präsident Erdoğan habe ganz bewusst die Verhandlungen scheitern lassen, um so eine Neuwahl herbeizuführen. Erdoğan verfolgt weiter das politische Ziel der Umwandlung der Türkei in eine Präsidialdemokratie. Dafür ist eine Verfassungsänderung notwendig, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Nationalversammlung erfordert (Artikel 175 der Verfassung). Eine solche Mehrheit für die AKP wäre nur zu erlangen gewesen, wenn die HDP die 10 %-Sperrklausel, die sie bei der Wahl im Juni überraschend übersprungen hatte, bei der Wahl am 1. November verfehlt hätte.

Protestbanner am Hauptquartier der Koza-İpek-Holding

Ein Bombenanschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober 2015 – mit mehr als 100 Todesopfern unter regierungskritischen Demonstranten der schlimmste Anschlag der Landesgeschichte – überschattete die letzten drei Wochen des Wahlkampfs. Im Vorfeld der Wahl ließ die Regierung Davutoğlu im September die regierungskritische, der Gülen-Bewegung nahestehende Koza-İpek-Holding durchsuchen mit der Begründung, gegen sie werde wegen Verdacht der Unterstützung einer Terrororganisation und Propaganda ermittelt. Der Konzern ist im Medienbereich, im Bergbau und im Energiesektor tätig. Im Oktober wurde der Konzern unter Zwangsverwaltung gestellt, die Konzernzentrale und die Redaktionen von Bugün und Millet sowie die Regieräume der zugehörigen Fernsehsender Bugün TV und Kanaltürk wurden von Polizeieinheiten gewaltsam besetzt.[4] Der Sendebetrieb der TV-Stationen wurde eingestellt, die Titelseiten der Zeitungen erschienen aus Protest auf schwarzem Hintergrund in weißer Schrift und der Schlagzeile „Ein schwarzer Tag“.[5]

Teilgenommene Parteien

Ahmet Davutoğlu, Kandidat der Gerechtigkeits- und Aufschwungpartei

Bei der Parlamentswahl im Juni waren 20 Parteien angetreten; am 1. November waren es 16:[6]

Nr.LogoParteiKürzelAusrichtungSpitzenkandidat
1.Millet Partisi
Volkspartei
MPnationalistischAykut Edibali
2.Vatan Partisi Logo.pngVatan Partisi
Vaterlandspartei
kemalistisch, nationalistischDoğu Perinçek
3.Flag of the Republican People's Party (Turkey).svgCumhuriyet Halk Partisi
Republikanische Volkspartei
CHPkemalistisch, sozialdemokratischKemal Kılıçdaroğlu
4.Hakpar.jpgHak ve Özgürlükler Partisi
Partei für Recht und Freiheiten
HAK-PARpro-kurdisch-
5.Saadet Partisi
Partei der Glückseligkeit
SPislamistischMustafa Kamalak
6.Demokratik Sol Parti Logo.svgDemokratik Sol Parti
Demokratische Linkspartei
DSPsozialdemokratischMasum Türker
7.Demokrat Parti
Demokratische Partei
DPliberal-konservativGültekin Uysal
8.Logo BTP.svgBağımsız Türkiye Partisi
Partei der Unabhängigen Türkei
BTPnationalistisch, islamistischHaydar Baş
9.Milliyetçi Hareket Partisi Logo.svgMilliyetçi Hareket Partisi
Partei der Nationalistischen Bewegung
MHPnationalistisch, rechtsextremDevlet Bahçeli
10.Halkın Kurtuluş Partisi
Volksbefreiungspartei
HKPmarxistisch-leninistischNurullah Ankut
11.Liberaldemokratische Partei (Türkei) Logo.svgLiberal Demokrat Parti
Liberaldemokratische Partei
LDPliberalCem Toker
12.Halkların Demokratik Partisi
Demokratische Partei der Völker
HDPdemokratisch-sozialistisch,
pro-kurdisch
Figen Yüksekdağ und
Selahattin Demirtaş
13.Büyük Birlik Partisi.svgBüyük Birlik Partisi
Partei der Großen Einheit
BBPislamistisch, nationalistisch,
rechtsextrem
Mustafa Destici
14.Adalet ve Kalkınma Partisi
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung
AKPislamisch-konservativAhmet Davutoğlu
15.Komünist Parti
Kommunistische Partei
KPmarxistisch-leninistischÖzlem Şen Abay
16.Doğru Yol Partisi Logo.gifDoğru Yol Partisi
Partei des Rechten Weges
DYPkonservativÇetin Özaçıkgöz

aufgelistet in der gleichen Reihenfolge wie auf dem Wahlzettel

Abgeordnetenzahl nach Wahlbezirken

Wahlkreiseinteilung mit Zahl der gewählten Abgeordneten pro Wahlkreis

Die Zahl der Mandate für eine Provinz richtet sich nach deren Bevölkerungszahl. Es gibt drei Provinzen, die in mehrere Wahlkreise unterteilt sind: Istanbul (3), Izmir (2), und Ankara (2). Die einzelnen Zahlen sind:[7]

Ergebnis

Partei mit den meisten Stimmen in Provinz (oben) und Landkreis (unten):
  • AKP
  • CHP
  • HDP
  • MHP
  • Stimmenanteil der AKP
    Stimmenanteil der CHP
    Stimmenanteil der MHP
    Stimmenanteil der HDP

    Gesamtergebnis

    Ergebnis der Parlamentswahl in der Türkei November 2015
    ParteiKürzelStimmenSitze
    Anzahl%+/−Anzahl+/−
    Partei für Gerechtigkeit und AufschwungAKP23.681.92649,50+8,63317+59
    Republikanische VolksparteiCHP12.111.81225,32+0,37134+2
    Partei der Nationalistischen BewegungMHP5.694.13611,90−4,3940−40
    Demokratische Partei der VölkerHDP5.148.08510,76−2,3659−21
    Partei der GlückseligkeitSP325.9780,68−1,380±0
    Große EinheitsparteiBBP253.2040,53Neu0Neu
    Vaterlandspartei118.8030,25−0,100±0
    Partei für Recht und FreiheitenHAK-PAR108.5830,23+0,100±0
    VolksbefreiungsparteiHKP83.0570,17+0,040±0
    Demokratische ParteiDP69.3190,14−0,020±0
    Kommunistische ParteiKP52.5270,11+0,080±0
    Unabhängige51.0380,11−0,950±0
    Partei der Unabhängigen TürkeiBTP49.2970,10−0,110±0
    Demokratische LinksparteiDSP31.8050,07−0,120±0
    Liberaldemokratische ParteiLDP26.8160,06±0,000±0
    VolksparteiMP19.7140,04±0,000±0
    Partei des Rechten WegesDYP14.1310,03−0,030±0
    Gesamt47.840.231100,00±0550±0
    Gültige Stimmen47.840.23198,56+1,47
    Ungültige Stimmen697,4641,44−1,47
    Wahlbeteiligung48.537.69585,18+1,26
    Nichtwähler8.411.31414,77−1,31
    Registrierte Wähler56.965.099
    Quelle: Amtliches Endergebnis

    Ausland

    Stimmen türkischer Wähler im Ausland

    Nach der Präsidentschaftswahl in der Türkei 2014 und der Parlamentswahl in der Türkei im Juni 2015 war es die dritte Wahl, bei der türkische Staatsbürger im Ausland teilnehmen konnten.

    Wähler aus Deutschland
    ParteiProzent
    Adalet ve Kalkınma Partisi
      
    59,7 %
    Halkların Demokratik Partisi
      
    15,9 %
    Cumhuriyet Halk Partisi
      
    14,8 %
    Milliyetçi Hareket Partisi
      
    7,5 %
    Sonst.
      
    2,1 %
    Wahlberechtigte:1.411.198; Wähler: 575.564

    Siehe auch

    Weblinks

    Rezeption / Analyse

    Einzelnachweise

    1. Beobachter bewerten Türkei-Wahlkampf als unfair. Zu viel Gewalt. (Nicht mehr online verfügbar.) Reuters, archiviert vom Original am 23. Dezember 2015; abgerufen am 2. November 2015.  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/de.reuters.com
    2. Erdoğan: Neuwahlen in der Türkei am 1. November
    3. offizielle Bekanntmachung auf der Homepage des Präsidialamtes www.tccb.gov.tr
    4. zeit.de 28. Oktober 2015: Türkische Polizei stürmt Medienkonzern mit Kettensägen
    5. Today's Zaman: Bugün, Millet newspapers come out with black front pages to protest media crackdown (Memento vom 31. Oktober 2015 im Internet Archive)
    6. Bekanntmachung, Hoher Wahlausschuss, 13. September 2015 (türkisch)
    7. Mitteilung des Hohen Wahlausschusses

    Auf dieser Seite verwendete Medien

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    Republican People's Party performance in the Turkish general election, November 2015
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    Nationalist Movement Party performance in the Turkish general election, November 2015
    Electoral districts of Turkey 2015.png
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    The number of MPs elected per electoral district in the 2015 Turkish general election
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    Logo der Partei des Rechten Weges (DYP)

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    HDP co-leaders Figen Yüksekdağ and Selahattin Demirtaş (adapted for election articles)
    Turkish general election, November 2015 (HDP).png
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    Peoples' Democratic Party performance in the Turkish general election, November 2015
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    Turkish Foreign Minister Ahmet Davutoğlu. December 2, 2009
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    Parteilogo - Vatan Partisi

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    Bild: Emblem der HAK PAR

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    Protest against the 2015 Koza İpek raid in front of the company's headquarter
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    Results of the November 2015 general election by Province
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    Logo der Partei der Großen Einheit (Büyük Birlik Partisi, BBP), einer Partei der Türkei

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    Republican People's Party (CHP) leader Kemal Kılıçdaroğlu speaking to the press during his election campaign for the 2015 Turkish general election.