Josef Chaim Brenner

Josef Chaim Brenner (1910)

Josef Chaim Brenner (Varianten der Vornamen: Yosef, Joseph, Haim, Pseudonym zeitweilig: J. Hever; * 11. September 1881 in Nowi Mlyny, Gouvernement Tschernigow, Russisches Kaiserreich; † 2. Mai 1921 in Abu Kabir[1] südlich von Jaffa) war ein russisch-jüdischer Schriftsteller, Literaturkritiker, Übersetzer und Zionist.

Leben

Als Junge studierte Brenner zunächst in verschiedenen Jeschiwot, darunter in Potschep, wo er sich mit Uri Nissan Gnessin, dem Sohn des Schulleiters, befreundete. Von hier zog er nach Gomel, wo er sich dem Bund anschloss und seine erste Kurzgeschichte Pat Lechem[2] („Ein Stück Brot“) veröffentlichte. Nach 1900 lebte er in Białystok und Warschau und diente von 1901 bis 1904 in der russischen Armee. Beim Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges entfloh er mit Hilfe einiger Freunde nach London, wo er in der sozialistischen Bewegung Poale Zion tätig war. Er arbeitete in einer Druckerei und gründete 1906 die Zeitschrift Ha-Meorer („Der Erwecker“). 1908 zog er nach Lemberg in Österreich-Ungarn, wo er als Redakteur einer Zeitschrift arbeitete und eine jiddische Monographie über das Leben des Schriftstellers Abraham Mapu verfasste.

1909 wanderte er ins Osmanische Reich nach Palästina aus, wo er zunächst in Chadera arbeitete und später nach Jerusalem zog. Im Ersten Weltkrieg nahm Brenner die osmanische Staatsbürgerschaft an, um das Land nicht verlassen zu müssen. 1915 zog er nach Jaffa und unterrichtete am Herzlia-Gymnasium[3] in Tel Aviv hebräische Grammatik und Literatur. Zu dieser Zeit war er Redakteur verschiedener Zeitschriften und 1920 einer der Gründer der Gewerkschaft Histadrut.

Als er 1921 aus Galiläa nach Jaffa zurückkehrte, wurde er zusammen mit den Schriftstellern Zwi Schatz[3] und Joseph Luidor[3] sowie Mitgliedern der in Abu Kabir isoliert wohnenden jüdischen Familie Jazker (Yatzkar[3]), Jehuda Yatzkar,[3] Avraham Yatzkar[3] und Zwi Gugig,[3] während der Unruhen von Jaffa von arabischen Zivilisten ermordet. In der damals insbesondere von David Ben-Gurion[3] gehaltenen Annahme, die palästinensischen Fellachen seien in Wirklichkeit jüdischer Abstammung,[3] hatte er im April 1921 noch zwei Versuche unternommen, mit Arabern ins Gespräch zu kommen. Allerdings stammen aus seiner Feder auch vereinzelt sehr provokative Schriften, welche mit Blick auf die arabische Bevölkerung Palästinas nicht frei sind vom Motiv der Rache.[4]

Politische Einordnung

Nach der vom Historiker Yosef Gorny in Zionism and the Arabs, 1882–1948: a study of Ideology (1987) vorgeschlagenen Einteilung des Jischuv-basierten Zionismus in vier Hauptgruppen (sogenannte Schulen), zählt Josef Chaim Brenner mit Mosche Smilansky[5] (später liberal), Zeev Smilansky,[5] Yehoschua Barzilay[5] (Schriftsteller) und Avraham Ludivpol[5] (Journalist) zur Gruppe der Separatisten, die eine Abspaltung von der arabischen Mehrheitsgesellschaft anstrebten. Dieser Gruppe gegenüber stehen laut Gorny die von Brenner rhetorisch hart angegriffenen Autoren Jitzchak Epstein,[5] Josef Luria[5] und Nissim Malul[5] (ein Jude aus Kairo und Abgänger einer dortigen Universität), die für kulturelle Integration eintraten, sowie die liberalen um Arthur Ruppin[5] und Jaakov Thon,[5] welche in Bezug auf den Umgang mit der arabischen Mehrheit einen pragmatischen Mittelweg einschlagen wollten. Die vierte Gruppe bezeichnet Gorny als „konstruktive Sozialisten“ und nennt dafür Jitzchak Ben Zwi,[5] David Ben-Gurion,[5] Jakov Zerubavel,[5] Yosef Sprinzak[5] und David Blumenfeld[5] von den dominierenden Arbeiterzionisten, deren Ziel die „Eroberung der Arbeit“[6] war.

Werk

Brenners literarisches Werk spiegelt die Erfahrungen seines Lebens wider. Immer wieder kommt das Motiv des Wanderns zur Sprache, wobei seine literarischen Figuren sich zunächst der Illusion hingeben, dass ein Wechsel des Wohnorts auch zu einer Änderung des persönlichen Schicksals führen werde. Die Wanderungen führen in verschiedenste Richtungen: vom Stetl in die Stadt, von Ost- nach Westeuropa, von der Diaspora nach Erez Israel, und selbst hier vom Dorf nach Jerusalem. Einige seiner Romane sind aus der Perspektive des „allwissenden Erzählers“ geschrieben, tragen jedoch einen intimen und persönlichen Ton. Er bereicherte die hebräische Umgangssprache durch die Aufnahme von jiddischen, russischen und deutschen Wörtern und Redewendungen und schreckte bei Erzählungen aus dem betreffenden Sprachgebiet auch nicht vor der Benutzung von Anglizismen und Arabismen zurück. Seine Protagonisten sind Antihelden, die offen zu ihrem „Antiheldentum“ stehen. Als Verlierer und Außenseiter werden sie auf satirische Weise Gewinnertypen gegenübergestellt, die im sozialen und sexuellen Bereich ihren Erfolg genießen. Brenner übersetzte ins Hebräische: von Gerhart Hauptmann Die Weber, Michael Kramer, Fuhrmann Henschel und Einsame Menschen, von Dostojewski Schuld und Sühne, von Tolstoi Der Gutsherr und sein Werk, von Arthur Ruppin Die Juden der Gegenwart sowie das Tagebuch von Joseph Trumpeldor. Als Kritiker setzte sich Brenner mit namhaften Autoren der zeitgenössischen hebräischen und jiddischen Literatur auseinander, darunter Peretz Smolenskin, Jehuda Leib Gordon, Micha Josef Berdyczewski, Mendele Moicher Sforim, Chaim Nachman Bialik, Saul Tschernichowski, Isaak Leib Perez und Schalom Alechem. In zahlreichen Artikeln und Essays behandelte Brenner die Ansichten von Achad Ha-Am. Hauptsächlich ging es dabei um die Interpretation des Begriffs Galut (Diaspora). Für Brenner bedeutete das Leben in der jüdischen Diaspora Müßiggang, und die Rettung eines solchen Lebens lag in der Arbeit. Produktive Arbeit für das jüdische Volk war seiner Ansicht nach eine Lebensfrage. Das Judentum sei keine Ideologie, sondern eine individuelle Erfahrung, die nur durch Änderungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu einer kollektiven Erfahrung werden könne.

Sein eigenes Werk wurde von der zeitgenössischen Kritik unterschiedlich beurteilt. Einige, wie Joseph Gedalja Klausner, kritisierten die mangelnde Distanz zwischen Autor und ästhetischem Objekt. Bialik beschrieb ihn als wichtigen Autor, dessen Stil von Sorglosigkeit geprägt sei, während für Berdyczewski die überragende Ehrlichkeit seines Schreibens seine stilistischen Mängel in den Schatten stellte. Kollegen und Freunde sahen ihn als „weltlichen Heiligen, gefangen in einer Welt, die seiner nicht wert war“ (Hillel Zeitlin).

Michel Abitbol schreibt, dass Brenners Werk das „Klima der Gefahr“[7] spiegelt, das das Leben im Jischuv bestimmt hat. Brenner glaubte nicht an die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens von Juden und Arabern und griff mit harten Worten die Kanaanisten[7] und Pansemiten[7] an, die sich für eine kulturelle Integration der jüdischer Einwanderer in den „arabischen Raum“ aussprachen. Brenner argumentierte, der Zwist zwischen Arabern und Juden sei politischer und nicht moralischer Natur, er betreffe zudem die Völker und nicht die einzelnen Menschen und deshalb gebe es keinen Platz für Debatten über Gewissensfragen,[7] Ergüsse des Mitleids,[7] der Brüderlichkeit[7] oder der Liebe.[7] Der „arabische Albtraum“[7] sei deshalb ebenso gefährlich wie der Judenhass in Osteuropa. Da die Alltagserfahrung auch im Land der Vorfahren von Gewalt und Erniedrigungen geprägt sei, unterscheide sich folglich ihr Leben nicht von dem, das sie zuvor in Europa geführt hatten. Brenner entwickelte sich zum Anhänger der „jüdischen Selbsverteidigung“, die eher einem Notwehrexzess entsprach. So empfahl er in einem Bruch mit der jüdischen Lehre und Tradition und in Verdrehung des Schma Jisrael: „Höre Jisrael! Nicht 'Auge um Auge', sondern zwei Augen für ein Auge, alle ihre Zähne für jede Demütigung“.[4] Die rabbinische Lehre leitet daraus nur finanzielle Kompensation[4] ab.

Die Brenner-Affäre

Am 24. November 1910 veröffentlichte Joseph Chaim Brenner in der Arbeiterzeitung HaPoel Hazair einen Artikel über den Übertritt zahlreicher europäischer Juden zum Christentum und entfachte damit einen großen Streit, der als Brenner-Affäre in die Annalen einging, 1911 seinen Höhepunkt hatte und bis 1913 die öffentliche Meinung in Eretz Israel und der ganzen jüdischen Welt, besonders aber in Osteuropa, beschäftigte: Brenner führte aus, man müsse diese Übertritte nicht fürchten, das Volk Israel sei dadurch nicht in der Existenz bedroht; außerdem sei die Bibel weder das „Buch der Bücher“ noch die „Heilige Schrift“ – es folgte ein Sturm der Entrüstung, der Zeitung wurden die Subventionen gestrichen, heftige Debatten zwischen Ablehnern und Unterstützern folgten. Die Reaktion des Odessaer Komitees der Chovevei Zion, das die Gelder stoppte, wurde aber überwiegend als unzulässige Einmischung und als Eingriff in die Meinungsfreiheit abgelehnt. HaPoel Hazair ging schließlich gestärkt aus der „Affäre“ hervor und entwickelte sich weiter zu einer angesehenen Zeitung des Landes.

Ehrungen

  • Der größte Kibbuz Israels, Givat Brenner südlich von Rechowot, ist nach Josef Chaim Brenner benannt.
  • Das 1978 errichtete Gebäude der Organisation Ha-No’ar ha-Owed we-ha-Lomed in Abu Kabir wurde nach Josef Chaim Brenner benannt.[3]

Literatur/Quellen (Auswahl)

  • Encyclopedia Judaica. Bd. 4, S. 1347–1351.
  • Jüdisches Lexikon. Bd. 1, Berlin 1927, Sp. 1155–1157.
  • John F. Oppenheimer (Red.) u. a.: Lexikon des Judentums. 2. Auflage. Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh u. a. 1971, ISBN 3-570-05964-2, Sp. 117.
  • Gershon Shaked: Geschichte der modernen hebräischen Literatur. Prosa von 1880 bis 1980. Aus dem Hebräischen übers. von Anne Birkenhauer. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 1996, ISBN 978-3-633-54112-6.

Siehe auch

Weblinks

Commons: Josef Chaim Brenner – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Benny Morris: Vittime – Storia del conflitto arabo-sionista, 1881–2001. In: Collana La Storia – Le Storie. 6. Auflage. BUR Rizzoli (Mondadori Libri), Milano 2019, ISBN 978-88-17-10756-3, S. 134 (Originalausgabe: Righteous Victims: A History of the Zionist-Arab Conflict, 1881–1999. Alfred A. Knopf (publisher), New York 1999; übersetzt von Stefano Galli).
  2. hebräisch פת לחם
  3. a b c d e f g h i j Sharon Rotbard: White City Black City – Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa. Pluto Press, London 2015, ISBN 978-0-7453-3511-7, S. 83–86.
  4. a b c Yakov M. Rabkin, prefazione di Diego Siragusa: Capire lo stato di Israele – Ideologia, religione e società. Zambon Editore, Frankfurt am Main 2018, ISBN 978-88-98582-66-2, S. 146 (Originalausgabe: Comprendre l’État d’Israël: idéologie, religion et société, Les Éditions Écosociété, Montréal 2014; übersetzt von Cristiano Screm).
  5. a b c d e f g h i j k l m n Mark Tessler: A History of the Israeli-Palestinian Conflict. In: Mark Tessler (Hrsg.): Indiana Series in Middle East Studies. 2. Auflage. Indiana University Press, Bloomington and Indianapolis 2009, ISBN 978-0-253-22070-7, S. 135–139 und Bibliographie S. 972.
  6. Ouri Weber: La gauche en Israël – Conversation entre générations. Éditions de l’Aube/Fondation Jean-Jaurès, La Tour-d’Aigues (Vaucluse) 2022, ISBN 978-2-8159-4607-0, S. 66 (übersetzt von Avner Lahav).
  7. a b c d e f g h Michel Abitbol: Histoire des juifs – De la genèse à nos jours. In: Marguerite de Marcillac (Hrsg.): Collection Tempus. 2. Auflage. Nr. 663. Éditions Perrin, Paris 2016, ISBN 978-2-262-06807-3, S. 639 f., 905, 919 (dort zitiert nach Josef Chaim Brenner: Tagebuch (1913), zitiert in Ehud Ben-Ezer: Brenner und die Araber (hebräisch), Hod-Hasharon, 2001, S. 122).

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